Vom französischen zum europäischen Nein

oder: Wie man eine Kampagne führt

700 Delegierte aus etwa 30 (von 100) französischen Départements hatten sich am 25. und 26.Juni zum ersten landesweiten Kongress der "Kollektive des Nein" versammelt.

Der Bürgermeister kam persönlich. Er hielt keine Rede, sondern setzte sich in eine der hinteren Reihen und hörte bis zum Schluss zu. Eine seiner Stadträtinnen schenkte an der Bar Kaffee und Wasser aus. Der große Saal des Rathauses von Nanterre (Vorort von Paris) war voll. 700 Delegierte aus etwa 30 (von 100) französischen Départements hatten sich am 25. und 26.Juni zum ersten landesweiten Kongress der "Kollektive des Nein" versammelt, wie sich die überall in Frankreich entstandenen Bürgerinitiativen für die Ablehnung der EU-Verfassung genannt haben. Sie hatten Glück. Denn an diesem Samstag war in allen Bezirken von Paris und den Vorstädten Schulfest und die Räume der Gemeindehäuser belegt. Wo soviele Leute unterbringen? Die Stadträtin hörte davon und sorgte dafür, dass für die Schulkinder ein anderer Raum gefunden werden konnte. Das Rathaus war kostenlos und der Bürgermeister von der Französischen Kommunistischen Partei (PCF).

Die Stimmung war bemerkenswert: keine triumphalistischen Reden, keine Selbstbeweihräucherung, aber das klare Bewusstsein davon, in Europa mal wieder eine Tür zu einer fortschrittlichen Entwicklung aufgestoßen zu haben. "Dies ist ein glücklicher Tag für uns, weil wir uns in unserer Einheit und Vielfalt erleben können, weil wir endlich aus dem Einzelnen herausgetreten und Bürger (citoyens) geworden sind."

In diesem Satz steckt ein ganzes Programm. In Frankreich weiß sich der Bürger als jemand, der Geschichte gemacht hat, als potenzielles Subjekt seiner Entwicklung. Das ist ein großer Unterschied zu Deutschland, wo jede Erhebung gegen die Obrigkeit in blutigen Niederlagen endete und der gemeine Mann sich positive Veränderungen nur von oben vorstellen kann. Der "Ausstieg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit" fällt hierzulande schwer, nicht einmal auf der Linken steht er auf dem Programm. Das Recht, dass die Bevölkerung über so grundlegende Fragen wie eine EU-Verfassung abstimmen darf, will kaum jemand verfechten. Die Linke traut dem Bürger sowenig wie die Rechte - er könnte ja falsch abstimmen.

Man muss diesen historischen Hintergrund schon bemühen, um die ganze Tragweite dessen zu ermessen, was in Frankreich geschehen ist, und auch, wie groß der Abstand zur Situation in anderen EU-Ländern ist. Schon in den Niederlanden hat das Nein zwar gewonnen, sogar noch deutlicher als in Frankreich. Trotzdem hat es längst nicht dieselben "Schockwellen" erzeugt. Hier gab es vor Ort keine Bürgerinitiativen für das Nein. Es gab ein landesweites Komitee "Grondwet Nee", das versucht hat, so etwas auf die Beine zu stellen, aber es ist klein geblieben; auf der Linken hat die Socialistische Partij (SP) ihre eigene Kampagne gemacht. Weder die Ja-Seite noch die Nein-Seite hat groß die Trommel gerührt. Die Bürger haben abgestimmt, aber als vereinzelte, passive Individuen. Die breite Debatte, die von den Bürgerinnen und Bürgern selbst, nicht von den Medien, geführt wird, gab es hier nicht. Das niederländische Nein ist deshalb auch zweideutiger geblieben, der Anteil an Ängstlichkeit und Chauvinismus, "wir zahlen zu viel in den EU-Topf", "die EU-Erweiterung macht unsere Löhne kaputt", war hier spürbar höher als in Frankreich.

Das niederländische Nein war ein Abstimmungsergebnis, das französische Nein eine kleine Revolution. Den Niederländern würde man zumuten, die Abstimmung zu wiederholen, in Frankreich muss sich das gesellschaftliche Kräfteverhältnis ändern, bevor man dies wagen kann.

Aufklärung mit subversivem Charakter

Was ist passiert? Zunächst hat die Regierung an jeden der 42 Millionen Wahlberechtigten den Verfassungstext verschickt. "Ein großer Fehler", meinte der Urheber der Verfassung, Giscard d‘Estaing. In der Tat, denn die Menschen haben sich an diesem Text abgearbeitet. Aber wie ist das denkbar, wo er doch völlig unleserlich ist?

Wäre es dabei geblieben, dass jeder nur den Text erhält, hätte das noch nicht viel bewirkt, denn die öffentlichen und privaten Medien bildeten eine geschlossene Front für das Ja und scheuten vor keiner Verleumdung zurück. Aber es gab eine Kampagne. Die begann mit Quizfragen: "Wie oft kommt in der Verfassung das Wort Markt vor? Wie oft das Wort öffentlicher Dienst? [Einmal.] Wie oft das Wort Bank? [186mal.]" Auf einer einfachen DIN-A4-Seite konnten die Leute jeweils eine von vier Antworten ankreuzen - und machten dabei verblüffende Erkenntnisse.

Dann gab es einen kleinen Katalog: Zehn Fragen, zehn Antworten zur Verfassung, mit Querverweisen auf Verfassungsartikel. Einstiegshilfen für das Lesen sozusagen, was die Leute immerhin animierte, mal den einen oder anderen Artikel nachzuschlagen. Dann die unzähligen Diskussionsseiten im Internet, auf Initiative von ebenso unzähligen Privatleuten. Ein Professor für Ökonomie aus Südfrankreich hatte eine Homepage aufgebaut, wo er sich anbot, Fragen zu beantworten. In kürzester Zeit bekam er 10000 Anfragen pro Tag.

DVDs wurden produziert, auf denen die Verfassung mit visuellen Beispielen erklärt wurde. Dann die Veranstaltungen, die immer überfüllt waren, auch in kleineren Städten leicht mehrere tausend Menschen versammelten, Infostände auf den Märkten, Versammlungen in Grundschulen, Betrieben, KulturhäusernÂ… Da kamen die Leute mit dem Verfassungstext in der Hand, hatten Passagen angestrichen, stellten konkrete Fragen. Kurzum, es war eine richtiggehende Alphabetisierungskampagne.

Erst die Herstellung von unübersehbar vielen Kanälen der Kommunikation, die Graswurzelarbeit des miteinander Redens hat die Menschen animiert, sich mit dem Text zu befassen und schließlich eine Stimmung für das Nein geschaffen. Ein Lehrbeispiel für jeden Wissenschaftler, der sich mit dem Phänomen Öffentlichkeit und Demokratie beschäftigt.

Die Berichterstatterin einer Arbeitsgruppe in Nanterre schloss ihren Beitrag denn auch mit den Worten: "Wir empfinden an dieser Stelle Schmerz über den Verlust von Pierre Bourdieu. Diese Bewegung ist so reichhaltig und so neu in ihrer Art, dass sie es wert ist, einer genauen Radiografie unterzogen zu werden. Er hätte dazu einen einzigartigen Beitrag geleistet."

Eine andere Verfassung

Gestärkt durch ihre Desinformationspolitik behaupten die Medien hierzulande, die Franzosen hätten nicht über die Verfassung, sondern über die Politik ihrer Regierung abgestimmt. Das ist nicht wahr. Auf allen Versammlungen ging es immer um Europa. So auch in Nanterre. Hier war klar, die Bewegung für das Nein macht weiter. Zunächst will man sich in der Fläche ausdehnen und dort Gruppen bilden, wo es noch keine gibt. Das Ziel ist eine andere Verfassung, nicht die Neuverhandlung der Verträge, wie die PCF vorgeschlagen hatte. Denn die Regierungen, die damit beauftragt wären, sind für den Willen des Volkes nicht mehr repräsentativ und somit nicht legitim.

Eine programmatische Alternative muss erarbeitet werden. Dazu wollen die Kollektive sich selbst eine demokratische Verfassung geben - mit Versammlungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene - damit sie zur gegebenen Zeit eine konstituierende Versammlung einberufen können. Bezugspunkt weiterer Mobilisierungen bleiben die EU- Richtlinien: zur Dienstleistung, Arbeitszeit, Liberalisierung der Häfen, Softwarepatente, aber auch die Verträge mit den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers. Nationale Kampagnen für den Erhalt der öffentlichen Dienste, für das Recht der Migranten auf Niederlassung und für die Solidarität mit den Völkern des Südens stehen ganz oben auf der Tagesordnung.

Die Rolle der Europäischen Zentralbank soll neu definiert werden. Der Europäische Haushalt soll so aufgestockt werden, dass Mittel zur Umverteilung in die Länder Osteuropas bereitstehen. Die Bereiche Steuern und soziale Sicherung sollen harmonisiert und nach oben angeglichen werden. Ziel ist ein gesamteuropäischer gesellschaftlicher Transformationsprozess, der mit dem Wirtschaftsliberalismus bricht.

Einzelne Kollektive wünschen sich Patenschaften mit Basisstrukturen anderer europäischer Städte. Man will ein eigenes Logo und eigene Medien. Das nationale Kollektiv soll weiter arbeiten, seine Aufgaben und Zusammensetzung müssen definiert werden.

Ein linkes europäisches Nein

Die Stimmung im großen Rathaussaal war einhellig: Die Verfassung ist gestorben. Andernorts würde man das anders sehen: Der EU-Gipfel Mitte Juni hat den Ratifizierungsprozess bis Ende 2007 verlängert - also bis nach den französischen Präsidentschaftswahlen, die im Mai 2007 stattfinden sollen. Ausgesetzt wurde er nicht; wo die Parlamente abstimmen, geht er weiter, nur die Volksabstimmungen (bis auf Luxemburg) wurden ausgesetzt. Ob die Verfassung "tot" ist, hängt maßgeblich davon ab, ob die Franzosen ein zweites Mal zur Urne gebeten werden und wie diese zweite Abstimmung ausgehen würde. Ob es aber gelingt, die aufmüpfigen Gallier zur Räson zu bringen, hängt u.a. davon ab, ob sie isoliert bleiben oder ob der Funke überspringt und sich ein linkes europäisches Nein formiert.

Diesem Zweck diente eine europäische Versammlung, die dem französischen Treffen der "Kollektive des Nein" unmittelbar vorausging. Dazu hatte die PCF in den großen unterirdischen Kuppelsaal des Oscar-Niemeyer-Hauses eingeladen, dem Sitz ihres Zentralkomitees. Auch das ist ein historisches Novum.

Die Generalsekretärin, Marie-Georges Buffet, hatte durchgesetzt, dass die Partei die "Kollektive des Nein" unterstützt und in ihnen gleichberechtigt mitarbeitet. PCF und LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire) waren die politischen Säulen der Kampagne, ihre unverkrampfte Zusammenarbeit in den Bürgerinitiativen vor Ort und deren Respekt als unabhängige Strukturen haben der Kampagne Kompetenz und Dynamik gegeben.

200 Menschen von 80 Organisationen aus 19 Ländern Europas folgten der Einladung an der Place du Colonel Fabien - Vertreter sozialer Bewegungen und Kollektive für das Nein aus Luxemburg, Belgien, den Niederlanden und dem Baskenland ebenso wie linke Abgeordnete nationaler Parlamente, des EU-Parlaments sowie politischer Parteien.

Beraten wurde, wie die starke Ablehnung, auf die die EU-Verfassung auch in den Bevölkerungen anderer Länder stößt, sichtbar gemacht und zu einer politischen Kraft gebündelt werden kann. Denn die Situation ist überall dieselbe: Die Parlamente sind zu über 90% für das Ja, die Bevölkerungen aber mehrheitlich dagegen.

Damit aus der stumpfen Ablehnung ein bewusstes und linkes Nein werden kann, ist es notwendig, Europa zum Thema zu machen. Das bedeutet: Solange die Verfassung nicht offiziell begraben ist, ist es notwendig, das Recht zu erstreiten, dass die Bevölkerungen in allen Ländern abstimmen dürfen.

Dabei wurde die ungleiche Entwicklung in den verschiedenen EU-Ländern sehr deutlich. "Europa hat nicht die Mobilisierungskraft von Frankreich", sagte ein Vertreter aus dem Baskenland. "Mancherorts gibt es Rückschritte in der sozialen Bewegung. Wir müssen damit anfangen, dass wir ein fortgeschritteneres Niveau der sozialen Kämpfe auf europäischer Ebene aufbauen." Dazu bietet sich die Bolkestein-Richtlinie geradezu an: neben der Verfassung ist dies der Stein des Anstoßes, der in allen EU-Ländern die Menschen am meisten aufbringt und bis tief in die Gewerkschaften hinein auf Ablehnung stößt. Einen anderen Anlass bietet die geplante Revision der Arbeitszeitrichtlinie, die die wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 60 Stunden und mehr heraufsetzen will. Die Vorhaben der Kommission können, wenn sie ans Tageslicht gezerrt und mit der nationalen Politik verbunden werden, zu einem einigenden Band für die Herausbildung einer "europäische Widerstandsfront" werden.

Die meisten Anwesenden wollten bei der Abwehr aber nicht mehr bleiben. "Ab jetzt führen wir keine Kampagne mehr für das Nein, sondern eine für das Ja", forderte Leo Gabriel vom österreichischen Sozialforum. Die Rede ging von der "Neugründung Europas" (Francis Wurtz, PCF), vom "europeismo popolare" (der Massenbewegung Europa. so Gennaro Migliore, Rifondazione Comunista), von der Notwendigkeit, aus der Sackgasse herauszutreten, in die die Regierungen Europa geführt haben (Helena Tagesson, Attac Schweden), und eine Alternative zu präsentieren.

Gegen die Strategie von Lissabon will man die Strategie von Athen setzen - dort wird sich im kommenden Frühjahr das Europäische Sozialforum versammeln. Alain Krivine (LCR) hob die Notwendigkeit hervor, eine linke Hegemonie über die Nein-Stimmung zu gewinnen, die ja nicht immer fortschrittliche Züge hat. Das französische Nein bietet die Chance, eine soziale europäische Alternative als glaubwürdiges Projekt der Linken zu formulieren. Dazu braucht es, neben gemeinsamen Kampagnen, fortlaufende Diskussionen und ein Funktionieren auf europäischer Ebene. Zu diesen drei Punkten wurden Verabredungen getroffen:

• Kampagnen für die Rücknahme von Liberalisierungsrichtlinien; Demonstration am 15.Oktober in Genf anlässlich der Tagung der WTO; europäische Demonstration am 15.Dezember anlässlich des EU-Gipfels in Brüssel (dazu soll es wieder eine europäische Vorbereitung geben); Tag für Europa am 4.März, der von lokalen Bündnissen oder Sozialforen getragen wird.

• Eine Massenpetition, die sich auf zentrale Bausteine für ein anderes Europa konzentriert; eine europäische Arbeitstagung am 12. und 13.November in Rom, die am Projekt einer europäischen Charta oder Manifest weiterarbeitet; auf dem ESF in Athen soll ein Raum für den Aufbau Europas geschaffen werden - er wird mit der Versammlung der sozialen Bewegungen nicht identisch sein.

• Zwischen diesen Treffen werden jetzt koordinierende Strukturen notwendig, die eine Kontinuität in der Arbeit sichern. Ein erster Vorschlag (Christophe Aguiton, Attac Frankreich) lehnt sich an das Funktionieren der EU-Gremien an: eine Art halbjährlich rotierende Verantwortlichkeit. Solche Strukturen bleiben jedoch in der Luft hängen, wenn sie sich nicht auf Strukturen gemeinsamen Handelns auf nationaler Ebene stützen.

Es wird also ernst: Der soziale Protest gegen die EU ist aus der Phase wiederholter Mobilisierungen gegen EU-Gipfel in die Phase des programmatischen Entwurfs einer Alternative und organisierten Handelns getreten.