Die neuen Disease Management Programme der GKV

Effektiver und solidarischer als amerikanische Managed Care Konzepte

Der steigende Kostendruck auf die medizinische Versorgung ist eine Herausforderung, mit der sich die Gesundheitssysteme aller entwickelter Nationen konfrontiert sehen.

Steigende Kosten im Gesundheitswesen - eine globale HerausDer steigende Kostendruck auf die medizinische Versorgung ist eine Herausforderung, mit der sich die Gesundheitssysteme aller entwickelter Nationen aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeiten konfrontiert sehen. forderung
Um die steigenden Kosten in den Griff zu bekommen und das Gesundheitssystem finanzierbar zu halten, wurden immer wieder staatliche Eingriffe vorgenommen. Zum überwiegenden Teil handelt es sich dabei allerdings um Maßnahmen der Kostendämpfung ohne echte Strukturreform, so dass nicht von tatsächlichen Reformen gesprochen werden kann. Lediglich in den USA ist es in den 70er und frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts auf Druck der privaten Industrie (Revolte der Kostenträger) zu Strukturveränderungen gekommen, die heute unter dem Begriff Managed Care als Vorbild für Strukturreformen in anderen Ländern diskutiert werden. Auch in Deutschland war Gesundheitspolitik in den vergangenen 20 Jahren im wesentlichen Kostendämpfungspolitik. Die Verantwortung für die Qualität der Versorgung wurde an die Selbstverwaltung in der Gesetzlichen Krankenversicherung weitergegeben. Diese Vorgehensweise hat sich nicht bewährt und hat in Deutschland dazu geführt, dass im internationalen Vergleich eher durchschnittliche Versorgungsqualität zu deutlich über dem Durchschnitt liegenden Kosten produziert wird. Eine Wende in der Gesundheitspolitik wurde erst mit Ministerin Ulla Schmidt, SPD, vollzogen, die sich aktiv auch in die Steuerung der Versorgungsprozesse eingeschaltet hat. Der mit Abstand wichtigste Beitrag in diesem Zusammenhang ist die Einführung der sogenannten Disease Management Programme (Chronikerprogramme). Krankenkassen, die chronisch Kranke in diese Programme einschreiben und besser als üblich versorgen erhalten ab dem 1.7.2002 einen höheren Ausgleich aus dem Risikostrukturausgleich der Krankenkassen. Im folgenden Beitrag soll zuerst eine kritische Bilanz der amerikanischen Managed Care Konzepte gezogen werden. Die entscheidenden Unterschiede zwischen den deutschen Disease Management Programmen und amerikanischen Managed Care Konzepten werden erläutert. Die Disease Management Programme können einen Neuanfang in der Gesundheitspolitik markieren, da sie, wenn konsequent umgesetzt, über eine verbesserte Versorgung chronisch Kranker, die bis zu 80 % der Gesamtkosten der gesetzlichen Krankenversicherung verursachen, Kosten durch Qualität und nicht zu Lasten von Qualität senken.
Strukturwandel in den USA - Vorbild für Deutschland?
Ausgelöst durch eine Diskussion um die Lohnnebenkosten wurde in den USA in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Heterogenität der ärztlichen Leistungserbringung thematisiert. Regionale Unterschiede in der Versorgung wie Krankenhausliegezeiten, Indikationsstellung zur operativen Therapie bestimmter Erkrankungen und Indikationen für eine stationäre Einweisung konnten nicht medizinisch begründet werden. In der Folge wurde die Steuerung des Leistungsgeschehens durch Ärzte (Leistungserbringer) zugunsten einer Steuerung durch die Leistungsträger (staatliche Organisationen und private Unternehmen) abgelöst. Ziel der sich entwickelnden Managed Care Organisationen war die gezielte Steuerung der Bereitstellung und der Nutzung von Ressourcen im Gesundheitswesen. Als Folge kam es zu einer zunehmenden Ökonomisierung der Medizin. Gleichzeitig wurde ein Paradigmenwechsel vollzogen: Die medizinische Leistung wurde zur Produktionseinheit. Maßnahmen der Steuerung und der Qualitätssicherung traten wie in jedem anderen produzierenden Gewerbe mehr und mehr in den Vordergrund.
Abschöpfung von Rationalisierungsreserven durch gezielte Steuerung von Leistungserbringern und Leistungsnachfragern
Managed Care Organizations sind große Konzerne mit kombinierter Versicherungs- und Versorgungsfunktion, die ihren Versicherten (i.d.R.) Leistungen auf der Basis des Sachleistungsprinzips zur Verfügung stellen. Sie zeichnen sich vor anderen Versorgungsformen durch die Zusammenführung von wirtschaftlicher und medizinischer Verantwortung in einer Hand aus. Dadurch wird eine gezielte Einflussnahme der Kostenträger auf die medizinische Versorgung möglich, die von diesen zur Abschöpfung von Rationalisierungspotenzialen eingesetzt wird. Um zu verstehen, wie der Leistungserstellungs- und Leistungsnachfrageprozess in Managed Care gesteuert wird, sollen die wichtigsten Grundmodelle von Managed Care kurz skizziert werden.
HMO: Health Maintenance Organizations erreichen eine Kostendämpfung durch die vertikale Integration aller Versorgungsstufen. Sie stellen für eine definierte, eingeschriebene Patientenpopulation ein breites Spektrum medizinischer Leistungen zur Verfügung, indem sie vertragliche Bindungen mit Ärzten und Krankenhäusern eingehen und nehmen die Funktionen eines Versicherungsunternehmens und Leistungserbringers wahr. Oft beschäftigen HMOs selbst Ärzte, d.h. die Leistungserbringer sind bei der Krankenversicherung angestellt. Der Versicherte kann sich z.T. nur bei diesen Ärzten behandeln lassen, es gibt keine freie Arztwahl.
PPO: Prefered Provider Organizations erlauben ihren Versicherten im Gegensatz zu HMOs auch die Inanspruchnahme nicht assoziierter Ärzte und Krankenhäuser. Allerdings müssen dafür Einschränkungen in der Versicherungsleistung bzw. Zuzahlungen in Kauf genommen werden. (Zuzahlung bei freier Arztwahl, Leistungskatalog wird im Vertrag zwischen Versicherung, Arzt und Versicherten geregelt)
POS: Point Of Service Plans versuchen Strukturen von HMOs und PPOs zu vereinen. Der Versicherte kann beim Eintritt eines Krankheitsfalles wählen, ob er sich innerhalb des Netzwerkes oder außerhalb versorgen lassen möchte. Die Anreizstrukturen sind so gesetzt, dass sich i.d.R. 65-85% aller Versicherten innerhalb der Netzstrukturen behandeln lassen. Damit bleibt ein Großteil der Kontrollfunktion erhalten.
Die Steuerung der Leistungsnachfrager (Patientenführung) in Managed Care-Systemen erfolgt durch wirtschaftliche Anreize (niedrige Beitragssätze, wenn Leistungseinschränkungen akzeptiert bzw. die freie Arztwahl aufgegeben wird, Einholung von Kostenübernahmeerklärungen für Behandlungen außerhalb des Netzes) und durch ein Organisationssystem wie z.B. Hotlines, Case Management und Telefon-Triage.
Die Steuerung der Leistungserbringer erfolgt durch enge vertragliche Bindungen. Wird der Vertrag nicht erfüllt, so sind wirtschaftliche Konsequenzen, bzw. der Ausschluss des Arztes aus dem Netz ohne weitere Begründung möglich. Zur Erfüllung vorgegebener Bezugsgrößen (z.B. Anzahl von Diagnose- und Behandlungsvorgängen) werden ökonomische Anreize gesetzt, die den Arzt in eine Zwitterrolle zwischen Patienten- und Eigeninteressen bringen. So werden beispielsweise für die Unterlassung von Diagnose- und Behandlungsvorgängen Jahresendboni gezahlt bzw. bei Überschreitung der Bezugsgröße ein Teil der Vergütung des Arztes einbehalten. Auch in die Therapiehoheit des Arztes wird direkt steuernd eingegriffen. Dazu gehört der Zwang, medizinisch oder therapeutisch nicht notwendig erachtete Verfahren durch die Managed Care Organisation bewilligen zu lassen. Leitlinien müssen verbindlich beachtet werden und orientieren sich nicht nur an der besten medizinischen Evidenz sondern auch an wirtschaftlichen Interessen der Managed Care Organisation.
Durch die skizzierten Umstrukturierungsprozesse konnten in den USA beträchtliche Einsparungen realisiert werden. Die Gewinner sind allerdings häufig Investoren, an die die Unternehmensgewinne fließen. Zudem werden die Einsparungen nicht selten durch die hohen Verwaltungskosten (bis zu 30%) aufgezehrt. Im Endergebnis kommt es zwar zu Verschiebungen von Einsparpotenzialen, allerdings nicht zu Gunsten der Versicherten. Vielmehr ist durch den zunehmenden Wettbewerb um die Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven eine Verschlechterung der Versorgung für "schlechte Risiken" zu beobachten. So haben es chronisch Kranke zunehmend schwerer, einen ausreichenden Versicherungsschutz zu angemessenen Prämien zu erhalten. Studien weisen auf schlechtere Versorgungsergebnisse von chronisch Kranken in Managed Care Organisationen sowie die Abwanderung chronisch Kranker aus den Managed Care Organisationen in Fee-for-Service Verträge hin. In den USA wird daher zunehmend über eine Regulierung des Wettbewerbs (managed competition) und über finanzielle Ausgleichsstrukturen nachgedacht (die in manchen Bundesstaaten schon probeweise eingeführt wurden).
Disease Management als Alternative zu Managed Care in Deutschland
Unstrittig ist, dass auch im deutschen System noch Rationalisierungsreserven vorhanden sind, die durch eine Integration der Versorgung mobilisiert werden können. Bei der Übertragung von Managed Care Modellen auf Deutschland werden häufig rechtliche Limitationen wie z.B. die Bündelung von Versicherungs- und Leistungsfunktionen beim Kostenträger angeführt. Entscheidend für die Überlegung, ob Managed Care ein Konzept für eine erfolgreiche Strukturreform in Deutschland sein kann, ist allerdings nicht, ob die Instrumente und Organisationsformen von Managed Care in Deutschland aufgrund der derzeitigen Rahmenbedingungen einführbar sind, sondern welche Auswirkungen von Konzepten wie Managed Care oder das zur Zeit aufgrund politischer Vorgaben stark diskutierte Disease Management auf Versorgungsinhalte und -formen zu erwarten sind (Tabelle 1). Disease Management ist ein Versorgungskonzept, das sich in der Managed Care Umgebung entwickelte, als sich abzeichnete, dass durch Komponentenmanagement (isolierte Betrachtung einzelner Bereiche wie z.B. der Pharmakotherapie) keine weiteren Einsparungen erzielt werden konnten. Es beruht auf der Prämisse, dass eine systematische, integrierte und evidenzbasierte Patientenversorgung effizienter und effektiver ist, als die fragmentierte Behandlung einzelner Krankheitsepisoden. International wird unter dem Begriff Disease Management ein sehr heterogenes Spektrum an Versorgungskonzepten zusammengefasst. In Deutschland wurde mit dem Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs der Begriff "Disease Management" als eine integrierte Versorgungsform definiert, die auf evidenzbasierten Behandlungsempfehlungen (evidenzbasierten Leitlinien) für Ärzte und Patienten, Patientenschulungen, Maßnahmen der Qualitätssicherung und einem öffentlichen Benchmarking basiert. In der Praxis bedeutet dies, dass sich die Patienten nach der Diagnose der chronischen Krankheit in die Programme einschreiben und nach dem neuesten wissenschaftlichen Stand behandelt werden. Dieser ist in den Leitlinien der Behandlung beschrieben. Die Leitlinien heißen evidenzbasiert, weil alle Behandlungsschritte durch wissenschaftliche Studien abgesichert sind. Der Patient wird aktiv im Umgang mit der Krankheit geschult, d.h. er bekommt spezielle Empfehlungen für seine Ernährung, Raucherentwöhnungskurse, Informationen zu seiner Krankheit und Anleitungen zur Einnahme seiner Arzneimittel. Internationale Studien haben zeigen können, dass mit dieser Behandlung die wichtigsten und teuersten Komplikationen der chronischen Erkrankungen vermieden werden können. Die ersten vier Krankheiten, für die die Programme eingeführt werden sollen sind Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), die koronare Herzkrankheit (Herzinfarkte), Asthma und Brustkrebs.
Tabelle 1: Auswirkungen von Managed Care / Disease Management auf Versorgungsinhalte und Versorgungsformen
Quelle: Eigene Darstellung
Legende: MCO: Managed Care Organisation
DMP: Disease Management Programm
Betrachtet man die zu erwartenden Auswirkungen von Managed Care und Disease Management auf Versorgungsinhalte und -formen im Vergleich, so zeigt sich gerade in den derzeitigen Schwachstellen der Versorgung (Sicherstellung der Versorgung chronisch Kranker auf hohem Niveau, Verminderung von Risikoselektion sowie Stabilisierung der Kosten), dass hier mit einem Managed Care Ansatz in Deutschland keine Verbesserung erreicht werden könnten. Vielmehr würden zu erwartende Kosteneinsparungen aus dem System abgezogen bzw. durch erhöhte Verwaltungskosten aufgebraucht (Verwaltungskosten in der GKV z.Z. ca. 6 bis 8%). Der bereits bestehende dysfunktionale Wettbewerb um junge, gesunde Versicherte würde weiter zunehmen sowie die Versorgung chronisch Kranker sich weiter verschlechtern. In einem solchen System wäre es auch nicht attraktiv aktiv Prävention zu betreiben, da die zu erwartenden Einsparungen erst nach Jahren realisiert werden. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Versicherte aber vielleicht schon längst Mitglied einer anderen Managed Care Organisation. Im Disease Management hingegen erstellt der Arzt zusammen mit dem Patienten des Behandlungsplan. Arzt und Patient haben ein gleichgerichtetes Interesse, ein Fortschreiten der Erkrankung möglichst zu verhindern. Gerade bei chronischen Erkrankungen ist die aktive Mitarbeit des Patienten bei Therapieplanung und -entscheidungen einer der wichtigsten Faktoren für den langfristigen Therapieerfolg. In Managed Care geht dieser patientenzentrierte Ansatz zugunsten der Leistungssteuerung durch die Managed Care Organisation verloren.
Solidarischer Wettbewerb an Stelle einer Ökonomisierung der Medizin
In den USA initiierte der zunehmende Kostendruck im Gesundheitswesen einen Wettbewerb unter ökonomischen Vorzeichen mit der Ziel der Gewinnmaximierung durch Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven. Die daraus resultierenden Einkommensverschiebungen führten nicht zu einer Entlastung des Systems durch Prämienreduktion bzw. Investition in eine bessere Versorgung, sondern werden dem System durch Ausschüttung an Aktionäre und durch Ausgaben für Werbekampagnen und immense Verwaltungskosten entzogen. Gegen chronisch Kranke wurde aktive Risikoselektion betrieben, ihre Versorgung verschlechterte sich. Dies ist letztlich das Resultat einer zunehmenden Ökonomisierung einer Medizin, in der freier Wettbewerb möglichst viele Rationalisierungspotenziale erschließen soll.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Reform des Risikostrukturausgleichs wird im deutschen Gesundheitssystem ein anderer Weg eingeschlagen. Durch die Schaffung von finanziellen Ausgleichsstrukturen für chronisch Kranke und einer gleichzeitigen Versorgungsoptimierung dieser Patienten in Disease Management Programmen sind die Grundlagen für einen solidarischen Leistungswettbewerb der Krankenkassen gelegt worden. In einem solchen System werden Krankenkassen nicht mehr bestraft, wenn sie chronisch Kranke anziehen. Die Versorgung dieser Patientengruppe, für die ein Großteil der Leistungsausgaben der Krankenkassen aufgewendet wird, wird auf eine evidenzbasierte Grundlage gestellt. Dadurch werden nicht-kosteneffektive Therapiealternativen durch kosteneffektive Maßnahmen ersetzt (z.B. Pseudoinnovationen, Me-too - "Ich auch" - Präparate) und kostenintensive Spätkomplikationen vermieden. Die freiwerdenden Ressourcen verbleiben im System und können von den Krankenkassen zur weiteren Versorgungsoptimierung oder zur Entlastung ihrer Versicherten durch Beitragssatzsenkung eingesetzt werden. Daher sind die geplanten Chronikerprogramme ein wichtiger Paradigmenwechsel. Sie führen einen Krankenkassenwettbewerb um die bessere Versorgung chronisch Kranker ein. Gut versorgte Chroniker werden durch die Verbindung mit dem Risikostrukturausgleich für die Krankenkasse attraktiv. Jetzt sind Chroniker in Deutschland, genau wie in den Managed Care Unternehmen in den USA, für die Krankenkasse eine wirtschaftliche Bedrohung. Die Disease Management Programme der Bundesregierung sind daher das erste Beispiel für den Versuch, durch eine aktive Gesundheitspolitik die bestehenden Qualitätsprobleme im deutschen Gesundheitssystem zu beseitigen. Ein solcher Kurs muss konsequent und langfristig gegen die auf Statik gerichteten Interessen der Ärzteschaft und der Krankenkassen durchgehalten werden. Reine Kostenkontrolle, ob über Kostendämpfungsgesetze oder Managed Care, kann die Finanzierbarkeit eines solidarischen Gesundheitssystems nicht mehr lange halten.

Prof. Dr. med. Dr. sc. Karl W. Lauterbach; Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität zu Köln; E-mail: Lauterbach@igke.de