Volle Fahrt voraus ins Mittelalter?

Eine Einschätzung des derzeitigen Standes des "Bologna-Prozesses"

Am 19. Juni 1999 unterzeichneten die BildungsministerInnen von 29 europäischen Staaten in Bologna eine Erklärung, in der sie vereinbarten einen gemeinsamen "Europäischen Hochschumraum" zu bilden.

Am 19. Juni 1999 unterzeichneten die BildungsministerInnen von 29 europäischen Staaten in Bologna eine Erklärung, in der sie das Ziel vereinbarten, bis zum Jahr 2010 einen gemeinsamen "Europäischen Hochschulraum" zu bilden. Zu den Unterzeichnerstaaten gehörten alle 15 EU-Staaten, die Kandidatenstaaten mit Ausnahme Zyperns sowie Island, Norwegen und die Schweiz. Während der bisherigen beiden Folgekonferenzen im Mai 2001 in Prag und im September 2003 in Berlin wurden elf weitere Staaten aufgenommen, die ihre Bereitschaft erklärt hatten, sich an diesem Prozess zu beteiligen. Zu diesen elf Staaten gehören unter anderem Russland, die Türkei und die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens. Der "Bologna-Prozess" soll die sich vollziehende wirtschaftliche Integration um kulturelle, wissenschaftliche und technologische Aspekte ergänzen. Anknüpfend an die idealisierte Vorstellung einer unterstellten mittelalterlichen Tradition freien wissenschaftlichen Austausches sei die Gründung des europäischen Hochschulraums ein Beitrag zur Schaffung eines "Europas des Wissens", das eine notwendige Reaktion auf die Herausforderungen der entstehenden postfordistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur, häufig zur "Wissensgesellschaft" verklärt, darstelle. So seien gleich mehrere politische Ziele zu erreichen. Zum einen stelle die Gründung eines europäischen Hochschulraums den Schlüssel zur Förderung der Mobilität und der Beschäftigungsfähigkeit (employability) der europäischen BürgerInnen dar, zum anderen sei dadurch auch eine Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems möglich.
Teilziele des "Bologna-Prozesses"
Die BildungsministerInnen haben insgesamt neun Teilziele formuliert, die sie bis 2010 erreichen wollen: (1) Die Einführung eines Systems einfach lesbarer und vergleichbarer Abschlüsse, (2) die Einführung eines gestuften Studiensystems mit zwei Zyklen, (3) die Etablierung eines Kreditpunktesystems zur Messung der Studienleistungen, (4) die Förderung der Mobilität aller Statusgruppen an den Hochschulen, (5) die Förderung der Kooperation im Bereich Qualitätssicherung, (6) die Stärkung einer europäischen Dimension in der Hochschulbildung, (7) die Implementation eines Systems lebenslangen Lernens, (8) die Einbeziehung von Hochschulen und Studierenden in den Prozess sowie (9) die Förderung der weltweiten Attraktivität des europäischen Hochschulraums.
Die einzelnen Teilziele lassen sich zu fünf Zielbereichen zusammenfassen. Dem Ziel der Herstellung und Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Hochschulen kommt dabei eine herausgehobene Bedeutung zu: So soll ein gemeinsamer europäischer Hochschulraum hochqualifizierte Studierende aus allen Weltregionen anziehen und damit der Anziehungskraft der Hochschulen der USA eine echte Alternative entgegenstellen. Um dieses Ziel zu erreichen, führen verschiedenste europäische Institutionen in den Herkunftsländern gezielte Werbekampagnen für ein Studium in Europa durch. Die im Rahmen dieser Kampagnen geweckten Erwartungen werden aber häufig nicht erfüllt. In Deutschland zum Beispiel fehlen oft Wohnheimzimmer, Sprachkurse und spezielle Betreuungsangebote, so dass ausländische Studierende - im Übrigen genauso wie ihre deutschen KommilitonInnen - beim Studienbeginn in der Regel auf sich allein gestellt sind. Erschwerend hinzu kommen die immer noch bestehenden einschränkenden Regelungen hinsichtlich Aufenthaltsrecht und Verdienstmöglichkeiten.
Ein zweiter wichtiger Zielbereich ist das Streben nach besserer Vergleichbarkeit und Vereinbarkeit der Studiensysteme. Dazu soll ein System einfach lesbarer Studienabschlüsse in zwei Zyklen etabliert werden, das zu mehr Transparenz und besseren Anerkennungsmöglichkeiten führen soll. Das Ziel einer einfacheren Anerkennung von Studienleistungen ist zunächst zu begrüßen, auch eine Stufung der Studiengänge in zwei Zyklen, undergraduate und graduate, erscheint für viele Studiengänge durchaus als sinnvoll. Allerdings ist allgemein ein Trend zu beobachten, dass im ersten Zyklus der Beschäftigungsfähigkeit der Studierenden eine sehr dominante Stellung zugewiesen wird, was häufig mit einer Schwächung des wissenschaftlichen Anspruchs dieser Studiengänge einhergeht. Es ist also mindestens der Tendenz nach ein deutliches Ungleichgewicht zwischen diesen beiden völlig legitimen Studienzielen festzustellen. Hier gilt es zu einer sinnvolleren Verbindung der verschiedenen Interessen zu kommen. Dazu ist es aber notwendig, dass die europäischen Staaten vor dem Hintergrund ihrer Hochschultraditionen die neuen Studiengänge mit ihren beiden Zyklen eigenständig definieren. Eine bloße Übernahme der Vorstellung eines angelsächsischen Studienmodells mit Bachelor- und Masterstudiengängen reicht dazu bei weitem nicht aus. In der Diskussion um Bachelor und Master wird sehr häufig unterstellt, dass es ein solches homogenes angelsächsisches System gebe und dieses insbesondere den deutschen Diplom- und Magisterstudiengängen qualitativ weit überlegen sei. Dies ist aber nicht der Fall. Sehr oft haben Abschlüsse, die an schottischen oder kanadischen, an englischen oder australischen Hochschulen erworben werden außer der Bezeichnung Bachelor und Master nicht viel gemeinsam, von den Unterschieden zwischen einer neuenglischen Eliteuniversität und einem community college im mittleren Westen der USA ganz abgesehen. Die teilweise extremen Qualitätsunterschiede und die hohe Selektivität der US-Hochschulen eignen sich aber keinesfalls als Vorbild für die deutsche Hochschulreformdebatte. Eher lohnte sich auch im Bereich der Hochschulbildung ein Blick nach Skandinavien, wo nicht nur rund 70% eines Altersjahrgangs ein Studium aufnehmen sondern auch mehr als 80% der Studierenden vom ersten Zyklus in den zweiten übergehen. In Deutschland nehmen zum Vergleich immer noch weniger als 40% eines Altersjahrgangs ein Studium auf, während der von der Politik geplante Übergang vom Bachelor zum Master unter 50% der AbsolventInnen liegen soll. Die skandinavischen Länder zeigen gerade an dieser Stelle eindrucksvoll wie der Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft durch eine breite Partizipation an Bildung und auch ohne Studiengebühren funktionieren kann.
Die Förderung der Mobilität aller Statusgruppen an den Hochschulen, besonders aber der studentischen Mobilität, ist der dritte wichtige Zielbereich des "Bologna-Prozesses". Im Fokus der MinisterInnen steht dabei der Abbau von formalen Mobilitätshemmnissen, insbesondere in der Frage der Anerkennung von Studienleistungen. Die Anerkennung von im Ausland erbrachten Leistungen soll das European Credit Transfer System, kurz ECTS, erleichtern. Hinzu treten Zuschüsse der EU zu den zusätzlichen Kosten eines Auslandsaufenthaltes, die aber nur einen kleinen Teil der realen Kosten abdecken. So bleibt offen, ob die Zuschüsse im Rahmen des ERASMUS-Programms tatsächlich Studierende zu einem Auslandsstudium motivieren, die sonst nicht ins Ausland gegangen wären. Auch das ECTS ist noch sehr stark fehleranfällig, was vor allem am hohen bürokratischen Aufwand liegt. Auch in der Frage der Förderung von Mobilität sind also noch viele Verbesserungen nötig. Vor allem wäre es an der Zeit, einem technischen Mobilitätsverständnis mit Zuschüssen und Anrechnungspunkten ein inhaltliches Mobilitätsverständnis an die Seite zu stellen. Immerhin ist das ERASMUS-Programm ursprünglich nicht zur Verschönerung von Lebensläufen einzelner Studierender erdacht worden, sondern zur Vertiefung der europäischen Integration durch den kulturellen Austausch junger Menschen.
Ein weiterer Zielbereich ist die Herstellung und Sicherung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit der europäischen BürgerInnen. Die Grundlagen für diese Fähigkeit sollen für alle im ersten Studienzyklus gelegt werden, für einige im zweiten Zyklus vertieft und durch ein System lebenslangen Lernens dauerhaft gesichert werden. Insbesondere die deutschen Hochschulen haben sich dieser Aufgabe in jedem Fall zu stellen und ihre Angebote im Bereich der Berufsvorbereitung deutlich zu verbessern. Die Ausbildungsfunktion ist ein elementarer Bestandteil von Hochschulbildung, aber keinesfalls der einzige. Bei der notwendigen Diskussion um Berufsvorbereitung und employability darf der wichtige Aspekt der emanzipatorischen und persönlichkeitsbildenden Funktion von Bildung nicht zu kurz kommen, gerade auch deshalb, weil ohne die radikale Infragestellung des Bestehenden soziale und ökonomische Innovation undenkbar ist. Auch hier gilt es stärker auf ein vernünftiges Verhältnis der sich gegenseitig bedingenden Funktionen eines Hochschulstudiums hinzuwirken.
Der fünfte und letzte Zielbereich bezieht sich auf die Implementation einer "europäischen Dimension" in der Hochschulbildung. Bislang werden darunter vor allem Doppeldiplome und Austauschprogramme verstanden, im Interesse einer Vertiefung der europäischen Integration wäre aber die verstärkte Einbeziehung europäischer Themen bei der curricularen Konzeption der Studiengänge notwendig. Einen Schwerpunkt sollte dabei die Beschäftigung mit der politischen, sozialen und kulturellen Situation in den kleineren europäischen Ländern bilden. Dies wäre durch einen Ausbau von entsprechenden Sprachkursangeboten im Rahmen eines studium generale zu flankieren. In diesem Bereich sind weitere Anstrengungen geboten.
Aktuelle Entwicklungen
Mit dem "Berliner Kommuniqué" vom 19. September 2003 hat die Verbindlichkeit der Ziele zugenommen, wenn die Erklärungen auch weiterhin den Charakter von Absichtserklärungen der nationalen Regierungen haben - nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. In Berlin wurde unter anderem die Bereitschaft der nationalstaatlichen Regierungen zum verbindlichen Beginn der Einführung eines gestuften Studiensystems bis 2005 erklärt. In diesem Zusammenhang soll auch ein gemeinsamer Qualifikationsrahmen entwickelt werden, durch den die Studienelemente in Bezug auf Arbeitszeit, Anforderungsniveau, Lernziele und erreichbare Kompetenzen beschreibbar gemacht werden sollen. Innerhalb dieses gemeinsamen Rahmens sollen jedoch weiterhin verschiedene Ausrichtungen und unterschiedliche Profile der einzelnen Studienangebote möglich bleiben, um unterschiedlichen individuellen, akademischen und berufsbezogenen Anforderungen gerecht zu werden. Die Formulierung eines gemeinsamen Referenzrahmens bezüglich der Ziele von hochschulischer Bildung ist aus deutscher Sicht ambivalent zu bewerten. Ein solcher Rahmen könnte endlich die an vielen Hochschulen unter dem Deckmantel der Freiheit der Lehre vorherrschende Beliebigkeit beenden helfen und so die sehr unterschiedlichen Qualitätsstandards insbesondere universitärer Lehrangebote auf ein gemeinsames Niveau heben, was auch im Interesse der Studierenden liegt. Dies ist aber nur dann möglich, wenn der Rahmen nicht zu eng gefasst ist und unterschiedliche wissenschaftliche Traditionen und Herangehensweisen weiterhin möglich bleiben. Ein gemeinsamer europäischer Rahmen darf also nicht ein starres Korsett darstellen, das den Hochschulen die Luft zum Atmen abschnürt. Die Vorgaben sollten sich auf gemeinsame strukturelle und qualitative Standards beschränken und nicht versuchen, endgültige inhaltliche Definitionen eines Fachs und seiner Inhalte abzugeben, was zwangsläufig eine Zementierung des aktuellen wissenschaftlichen Mainstreams bedeuten würde. Eine solche Politik wäre mit der pluralistischen Tradition des deutschen genauso wie des europäischen Hochschulwesens unvereinbar, da gerade die Diversität des Denkens spätestens seit der Aufklärung das Kennzeichen der europäischen Geisteshaltung darstellt. Diese Tradition gilt es zu bewahren, um Fortschrittsfähigkeit dauerhaft zu sichern.
Bologna und Lissabon
Mit dem "Berliner Kommuniqué" wurde auch die ohnehin große Bedeutung der Europäischen Union weiter verstärkt, indem man sich darauf einigte, die Bestrebungen zur Bildung eines europäischen Hochschulraums mit den Planungen der EU zur Schaffung eines europäischen Forschungsraums im Rahmen des "Lissabon-Prozesses" enger zu verzahnen. Im Rahmen dieses Prozesses will die EU Maßnahmen ergreifen, um, ebenfalls bis zum Jahr 2010, zur wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Ökonomie der Welt zu werden, wodurch ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum, mehr und bessere Beschäftigungsangebote sowie eine größere soziale Kohäsion erreicht werden sollen. Erst durch die Verbindung eines europäischen Hochschulraums und eines europäischen Forschungsraums sei es möglich, das Leitbild eines "Europas des Wissens" mittelbar zur Realität werden zu lassen. Die Verbindung des "Bologna-Prozesses", an dem 40 europäische Staaten beteiligt sind, mit dem "Lissabon-Prozess" der EU ist durchaus ambivalent zu bewerten. So ist zum einen zwar die Ergänzung der bislang sehr auf das Studium konzentrierten Ziele des "Bologna-Prozesses" um den wichtigen Bereich der Forschung zu begrüßen. Denn erst Forschung und Lehre gemeinsam versetzen die Hochschulen in die Lage, den vielfältigen gesellschaftlichen, politischen und durchaus auch den wirtschaftlichen Anforderungen gerecht werden zu können, die an sie gestellt werden, und so einen wichtigen Beitrag zu Innovation und Modernisierung aller gesellschaftlichen Bereiche zu leisten. Die formulierte Zielsetzung dieser Verbindung stimmt allerdings skeptisch. Wenn das Leitbild eines "Europas des Wissens" auf den Teilaspekt einer leistungsfähigen wissensbasierten Ökonomie reduziert werden sollte und somit in der Konsequenz Forschung und Lehre vollständig wirtschaftlichen Zielen untergeordnet würden, wäre die uneingeschränkte Herrschaft eines rein ökonomischen Nutzenkalküls die logische Folge. Eine Politik, die die Hochschulen auf diese Aufgabe reduziert, wäre aber fatal, da so eben genau die Standardisierung von Bildung und Wissenschaft eintreten würde, die nicht nur im Rahmen des "Bologna-Prozesses" nicht erwünscht ist, sondern auch die breite kulturelle und geistige Vielfalt Europas gefährden würde. Ohne die Freiheit zum Ausprobieren in Forschung und Lehre ist aber Innovation in einem Verständnis "schöpferischer Zerstörung" (Schumpeter) nicht vorstellbar.
Insgesamt muss jede Bewertung des "Bologna-Prozesses" zum jetzigen Zeitpunkt zwangsläufig vorläufig sein. Dennoch ist es angebracht, nach der Berliner Konferenz im letzten Jahr und vor der Folgekonferenz in Bergen im Mai 2005 eine Zwischenbilanz zu ziehen und Anforderungen an den weiteren Verlauf des Prozesses zu formulieren. In den nächsten Jahren wird sich entscheiden, ob mit der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hochschulraums ein Beitrag zur Vertiefung der kulturellen, sozialen und politischen Integration über die vorläufigen Grenzen der erweiterten EU hinaus gelingt, oder ob die Hochschule der Zukunft die der Vergangenheit sein wird: Der glorifizierte freie Austausch der mittelalterlichen Studenten war in Wirklichkeit nämlich die Mobilität einer kleinen privilegierten Minderheit, die sich an den Segnungen der Erkenntnis laben durfte, während die Masse der Bevölkerung in Dummheit gehalten und von der herrschenden Klasse ausgebeutet wurde. Viel hängt dabei vom Leitbild des europäischen Hochschulraums ab. Auch wenn einiges darauf hindeutet, dass mit der Verbindung des "Bologna-Prozesses" mit dem "Lissabon-Prozess" der EU eine weitergehende Standardisierung und Ökonomisierung der Bildung droht, ist doch die These eines direkten Zusammenhangs des "Bologna-Prozesses" mit dem General Agreement on Trades in Services, kurz GATS, dem Dienstleistungsabkommen der WTO, die sich bei einigen StudierendenvertreterInnen, aber auch bei einigen GewerkschafterInnen und HochschullehrerInnen einer wachsenden Beliebtheit erfreut, kaum haltbar, da mit dem "Berliner Kommuniqué" - zumindest vorläufig - das Bekenntnis der MinisterInnen zum Verständnis von Hochschulbildung als öffentlichem Gut in staatlicher Verantwortung bekräftigt wurde.
Anforderungen an den "Bologna-Prozess"
Damit durch den "Bologna-Prozess" die strukturellen Voraussetzungen für europaweite akademische Freizügigkeit in einem grenzüberschreitenden und emanzipatorischen Sinne geschaffen werden können, sind mehrere Anforderungen an die weitergehende Politikformulierung notwendig: So ist es an der Zeit, die recht starke ökonomische Fokussierung um eine soziale und eine kulturelle Dimension zu erweitern. Dazu gehört auch ein breiteres Verständnis von Mobilität, das sich bisher rein auf den Abbau formaler Hürden beschränkt. Um Menschen in die Lage zu versetzen, selbstbestimmt über ihre Mobilität entscheiden zu können, bedarf es einer ausreichenden ökonomischen Absicherung. Deshalb sind konkrete Maßnahmen zu entwickeln, um mittelfristig für alle Studierenden und WissenschaftlerInnen in Europa eine mindestens den Lebensunterhalt sichernde Finanzierung bereit zu stellen, die bei Bedürftigkeit als Zuschuss gewährt wird. Bei der Implementation eines gestuften Studiensystems mit zwei Zyklen sind breite Übergangsmöglichkeiten zwischen den beiden Studienabschnitten zu sichern. Die Einführung von besonderen Zulassungsprüfungen an dieser Stelle ist mit dem Ziel einer breiten Bildungsbeteiligung nicht vereinbar. Außerdem würde eine solche Regelung die zukünftigen Studierenden in Ländern mit einer Tradition eines längeren einzyklischen Studiensystems wie den deutschen Diplom- und Magisterstudiengängen gegenüber dem herrschenden status quo benachteiligen. Darüber hinaus sollte für internationale Studierende das Leitbild eines gastfreundlichen Europas umgesetzt werden. Dazu bedarf es des Ausbaus von geeigneten Sprachkursangeboten und Orientierungsprogrammen genauso wie der Bereitstellung von qualitativ angemessenem Wohnraum zu einem bezahlbarem Preis. Außerdem müssen die diskriminierenden Bestimmungen des Ausländerrechts die Aufenthaltsrechte und die Verdienstmöglichkeiten betreffend endlich aufgehoben und die betreffenden Bereiche in einem modernen Zuwanderungsgesetz neu geregelt werden. In einer wissensbasierten Ökonomie besteht ein großer Bedarf an Fort- und Weiterbildungsangeboten. Den Hochschulen kommt bei der Sicherung der Zugangsmöglichkeiten zu Maßnahmen des lebenslangen Lernens aufgrund ihrer Verfasstheit als öffentliche Institutionen eine besondere Rolle zu. Auch dieser Aspekt muss bei der Formulierung eines europäischen Hochschulraums Berücksichtigung finden. Im Bereich der Qualitätssicherung dürfen auf der europäischen Ebene formulierte strukturelle Rahmenvorgaben die inhaltliche Vielfalt der europäischen Hochschullandschaft nicht gefährden. Außerdem ist zum Gelingen von Qualitätssicherungsanstrengungen eine absolute Transparenz des Verfahrens unter Einbeziehung aller Beteiligten zu gewährleisten. Im Interesse der Transparenz und der Legitimation der weiteren Erklärungen im Rahmen des "Bologna-Prozesses" ist auch die Einbeziehung des europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente dringend geboten. Ein so weitreichender Umbau der europäischen Hochschulsysteme wie er in der "Bologna-Erklärung" und den Folgedokumenten angestrebt wird kann nicht ausschließlich durch die nationalen Regierungen ausgestaltet werden. An der Regelung dieser Fragen wird sich eine endgültige Bewertung des "Bologna-Prozesses" entscheiden.

Ulf Banscherus, Mitglied im Ausschuss Studienreform des freien zusammenschlusses von studentInnenschaften und in der spw-Redaktion

Der Beitrag ist erschienen in spw 135, März/April 2004