Studiengebühren verbieten verboten

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 26.1.2005 das bundesweite Verbot von Studiengebühren für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt.

"Wer aber Bündnisse mit dem Teufel schließt, zahlt dafür einen hohen Preis. Zwar mag die oberflächliche Allianz von Bürgerrechtsreformern und Wachstumsreformern Landtage zu erheblichen Ausgabensteigerungen für die weiterführende Bildung bewegt haben; aber sie hat auch zur falschen Art von Reform geführt und am Ende zur Schwächung des Erreichten. [...] So musste fast notwendig die Desillusionierung folgen. Nun, da sie stattfindet, haben die Bildungsinstitutionen außer in den handfest Interessierten gar keine Fürsprecher mehr." Ralf Dahrendorf, 1984

Auch nicht das Bundesverfassungsgericht, möchte man heute hinzufügen. Schon 1966 plädierte der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf dafür, die Notwendigkeit eines Ausbaus des Hochschulwesens nicht ökonomisch oder mit internationalen Vergleichen zu begründen, sondern an einem Bürgerrecht auf Bildung festzumachen. Denn mit ökonomischen Argumenten könne eines Tages genauso gut auch seine Einschränkung betrieben werden. Er sollte Recht behalten. Am 26. Januar 2005 wurde wohl wieder eine Ratenzahlung vom Preis für das Bündnis mit dem Teufel fällig. Das Bundesverfassungsgericht machte mit seinem Urteilsspruch nämlich den "Weg frei für Studiengebühren".

Das Urteil
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 26.1.2005 das bundesweite Verbot von Studiengebühren durch das sechste Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes (6. HRGÄndG) für unvereinbar mit dem Grundgesetz (GG) und damit für nichtig erklärt.
Das Urteil des zweiten Senats beschäftigt sich mit der Reichweite der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 75 Abs. 1 GG) im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72 Abs. 2 GG), und zwar bezüglich der allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens (Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a GG). Gemäß Art. 75 Abs 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 72 Abs. 2 GG darf der Bund Rahmenvorschriften nur erlassen, "wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht". Und Rahmenvorschriften für das Hochschulwesen dürfen sich gemäß Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a GG nur in den Grenzen "allgemeiner Grundsätze" bewegen.
Nach Ansicht des Gerichts regelt das Verbot von Studiengebühren für das Studium bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss und eines weiteren konsekutiven Studiengangs durch das 6. HRGÄndG zwar allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens und fällt damit dem Gegenstand nach in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Denn vor dem Hintergrund, dass seit 1970 keine allgemeinen Studiengebühren mehr erhoben werden, werde mit der Entscheidung, daran festzuhalten, ein allgemeiner hochschulpolitischer Grundsatz fixiert. Es lässt die Gesetzgebungskompetenz des Bundes dann aber an den oben genannten Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG scheitern. Zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse sei eine bundesgesetzliche Regelung erst dann erforderlich, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Bundesländern in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet. Gehandelt werden darf also erst, wenn der Karren bereits gegen die Wand gefahren ist.
Dabei obliegt es dem Bundesgesetzgeber, das für die Einschätzung dieser Lage erforderliche Tatsachenmaterial sorgfältig zu ermitteln. Erst wenn das Material fundierte Einschätzungen der gegenwärtigen Situation und der künftigen Entwicklung zulässt, darf der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch machen. Und dieser Fall sei eben "gegenwärtig", wie das Gericht immer wieder betont, nicht gegeben. Auch die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit mache keine gesamtstaatliche Regelung über Studiengebühren erforderlich.

Studierende nicht schlauer als der Markt erlaubt?
Weder das Ziel einer Steigerung oder zumindest Aufrechterhaltung der Studierendenzahlen, noch das sozialstaatliche Anliegen, möglichst breiten Kreisen ein Hochschulstudium zugänglich zu machen, rechtfertigten ein besonderes Interesse an einer bundeseinheitlichen Regelung. Geschützt werde lediglich das Rechtsgut der "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" der Einwohner der einzelnen Länder, denen eine Benachteiligung gegenüber anderen droht. Für eine solche Gefährdung gäbe es jedoch "derzeit keine hinreichenden Anhaltspunkte".
Diese Einschränkungen der Bundeskompetenz gehen auf eine Grundgesetzänderung von 1994 zurück. Damals hatte die "Gemeinsame Verfassungskommission" die Anforderungen des Art. 72 Abs. 2 GG "konzentriert, verschärft und präzisiert", indem sie die ehemalige "Bedürfnisklausel" durch eine "Erforderlichkeitsklausel" ersetzte. Seither ist dem Bundesgesetzgeber nämlich "ein Eingreifen auch dann nicht erlaubt, wenn eine allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse in Rede steht." Andererseits ist fraglich, unter welchen Vorraussetzungen der Bund seine Rahmenkompetenz überhaupt noch wahrnehmen kann, wenn selbst die fundamentale und absehbar folgenreiche Regelung über die Wiedereinführung von Studiengebühren nach 35 Jahren Gebührenfreiheit die Anforderungen des Art. 72 Abs. 2 GG nicht erfüllen soll.
Konkret geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass für die Wahl des Studienortes eine Vielzahl von Faktoren bedeutsam sind, "deren jeweiliges Gewicht für die individuelle Entscheidung nicht ohne weiteres einschätzbar ist". Nach Ansicht des Gerichts seien "Studiengebühren in der bislang diskutierten Größenordnung von 500 Euro je Semester im Vergleich zu den - von Ort zu Ort unterschiedlichen - Lebenshaltungskosten von nachrangiger Bedeutung."
Wanderungsbewegungen und Verschlechterungen von Studienbedingungen an einzelnen Hochschulen, der mögliche Wettbewerbsdruck auf einzelne Länder bei der Einführung von Studiengebühren gleichzuziehen - all das erfülle immer noch nicht die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG. Statt dessen gibt sich das Bundesverfassungsgericht marktoptimistisch. Mit der Überbelegung einer Hochschule verbundene Qualitätsverluste sollen "regulierend" auf das Verhalten der Studierenden einwirken, auf dass sich "eine hinnehmbare, wenn nicht sogar ausgewogene Inanspruchnahme der Hochschulen" einstelle. Und die RichterInnen erhoffen sich gar von Studiengebühren, "die Qualität der Hochschulen und eine wertbewusste Inanspruchnahme ihrer Ausbildungsdienstleistungen" zu fördern.

Sind Studiengebühren mit internationaler Menschenrechtscharta vereinbar?
Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 wird von den RichterInnen in einem einzigen Satz abgehandelt, ohne auf seinen Inhalt auch nur ein Wort zu verwenden. In dem sogenannten Sozialpakt, Art. 13 Abs. 2 lit. c erkennen die Vertragsstaaten an, dass der "Hochschulunterricht auf jede geeignete Weise, insbesondere durch Einführung der Unentgeltlichkeit, jedermann gleichermaßen entsprechend seinen Fähigkeiten zugänglich gemacht werden muss".
Das Bundesverfassungsgericht geht jedoch davon aus, dass die Länder dieser Anforderung schon allein dadurch gerecht werden, dass sie "bei der Einführung von Studiengebühren den Belangen der Bevölkerungskreise mit niedrigem Einkommen angemessen Rechnung tragen". Den Ausdruck "Recht auf Bildung" vermeiden die RichterInnen also tunlichst. Statt dessen ist von "Belangen einkommensschwacher Bevölkerungskreise" die Rede. In Art. 13 Abs. 1 S. 1 Sozialpakt steht: "Die Vertragstaaten erkennen das Recht eines jeden auf Bildung an." Für das BVerfG ist das lediglich eine "auf Wahrung gleicher Bildungschancen gerichtete Regelung". Vom "Recht auf Bildung" zur "Bildungschance"?
In Art. 2 Abs. 2 des Sozialpaktes verpflichtet sich jeder Vertragsstaat "[...] unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln, vor allem durch gesetzgeberische Maßnahmen, die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen". Zwar erlaubt es Art. 4 den Vertragstaaten die im Sozialpakt gewährleisteten Rechte durch Gesetze einzuschränken, aber nur, wenn diese "mit der Natur dieser Rechte vereinbar sind" und es ihr "ausschließlicher Zweck" ist, das "allgemeine Wohl in einer demokratischen Gesellschaft zu fördern". Volker Haug folgend liegt hier eine Bemühungsverpflichtung vor, die einer (Wieder-) Einführung von Studiengebühren dann nicht entgegensteht, "wenn dies zur Finanzierung und Aufrechterhaltung des Hochschulwesens notwendig ist". Und er fügt hinzu, dies könne "in der gegenwärtigen Haushaltssituation [...] mit Blick auf die derzeitige Unterfinanzierung der Hochschulen durchaus bejaht werden". Ob dieser Fall angesichts weiterer Steuersenkung vor allem der oberen Einkommen gegeben ist, wäre zu diskutieren. Zwar enthält der Pakt kein ausdrückliches Verbot von Studiengebühren, aber die RichterInnen hätte dieser Pakt, Bestandteil der internationalen Menschenrechtscharta, 1973 ratifiziert und damit im Rang eines Bundesgesetzes zu innerstaatlichem Recht erklärt, jedoch zumindest zum Nachdenken anregen können.
Mit seiner Entscheidung von 26. Januar 2005 revidierte das Bundesverfassungsgericht die bisherige Einschätzung einer Hochschulausbildung als ein öffentliches, gemeinnütziges Gut, dessen Förderung eine öffentliche Aufgabe ist. Das Recht auf freien Zugang zu allen Hochschulen, abgeleitet aus der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) in Verbindung mit dem Recht auf freie Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) wird bei allen Abwägungen komplett ausgeblendet. Der ehemalige Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium Dr. jur. Wolfgang Lieb: "Das politische Credo des neoliberalen Mainstreams, das da lautet, Steuern senken, staatliche Verantwortung zurückdrängen, öffentliche Leistungen privatisieren, wird von den Richtern zur Grundlage ihrer Rechtsauslegung erhoben."

Globalisierungsdruck für Studiengebühren
So werden die das Hochschulwesen betreffenden Entwicklungen, Pläne und Gefahren auf der Ebene der Europäischen Union (EU) und in der Welthandelsorganisation (WTO) bei den Verhandlungen zum allgemeinen Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services, GATS), sowie die hinter der Befürwortung von Studiengebühren stehenden Interessen großer Unternehmen aus der Debatte ausgeblendet. Bis 2010 will die EU schließlich nach ausdauerndem jahrzehntelangem Druck der Industrie-Lobby "wettbewerbsfähigster und dynamischster wissensbasierter Wirtschaftsraum der Welt" werden. In der WTO fordern sich die VertreterInnen von EU, USA und Australien gegenseitig auf, ihre Bildungsbereiche (und sonstige öffentliche Dienste) zu liberalisieren, auf das sich den an den Verhandlungen beteiligten interessierten Unternehmen ein weltweiter Bildungsmarkt von geschätzten 2200 Mrd. US-Dollar eröffne.
Studiengebühren sind heute jedenfalls ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Kommerzialisierung und Privatisierung der Hochschulen, ja des Wissens allgemein, weit über die Funktion einer Einnahmequelle hinaus. Freier Zugang zu Bildung und Wissen ist aber existenziell für die Möglichkeit demokratische Kontrolle durch die Bevölkerung in einer komplexen, hochtechnisierten, sich ständig verändernden Gesellschaft. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss der Kampf um diese Möglichkeit nun auf Länderebene weitergeführt werden.

Wiebke Priehn studiert Jura in Hamburg