Nicht jeder muss genommen werden

Immer wieder findet man in den Diskussionen um die neuen Hartz-IV-Gesetze die Auffassung vertreten, künftig müsse jeder erwerbsfähige Hilfebedürftige eine Arbeitsgelegenheit ausüben (in der öffentlichen Diskussion mangels geeigneter Umschreibungsmöglichkeiten als "1-Euro-Jobs" bezeichnet), wenn er Arbeitslosengeld II erhalte. Denn nach einem nun vollzogenen Paradigmenwechsel hin zum "Aktivierenden Sozialstaat" müsse der Betroffene in aller Regel eine "Gegenleistung" erbringen, wenn er soziale Leistungen erhalten wolle. Es werde damit in Deutschland unter Aufgabe der bisherigen Hilfeorientierung im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) per Gesetz internationalen Vorbildern folgend ein "Workfare"- Modell eingeführt.

Diese Interpretation wird aber durch die Vorschriften des verabschiedeten Gesetzes so nicht gestützt. Zunächst ist im gesamten Gesetzestext des SGB II von einer geforderten "Gegenleistung" nirgendwo die Rede - im Unterschied zu dem Entwurf des sog. Existenzgrundlagengesetzes, der aus Hessen vorgelegt wurde. Gerade wegen dieses Gegensatzes im Gesetzgebungsprozess lässt sich diese Auffassung auch nicht dort in die Vorschriften hineininterpretieren, wo sie unscharf bleiben.
Allerdings ist richtig, dass für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die keine Arbeit finden können, Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden sollen. Und in §2 Abs.1 Satz 3 SGB II ist die Verpflichtung des Betroffenen zur Übernahme einer ihm "angebotenen zumutbaren Arbeitsgelegenheit" normiert, wenn für ihn eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in absehbarer Zeit nicht möglich ist. Isoliert betrachtet nährt diese Vorschrift den Verdacht, die ursprünglich behauptete Zielvorstellung der Vermeidung von Arbeitslosigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt werde dadurch obsolet. Die Gefahr besteht tatsächlich, vor allem beim Fehlen von regulären Arbeits- und Ausbildungsangeboten und beim gleichzeitigen Spar- und Erfolgsdruck bei den Fallmanagern, Beschäftigungsträgern und Wohlfahrtsverbänden.
Selbst die Bundesagentur für Arbeit unterliegt einem Missverständnis, wenn sie §2 SGB II dahingehend interpretiert, die Annahme einer Arbeitsgelegenheit sei in erster Linie "der (zumutbare) Mitwirkungsbeitrag des Hilfeempfängers zur Reduzierung seiner Hilfebedürftigkeit". Das kann man in dieser Vereinfachung jedoch nur annehmen, wenn man unterstellt, der Hilfebedürftige müsse seine Hilfeleistungen sozusagen abarbeiten. Gerade das ist aber in §2 SGB II nicht ausgedrückt.

Was ist eine Arbeitsgelegenheit?
§2 SGB II will eine andere Verpflichtung des Hilfeempfängers regeln, nämlich die Verpflichtung, sich vorrangig und eigenverantwortlich um die Beendigung seiner Erwerbslosigkeit zu bemühen und Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zu suchen und anzunehmen. Abgeleitet von dieser "zentralen Forderung des neuen Leistungssystems" ist die weitere Verpflichtung, aktiv an Eingliederungsmaßnahmen mitzuwirken, die dieses Bemühen unterstützen. Ziel ist auch hierbei, den Erwerbsfähigen "möglichst unabhängig von der Eingliederung in Arbeit durch die Agentur für Arbeit zu machen". Diese Verpflichtung bezieht sich nur auf die Aufnahme einer zumutbaren und gesetzeskonformen Arbeit (z.B. nicht auf Diebstahl oder Betrugsgeschäfte), sie bezieht sich aber auch nur auf Eingliederungsmaßnahmen, die den gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend ausgestaltet sind.
§2 Abs.1 Satz 3 SGB II spricht nicht von "angeordneten", sondern von "angebotenen" Arbeitsgelegenheiten, die man wie reguläre Arbeit nur anzunehmen hat, wenn sie zumutbar sind und zusätzlich die Kriterien erfüllen, die für alle Eingliederungsleistungen gelten. Wer hier einseitig oder ohne sorgfältige Ermessensausübung "anordnet", der überdehnt das Prinzip des Forderns in unverhältnismäßiger Weise gegenüber dem Prinzip des Förderns, unterbindet damit die Suche nach nachhaltigeren Hilfeangeboten und wendet sich auch gegen die Grundidee der "Eingliederungsvereinbarung", bei der im Regelfall eine gleichberechtigte beiderseitige Vereinbarung getroffen wird und keine einseitige Festlegung erfolgen soll. Von einer generellen Gegenleistungspflicht für Hilfebedürftige, die angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftslage trotz Eigenbemühung keine Arbeit finden, ist nirgendwo die Rede.
Das Angebot von Arbeitsgelegenheiten steht grundsätzlich im Ermessen der Behörde. Das bedeutet keine willkürliche Entscheidung im rechtsfreien Raum, wie Nichtjuristen gelegentlich annehmen, sondern eine mit Blick auf den Gesetzeszweck begründete und nachvollziehbare Abwägung zwischen den verschiedenen Möglichkeiten.
Unter Arbeitsgelegenheiten versteht der Gesetzgeber folgende Varianten:
•Arbeitsgelegenheiten für im öffentlichen Interesse liegende zusätzliche Arbeiten in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis,
•Arbeitsgelegenheiten in einem Versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis in Betrieben,
•Arbeitsgelegenheiten für im öffentlichen Interesse liegende zusätzliche Arbeiten in einem nicht versicherungspflichtigen Sozialrechtsverhältnis, bei denen den Hilfebedürftigen zuzüglich zum Arbeitslosengeld II eine angemessene Entschädigung für Mehraufwendungen zu zahlen ist (§16 Abs.3 SGB II). Diese Variante entspricht der gemeinnützigen und zusätzlichen "Mehraufwands"variante bei Leistung von Hilfe zum Lebensunterhalt im Sinne des BSHG.
Die Schaffung der beiden Arbeitsgelegenheiten nach §16 Abs.3 SGB II steht dabei ganz am Ende einer Aufzählung, die mit Eingliederungsleistungen des SGB III beginnt. Beachtet man eine zentrale Begründung des gesamten Gesetzgebungsvorhabens, ein einheitliches Angebot für alle Arbeitssuchenden zu schaffen und allen den Zugang zu den Angeboten des SGB III zu verschaffen, dann lässt sich hieraus für die Ermessensausübung durchaus eine Vorrangregelung für die Wahl einer Leistung nach SGB III ableiten, die auch AB-Maßnahmen nach §§260 und 261 SGB III umfasst. Diese Auffassung wird auch von der Bundesagentur für Arbeit in ihrem aktuellen Kompendium zur Arbeitsmarktpolitik des SGB II vertreten.
Für den Nachrang der Mehraufwandsvariante spricht auch die Tatsache, dass es sich um ein Beschäftigungsverhältnis minderen Rechts - zwar mit Pflichten, aber nicht mit Rechten, Vergünstigungen und Anwartschaften, die ein Arbeitsverhältnis ausmachen - handelt, um ein "Beschäftigungsverhältnis 3.Klasse".
Für ehemalige Arbeitslosenhilfebezieher - bei denen idealtypisch Berufsqualifikation und Arbeitserfahrung vorausgesetzt wurden - waren bisher Angebote, wie sie in §16 Abs.3 Satz 2 SGB II vorgesehen sind, nicht zulässig.

Erforderlich
Unbestritten ist zunächst, dass überhaupt nur "zumutbare" Arbeiten in Betracht kommen. Damit gelten alle einschränkenden Kriterien, die für normale Erwerbstätigkeiten gelten, auch für Arbeitsgelegenheiten der hier in Frage stehenden Art.
Nicht jeder erwerbsfähige Hilfebedürftige muss Arbeitsgelegenheiten leisten. Das Gesetz gibt selbst Vorgaben zur Interpretation:
Nur soweit eine Leistung zur Eingliederung in Arbeit für den Zweck der Eingliederung der Betroffenen in den regulären Arbeitsmarkt, "erforderlich" ist, ist das Anbieten von Arbeitsgelegenheiten dem Träger vom Gesetzgeber überhaupt gestattet.
Auch §16 Abs.2 Satz 1 SGB II stellt auf die Erforderlichkeit von Leistungen zur Eingliederung in Arbeit ab. Die Entscheidungsfreiheit der Agenturen für Arbeit ist damit erheblich eingeschränkt, weil nur eine Arbeitsgelegenheit, die in Arbeit eingliedert, erforderlich sein kann, um das Fehlen einer Erwerbsarbeit zu beseitigen oder zu verkürzen.
Ob eine solche Arbeitsgelegenheit die Möglichkeiten und Chancen verbessert, nach ihrem Abschluss die Zielsetzung der Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt zu erreichen, hängt somit wesentlich davon ab, ob die in der Maßnahme geforderten Tätigkeiten und vermittelten Qualifikationen nachgefragt werden. Beschäftigung in der Grünflächenpflege oder der Straßenreinigung hat z.B. keine solche Perspektive, wenn nicht regelmäßig offene Stellen in diesem Bereich angeboten werden. Diese Perspektive darzulegen obliegt der Behörde, weil nur in ihrer Sphäre der Überblick über die Arbeitsmarktentwicklung besteht. Dass die Arbeiten im öffentlichen Interesse liegen müssen, bedeutet eine weitere Einschränkung, solange in diesem Bereich nicht wieder mehr reguläre Arbeitsplätze geschaffen werden.
Als erforderlich gelten solche Beschäftigungen darüber hinaus z.B. für Menschen mit persönlichen Schwierigkeiten und langer Arbeitsentwöhnung zum Training ihrer Beschäftigungsfähigkeit. In diesem Bereich liegt auch das bisherige Hauptanwendungsgebiet der Mehraufwandsvariante. Das bedeutet aber umgekehrt, dass sie diesen Zweck nicht erfüllen muss bei Personen, die ihre Tagesstruktur selbst setzen können, ihre Familienpflichten erfüllen, sozialer oder ehrenamtlicher Tätigkeit nachgehen oder Teilzeit- und Honorarbeschäftigungen ausüben. Nicht erforderlich ist danach etwa, einer allein erziehenden Mutter, die ihre zwei Kinder versorgt und daneben einer geringfügigen Beschäftigung nachgeht, eine viermonatige Arbeitsmaßnahme als Putzhilfe bei der kommunalen Beschäftigungsgesellschaft anzubieten, wie das in Hamburg in einem Sozialhilfefall unzulässig praktiziert werden sollte.
Neben dieser grundsätzlichen Prüfung der Arbeitsgelegenheit auf ihre Erforderlichkeit hin sind auch die Eignung des Hilfebedürftigen selbst, seine individuelle (auch familiäre) Lebenssituation, die bisherige Dauer der Arbeitslosigkeit und die Dauerhaftigkeit der Eingliederung in reguläre Arbeit zu berücksichtigen. Eine willkürliche Anordnung, eine Arbeitsgelegenheit zu übernehmen, ist rechtlich also nicht haltbar. Diese Position - die nun auch der BA-Chef Weise vertritt - stellt maßgeblich auf den konkreten Einzelfall ab. Jede einseitige Standardisierung der Entscheidung über die Frage, ob ein Hilfebedürftiger eine Arbeitsgelegenheit wahrnehmen muss, würde den Regeln pflichtgemäßer Ermessensausübung widersprechen.
Das spricht auch gegen ein pauschales Vorschalten von Mehraufwandstätigkeiten bei Beschäftigungsgesellschaften, um dann irgendwann später über weitere Maßnahmen entscheiden zu können, oder gegen das sofortige pauschale Anordnen von Mehraufwandstätigkeiten zur Überprüfung der Arbeitsbereitschaft, obwohl der Betroffene eigenständig im ersten Arbeitsmarkt sucht.
Die im öffentlichen Interesse liegenden Arbeiten dürfen nur angeboten werden, wenn sie für den einzelnen Hilfebedürftigen geeignet und erforderlich für seine Eingliederung in Arbeit sind.
Das bedeutet auch: Rechtsfolgen dürfen nur an eine in diesem Sinne rechtmäßige Ermessensausübung geknüpft werden. Auch Kürzungen dürfen nur auf der Grundlage solchermaßen rechtmäßiger Anordnungen von Arbeitsgelegenheiten erfolgen. Eine Absenkung des Arbeitslosengelds II ohne individuelle Erforderlichkeit der Arbeitsgelegenheit ist rechtswidrig und wäre von den Sozialgerichten zu überprüfen.
Nur bei nachweislicher Erfolgsaussicht auf erkennbar bessere Vermittlungschancen in den ersten Arbeitsmarkt würde den Zielsetzungen und Kriterien des SGB II genügt. Dies schließt ein, immer einen individuellen Bezug zwischen der Qualifikation des Arbeitssuchenden und dem für ihn erreichbaren Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt herzustellen - und dies auch von Seiten der Behörde darzulegen. Nach der Begründung zum Regierungsentwurf des §31 SGB II hat der Betroffene nur die wichtigen Gründe nachzuweisen, die eine Ablehnung der zumutbaren Arbeiten und Arbeitsgelegenheiten rechtfertigen und "sich aus seiner Sphäre oder seinem Verantwortungsbereich ergeben".
Wie die betroffenen Bürger bei dieser komplizierten Rechtslage ihre berechtigten Interessen werden durchsetzen können, ist ein Problem. Es erfordert einen selbstbewussten Umgang mit dem behördlichen Angebot, eine neue Kultur der Sozialberatung, der Selbsthilfe und gegenseitigen Unterstützung und Information, das gemeinsame Arbeiten an sinnvollen Lösungen.
Warum aber ist eine solche umfassende Interpretationsanstrengung nötig? Die Antwort ist eigentlich einfach: Weil der politische Willensbildungsprozess zu Hartz IV weder in die eine noch in die andere Richtung zu Ende geführt wurde, was sich in vielen handwerklichen Problemen und Widersprüchen niederschlägt. Auf der einen Seite hat sich über den Grundsatz des Forderns eine einseitige, im Kern den Arbeitslosen als Rechtssubjekt missachtende Position durchgesetzt, die rigiden Workfare-Ansätzen nahe steht. In anderen Vorschriften sind noch Strukturen des BSHG zu erkennen, bei dem an die Hilfeleistungen andere Maßstäbe gesetzt wurden und die Wahrung der Menschenwürde und das Individualisierungsprinzip im Vordergrund standen.

Utz Krahmer/Helga Spindler
Von der Redaktion gekürzte Fassung aus Nachrichtendienst des Deutschen Vereins Nr.1, 2005.