Brasilien: Boom der Ungleichheit

Brasilien boomt. Allein schon die Eindrücke aus dem Alltag belegen es: Die Restaurants quellen über; in den Supermärkten schieben die Hausfrauen schwer bepackte Wägelchen...

Brasilien boomt. Allein schon die Eindrücke aus dem Alltag belegen es: Die Restaurants quellen über; in den Supermärkten schieben die Hausfrauen schwer bepackte Wägelchen; funkelnagelneue, luxuriös ausgestattete Mittelklasse-Autos verdrängen auf den wie immer verstopften Straßen die alten "fuscas", wie der originale VW-Käfer hier heißt, und in Zeitungen und Zeitschriften feiert die Werbewirtschaft mit Hochglanzanzeigen geradezu Orgien.

Und dann erst die Statistiken: Brasiliens Wirtschaft wuchs 2004 um 5,2 Prozent. Das hat es seit einer Dekade nicht mehr gegeben! Ausgeführt wurden Güter im Wert von fast 100 Mrd. US-Dollar, ein historischer Höchststand. Somit bleibt in der Handelsbilanz ein Plus von 33 Mrd. US-Dollar - was die internationalen Banken ungemein beruhigt, weil damit die Zinszahlungen für die astronomische Devisenschuld in Höhe von 225 Mrd. US-Dollar (immerhin zehn Mrd. weniger als 2003) pünktlich eintreffen. Auch die Leistungsbilanz verzeichnet im zweiten Jahr in Folge einen signifikanten Überschuss; die Halbierung des Budgetdefizits trägt zur Abnahme der relativen öffentlichen Verschuldung bei und härtet den brasilianischen Real. Mit 7,12 Prozent Jahresinflation bleibt Brasilien immerhin im lateinamerikanischen Durchschnitt.

Diese Boom-Statistiken erklären sich jedoch vor allem aus dem Staubsaugereffekt, den Chinas explodierendes Wachstum auf Brasilien ausübt. China braucht alles, was Brasilien im Überschuss anbieten kann: Getreide, Soja, Fleisch, Früchte, Orangensaft, Zucker, Erze, Koks, Kohle, Stahl. Chinas Präsident Hu Jintao, Ende 2004 mit großer Delegation zu Besuch, unterzeichnete Lieferabkommen, die das Weiterführen des Exportbooms garantieren. Allerdings musste Brasilien dem Reich der Mitte den Status einer Marktwirtschaft zugestehen (was die westlichen Industriestaaten nicht tun), womit ein besserer Schutz gegen Antidumpingklagen vorliegt. Brasilien hatte diesbezüglich keine Bedenken, so dass der Besuch fröhlich und einträchtig als "Samba mit einer einzigen Note" ausklang.

Alle diese Rekorde erntet Staatspräsident Luiz Inácio "Lula" da Silva, bei dessen Amtsantritt das internationale Finanzsystem den Atem anhielt. Immerhin stieg Lula ursprünglich als sozialistischer Metallgewerkschaftler und Streikführer auf. Teile seiner Regierungsmannschaft entstammen dem radikalen Flügel seiner PT-Arbeiterpartei. José Dirceu, Lulas Staatschef, floh seinerzeit als Studentenführer vor den Militärs nach Kuba und erhielt dort Guerilla-Training, und Antonio Palocci, als Finanzminister heute der einflussreichste Mitkämpfer Lulas, versteht sich immer noch als Trotzkist.

Trotzdem agiert diese bunte Ministerriege finanzpolitisch höchst orthodox - mit der Folge, dass Lula dieses Jahr beim Managertreffen in Davos herzlicher beklatscht wurde als auf der Gegenveranstaltung der Globalisierungsgegner in Porto Alegre. Darob gibt es auch reichlich Verschleiß in Lulas Umgebung. Einige PT-Radikale sprangen ab. Frei Betto, Dominikanermönch und moralisches Gewissen Brasiliens, legte zu Weihnachten aus Protest gegen die unpopuläre Wirtschaftspolitik mit hohen Zinsen und knappem Budget die Leitung des Null-Hunger- Programms ("Fome Zero") nieder. Befreiungstheologe Leonardo Boff, gequält von der sozialen Not und dem ökologischen Raubbau, tat es ihm gleich. Bei den Kommunalwahlen im Oktober/November 2004 musste Lulas PT-Arbeiterpartei punktuell schmerzhafte Verluste einstecken, darunter vor allem die Niederlage von Raul Pont, bisher Bürgermeister von Porto Alegre und international bekannt als Vater des "partizipativen Haushalts", der alle Bürger bei Budgeterstellungen zu beteiligen sucht.

Die Abkopplung der Unterschichten

Doch Betto und Boff bilden nur die Spitze der Masse der Enttäuschten, die alle, sowohl engagierte Kritiker als auch gerade Betroffene, dem sozialen Bereich entstammen. Es ist keine Überraschung: Brasilien leidet an einer der schlimmsten Ungleichheiten der ganzen Welt. Die Politik des Landes, das vor Schönheit, Energie, Talenten, Modernisierungsdynamik und Reichtum geradezu birst, erreicht seine Unterschichten nicht. Von den insgesamt 180 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianern leben etwa die Hälfte in Armut. 53 Millionen Bürger leiden an chronischer Unterernährung. Millionen Kinder darben, besuchen keine Schule, verkommen in Slums und Favelas oder sterben frühzeitig an Drogen, Aids, Malaria, Hepatitis, Tuberkulose, Durchfall etc.

Lulas Fome Zero sollte mit "Familienstipendien" und Talleres gerade Haushaltvorstände in den Slums, also regelmäßig Frauen, unterstützen, doch das mit Fanfaren gestartete Programm - bewundert in aller Welt - verlor sich in eigener Bürokratie. Im Kongress schaffte Lula es in den beiden ersten Regierungsjahren immerhin, eine einigermaßen weit reichende Renten- und Steuerreform durchzusetzen, doch für sozialpolitische Eingriffe, welche die Axt an die Wurzeln der Armut und Ungleichheit ansetzen, fehlen ihm die Mehrheiten. Lula regiert inzwischen auf der Basis eines losen Geflechts von Unterstützungen, deren konservative Akzente wohl seine fiskalpolitische Orthodoxie, nicht aber seine sozialen Vorhaben absegnen. Noch immer kommt die zugesagte Agrarreform nicht vom Fleck, weswegen die quasi-revolutionäre MST-Landlosenbewegung ihren "Waffenstillstand" aufkündigte und inzwischen wieder gewaltsam brachliegende Ländereien - in den Städten auch Häuser - besetzt. Gegen sie agieren die nach wie vor fast allmächtigen Großgrundbesitzer, deren bewaffnete Privatmilizen heute täglich brutaler gegen MST-Mitglieder vorgehen.

Wie wir heute sehr genau wissen, ist nachhaltige Entwicklung, im Unterschied zur Industriemodernisierung (die überall gelingen kann), nur ab einem gewissen Grad an Gleichheit möglich. Relative Gleichheit kann über Schulen, Bildung, medizinische Betreuung, Aufstiegschancen, Agrarreform und bäuerlichen Besitz, urbane Förderung oder vernünftige Investitionen in Infrastruktur hergestellt werden. Ihr Umfang hängt letztlich davon ab, wie viel Macht und Einfluss die obersten 20 Prozent der Bevölkerung, also jene mit den höchsten Einkommen, an die übrigen Bürger abgeben. In Westeuropa verfügen die oberen 20 Prozent über 35 bis 50 Prozent des nationalen Reichtums, in Deutschland über 47 Prozent, in den USA über gut 50 Prozent. Die "Dritte Welt" liegt darüber und kommt auf die unheilvolle Relation von 20 zu 80, das heißt die oberen 20 Prozent verfügen über 80 Prozent des nationalen Reichtums. Brasilien liegt derzeit nur knapp darunter.

Daran hat - allen guten Vorsätzen zum Trotz - auch die Regierung Lula kaum etwas geändert. Was nichts anderes heißt, als dass Brasilien sich weiter selber blockiert. Zwar funktioniert auf der Basis der massiven Exporterfolge der moderne Sektor des Landes, doch nachhaltige Entwicklung, die Brasiliens tief sitzende Kreativität entfesseln würde, stellt sich nicht ein - deswegen die Erbitterung eines Frei Betto oder Leonardo Boff, deswegen auch die wachsenden Fliehkräfte in der brasilianischen Gesellschaft. Ein revolutionärer Ausbruch ist zwar weiterhin nicht in Sicht, aber unter den Reichen und im Bürgertum wächst bereits die Angst vor dem eigenen Volk, dessen lumpenproletarische Segmente die öffentliche Sicherheit zum Gespött machen. Einbrüche, Diebstähle, Überfälle, Gewalttaten, Mord und Entführungen verunsichern den Alltag - übrigens auch den der Unterschichten-Bevölkerung. Im urbanen Bereich entgleitet den Behörden die Kontrolle über ganze Stadtteile. Nicht einmal Fußball-Helden bleiben ungeschoren: Ronaldinhos Mutter wurde unlängst entführt und erst gegen eine Zahlung von 60000 Euro wieder freigelassen.

So kann es nicht mehr weitergehen, schreiben deshalb fast täglich die Leitartikler der brasilianischen Journale. Freilich ohne große Reaktion. Lulas Regierung fehlen die administrativen Mittel, um gegen die tägliche Gewalt vorzugehen. Und den Einsatz der Armee lehnt sie (noch) ab. So bleibt es bei symbolischen Akten wie unlängst in Brasilia, wo eine mächtige Straßenwalze im Beisein zahlreicher Presseleute beschlagnahmte Gewehre und Maschinenpistolen plättete.

Derweil beginnt der Grad an öffentlicher Unsicherheit, wurzelnd in der katastrophalen Ungleichheit, Brasilien regelrecht zu lähmen. Die sich anbahnende soziale Apartheid wirkt schlimmer als die momentane Knappheit an Elektrizität, an der Brasiliens Industrie leidet. Von Lulas Regierung lässt sich hier auch keine große Gegensteuerung mehr erwarten, denn bereits in den kommenden Monaten setzen die Manöver für die nächste Wahl ein, die 2006 stattfindet. Lulas Ausweichen in die Außenpolitik aber, die Brasilien einmal mehr zum primus inter pares auf dem Kontinent und zum geachteten Global Player befördert, lässt die Innenstruktur weiter unberührt.

Bei Lulas Regierungsantritt galt die Annahme: Jetzt oder nie! Ein sozialistischer Präsident würde angesichts einer konsolidierten Wirtschaft die soziale Frage energisch anpacken, und Brasilien - der Fesseln befreit - eine Explosion an Kreativität erleben. Oft kann diese Hoffnung nicht mehr vertagt werden.

Blätter für deutsche und internationale Politik © 2005
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