Alternativen zur Agenda 2010

Manuskript zur Veranstaltung des ALZ-Iserlohn am 20.01.05

Nur wer Alternativen für möglich hält, findet auch die Kraft zur Gegenwehr. - Dokumentation eines Vortrags, Veranstaltung des ALZ-Iserlohn am 20.01.05

Bisher waren Bestrebungen, soziale Alternativen zur Agenda 2010 in die öffentliche Diskussion zu bringen, noch nicht sonderlich erfolgreich - auch dann, wenn es durchaus beachtliche gesellschaftliche Kräfte sind, die das versuchen. Denken wir etwa an das "Arbeitnehmerbegehren" von IG Metall und ver.di. oder an den großen Perspektivenkongress vom Mai letzten Jahres in Berlin, der unter dem Motto "Es geht auch anders!" ein breites Spektrum aus mehreren großen Einzelgewerkschaften und Verbänden, von attac und anderen sozialen Bewegungen zusammengebracht hat, aber in den Medien kaum beachtet wurde.

In den Talk-Runden streiten in aller Regel nicht Vertreter der heutigen, der neoliberal inspirierten Reformpolitik mit Protagonisten sozialer Gerechtigkeit, sondern die Kontroversen laufen meist zwischen moderateren und radikaleren Varianten der gleichen neoliberalen Ausrichtung. Die einen werben für Hartz IV und die anderen erklären, warum das alles bei weitem noch nicht ausreicht und warum das Reformtempo weiter beschleunigt werden müsse.

Diese Debattenlage hat natürlich eine Menge zu tun mit den gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnissen und mit den Mechanismen unseres kommerziellen Medienmarkts. Sie hat aber auch damit zu tun, dass es bei sozialen Alternativen nicht bloß um andere Antworten auf die gleichen Probleme geht, sondern dass den Alternativen zugleich ein grundlegend anderes Verständnis der tatsächlichen Probleme zu Grunde liegt.

Die Agenda-Reformen treten auf mit der scheinbar unabweisbaren Logik des "Sachzwangs". Wer eine andere Richtung von Reformpolitik wolle, der ignoriere schlicht die Realität, heißt es. Die Realität sei nun mal geprägt von einem enormen Wettbewerbsdruck in einer globalisierten Wirtschaft. Ohne durchgreifende Kostensenkungen bei den Arbeitskosten und bei der Steuer- und Abgabenbelastung der Unternehmen und ohne durchgreifenden Abbau der bürokratischen Überregulierung des Arbeitsmarkts sei der Standort Deutschland nicht zu retten und die Massenerwerbslosigkeit nicht abzubauen. Die Realität sei nun mal so, dass die Lebenschancen der kommenden Generationen ruiniert werden, wenn nicht mit konsequenten Ausgabenkürzungen die Staatsverschuldung abgebaut und die tickende demografische Zeitbombe in der Sozialversicherung entschärft werde. Ob einem das gefalle oder nicht: im Kern gehe es um Kosten- und Ausgabeprobleme von Wirtschaft und Staat, die man bei Strafe des kollektiven Untergangs in den Griff kriegen müsse.

In der Beschreibung der Probleme, um die es gehen müsse, besteht heute eine früher unbekannte überparteiliche Einigkeit. Und die Realitätstauglichkeit politischer Vorläge gleich welcher Couleur wird dann meist daran gemessen, ob sie diesen Erfordernissen auch Rechnung tragen. In dieser Logik kann es also nicht darum gehen ob, sondern wie Arbeit billiger wird, nicht ob, sondern wie die Sozialsysteme billiger werden, nicht ob, sondern wie die zunehmend wachsende Last des Alterskonsums, der von den aktiven Generationen finanziert werden muss, reduziert werden kann.

Die angeblichen Sachzwänge der zu hohen Arbeitskosten, der Staatsverschuldung, der demografischen Entwicklung oder der bürokratischen Verkrustungen des Arbeitsmarkts werden uns nun seit mehr als einem Jahrzehnt fast täglich eingehämmert und entfalten dabei eine hohe Suggestionswirkung. Teils finden sie scheinbare Bestätigung in Meldungen über Produktionsverlagerungen nach Osten, über einen Anstieg der Firmenpleiten, über immer neue Löcher in den öffentlichen Haushalten und in den Sozialkassen. Angesichts der behaupteten Sachzwänge erscheinen diejenigen, die für einen sozialen Richtungswechsel der Reformpolitik streiten, gleichsam als Traumtänzer, die an Wolkenkuckucksheimen basteln.

Tatsächlich öffnet sich der Blick für die Möglichkeit sozialer Alternativen erst, wenn man sich von den Suggestionen der behaupteten Sachzwänge befreit,
wenn man versteht, dass diese Deutungen den realen Problemen eben nicht entsprechen, dass das eher ideologische Konstruktionen sind, die Akzeptanz für die Durchsetzung von Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen herstellen sollen - insbesondere für die Interessen der Kapitaleigner in Konzernen und Finanzwirtschaft sowie für die der Vermögensbesitzer.

Man muss verstehen - oder doch zumindest für möglich halten -, dass es im Kern nicht Kosten- und Ausgabeprobleme und erst recht keine demografischen Probleme sind, die wir bewältigen haben, sondern dass es sowohl bei den Problemen, als auch bei den Antworten vor allem um Verteilungsfragen geht.

Die heutige Reformpolitik sorgt für Umverteilung, für Umverteilung von unten nach oben. Dazu hat man den Grundsatz der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung - also Kapital und Versicherte Halbe-Halbe - aufgegeben. In wachsendem Umfang müssen die Versicherten ihre soziale Absicherung allein finanzieren, damit die so genannten "Lohnnebenkosten" für die Arbeitgeber sinken und Arbeit billiger wird. Dabei war der Grundsatz der paritätischen Finanzierung nicht irgendwas, sondern immerhin unmittelbarer Ausfluss des Verfassungsgebots von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums.

Auch das rot-grüne Konzept des Umbaus der Krankenversicherung zur "Bürgerversicherung" verfolgt übrigens den gleichen Zweck, wenn auch in moderaterer Form als die schwarz-gelbe Kopfpauschale.

Die beiden prägenden Eckpunkte der "Bürgerversicherung" sind ja zu einen die Einbeziehung der gesamten Wohnbevölkerung in die Versicherungspflicht, also auch der Besserverdienenden, die sich bisher aus dem Solidarsystem in die private Krankenversicherung verabschieden. Und zum anderen sollen neben den Beiträgen auf Arbeitseinkommen auch Beiträge auf Vermögenseinkommen erhoben werden. Soweit könnte das ja auch grundsätzlich in Ordnung gehen.

Aber mit den Mehreinnahmen, die da durch die Verallgemeinerung des versicherten Personenkreises und durch die zusätzliche Verbeitragung von Vermögenseinkommen der Versicherten erzielt werden können, soll die Senkung der Arbeitgeberbeiträge gegenfinanziert werden. Mit der ungleichen Verteilung der Lasten bei der Erwirtschaftung des Beitragsaufkommens wird immer auch das Risiko künftiger Beitragssatzsteigerungen ein Stück weit einseitig auf die Versicherten überwälzt.

Bei der Rentenversicherung hat die Gesetzgebung eine Entwicklung programmiert, mit der das Rentenniveau bis 2030 so weit absinkt, dass die Rentenleistung im Regelfall vom Träger der Altersgrundsicherung als Einkommen angerechnet werden kann. Das ist der Tod auf Raten für die Gesetzliche Rentenversicherung. Wir gehen einer neuen Altersarmut in breitem Umfang entgegen. Denn eine effektive Kompensation der wachsenden Rentenlücke durch Riester-Rente oder andere Privatvorsorgeformen ist nur denjenigen möglich, die in der Lage sind, die nötigen Prämien dauerhaft aus dem eigenen Einkommen abzuzweigen.

Die Hartz-Reformen verfolgen zum einen eine systematische Niedriglohnstrategie (Förderung von Billig-Jobs und prekärer Beschäftigung). Verdi meldete heute, dass allein im Einzelhandel im letzten Jahr 51.000 Vollzeitstellen durch geringfügige Beschäftigung und Teilzeit-Jobs ersetzt wurden. Zum anderen sorgen die Hartz-Reformen dafür, dass der Erpressungsdruck auf die Beschäftigten deutlich wächst: Hauptsache, den Job behalten, egal was der Arbeitgeber einem zumutet, wenn man bloß nicht in den Abgrund der Erwerbslosigkeit stürzt und da in die Förder-und-Forder-Mühlen gerät.

Die Erwerbslosen werden nicht um ihrer selbst willen geschurigelt, sondern um den Beschäftigten vorzuführen, was ihnen blühen kann, wenn sie "nicht artig" sind. Untertanengeist soll sich ausbreiten, auch wenn das das Gegenteil dessen ist, was eine Demokratie vertragen kann.

Die Hartz-Gesetze folgen der neoliberalen Theorie, dass die Erwerbslosigkeit Folge zu hoher Preise der Ware Arbeitskraft sei, und man daher durch die Freisetzung der Marktkräfte niedrigere "markträumende Preise" für Arbeit durchsetzen müsse. Dass Arbeitskräfte Menschen sind und nicht bloß Waren, das ist aus dieser Perspektive uninteressant. Es geht halt darum, Arbeit für Arbeitgeber billiger machen.

Faktisch wirkte das Leistungsniveau der Sozialhilfe wie eine Untergrenze für die Löhne. Das Leistungsniveau des ALG II und der neuen Sozialhilfe liegt nun in einem Großteil der Fälle unter der bisherigen Sozialhilfe. Nach Ansicht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands müsste es rund 20 Prozent höher liegen, um dem Verfassungsauftrag vom Schutz der Menschenwürde entsprechen zu können. Andere Sachverständige halten die Lücke für noch größer.

Wo die Reformen zur Entlastung öffentlicher Haushalte beitragen - Überschrift: "Abbau der Staatsverschuldung" -, dienen sie vor allem zur Gegenfinanzierung der Einnahmeausfälle, die durch die wiederholten Steuergeschenke an Arbeitgeber und Vermögensbesitzer entstehen.

Überall und immer wieder geht es um Umverteilung nach oben. Und die behaupteten "Sachzwänge" haben die Funktion, die banale Realität eines Verteilungskampfes der Starken gegen die Schwachen, man könnte auch sagen: eines Klassenkampfs von oben, vor der Öffentlichkeit zu kaschieren.

Neben der Privatisierung der sozialen Risikoabsicherung weisen die Reformen noch einen zweiten Strang auf, der meist weniger Beachtung findet. Schon seit der ersten Hälfte der 90er Jahre stecken wir in ein Umbau der Infrastrukturen sozialer Dienstleistungen nach dem Vorbild normaler Wettbewerbsmärkte, in einer Kommerzialisierung des Sozialen.

Soziale Einrichtungen sind heute schon vielfach "Unternehmen", die sich auf einem Wettbewerbsmarkt zu behaupten haben. Das ist zum Beispiel so bei Pflegeeinrichtungen, bei Krankenhäusern und bei Trägern arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen. Bei der ambulanten Krankenversorgung wird gegenwärtig noch dran gearbeitet. Die sozialen Infrastrukturen im weiteren Sinne werden betriebswirtschaftlichen Renditezielen unterworfen und als Anlagefeld der privaten Kapitalverwertung erschlossen. Ihre Weiterentwicklung richtet nicht mehr nach den inhaltlichen, den fachlichen Zielen, um die es da gehen soll, sondern zunehmend nach den Gewinnerwartungen. In NRW hatten wir beispielsweise 2003 eine Reform des Landespflegegesetzes, mit der die Steuerungshoheit über die pflegerischen Versorgungsstrukturen, also über die Frage, wo es welche und wie viele Pflegeeinrichtungen gibt, in letzter Instanz auf den Kapitalmarkt übertragen wurde.

Man versucht, den BürgerInnen diese Kommerzialisierung des Sozialen schmackhaft zu machen, indem man ihnen verspricht, dass sie dann künftig "Kunden" sind und mehr Autonomie und Selbstbestimmung erhalten. Aber das ist falsch. Kunde am Markt ist immer der, der bezahlt. Und auf den neuen Sozialmärkten sind das in erster Linie die großen Kostenträger der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe. Deren vorrangiges Interesse besteht darin, möglichst die Preise zu drücken. Die Stellung der BürgerInnen, die auf soziale Dienstleistungen angewiesen sind, nähert sich unter Marktbedingungen der eines Rohstoffs an, mit dessen Verarbeitung das Geschäft gemacht wird.

Angesichts der durchgreifenden Privatisierung und Kommerzialisierung des Sozialen ist "Sozialabbau" kein passender Begriff mehr für das, was vor sich geht. Wir stecken in einem Systemwechsel - weg vom Sozialstaat und hin zu einer Art Wettbewerbsstaat, der einseitig den Interessen der wirtschaftlichen Starken verpflichtet ist. Der Journalist Arno Luik nannte das im Stern einen "Putsch von oben".

Auch die tatsächlichen Probleme, vor denen wir stehen, sind zum Überwiegenden verteilungspolitisch bedingt. Die deutsche Exportwirtschaft hat keine Probleme, sonst wäre sie nicht schon seit Jahrzehnten auf den Weltmeister oder Vizeweltmeister im pro-Kopf-Export abonniert und hätte nicht in den letzten zwei Jahren die USA auch noch im absoluten Exportvolumen überholen können.

Probleme hat bekanntlich die Binnenwirtschaft. Aber auch das sind keine Kostenprobleme, sondern sie leidet seit vielen Jahren unter der Schwäche der Binnennachfrage. Der Kundschaft fehlt sozusagen das Geld, um die Rechnung zu bezahlen. Das ist die Hauptursache der viel beklagten Wachstumsschwäche.

Auch Sozialversicherung krankt an den Folgen der Umverteilung, und zwar schon seit Mitte der 1970er Jahre, also seit 30 Jahren. Seit damals sinkt nämlich im langfristigen Trend der Anteil der sozialversicherungspflichtigen Löhne und Gehälter am Volkseinkommen, während die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen ihren Anteil spiegelbildlich steigern konnten. Allein letztes Jahr stiegen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um den Rekordwert von 11 Prozent, während die Arbeitnehmerentgelte um Nullkommanull Prozent wuchsen. Die Finanzbasis der Sozialversicherung schrumpft, sie erodiert. Wegen der Massenerwerbslosigkeit, wegen der zurückbleibenden Lohn- und Gehaltsentwicklung, wegen der Ausbreitung von prekärer und Niedriglohnbeschäftigung. Neben den verschiedenen Steuerreformen der letzten Jahre trägt das maßgeblich dazu bei, einen wachsenden Teil des Volkseinkommens in den Händen der wirtschaftlich Starken zu konzentrieren. Um mal ein Beispiel zu geben: Bei der Deutschen Bank waren die Vorstandsvergütungen 1990 32 mal so hoch wie die Arbeitnehmervergütungen. Aber 2003 waren sie 240 mal so hoch.

Der neue Armuts-Reichtumsbericht der Bundesregierung beziffert das Nettogesamtvermögen der privaten Haushalte, das sind die Geldvermögen und die Immobilienwerte abzüglich Schulden, auf 5 Billionen (5.000 Milliarden) Euro. Der Anteil des reichsten Zehntels der Haushalte daran ist zwischen 1998 und 2003 von 45 auf 47 Prozent gestiegen, während beim ärmsten Zehntel, das ohnehin im Durchschnitt nur Schulden hat, die Verschuldung stieg. Die reale Umverteilung nach oben ging dabei übrigens zu Lasten der besser situierten Mittelschichten. Der Vermögensanteil der unteren Hälfte der Haushalte liegt zusammen bei 4 Prozent.

Die öffentlichen Haushalte geraten immer tiefer in die Krise, weil die Steuereinnahmen nicht nur wegen der Wachstumsschwäche wegbrechen, sondern auch und gerade wegen der Entlastungen für Unternehmen und Vermögende - bei anhaltender staatlicher Toleranz gegenüber Steuerhinterziehung und dem, was man so nett "Steuergestaltung" nennt.

Die verteilungspolitischen Wirkungen der Agenda-Reformen - Kürzungen unten und Geschenke oben - verschärfen systematisch das notorische Konjunkturproblem Nummer eins - die Schwäche der Binnennachfrage -, was dann mit zum Anstieg der Erwerbslosigkeit beiträgt.

Aber jetzt zu den Alternativen. Ich bitte das, was ich dazu vortrage, nicht als "Patentrezepte" misszuverstehen. Es soll sich vielmehr um Orientierungen handeln, um Leitvorstellungen einer sozialen Reformpolitik.

Erstens: Konjunkturpolitisch müsste es eher darum gehen, die Binnennachfrage zu stärken, und zwar sowohl die private wie die öffentliche. Die Stärkung der privaten Konsumnachfrage wird am effektivsten erreicht durch Anhebung der mittleren und insbesondere der unteren Einkommen, wo zusätzliches Geld am wenigsten Gefahr läuft, in die Vermögensbildung zu fließen. Gäbe es nicht ohnehin eine Menge guter sozialpolitischer Gründe für Verbesserungen bei den unteren Lohngruppen, bei den Renten, beim Arbeitslosengeld und gerade bei der Sozialhilfe, ließen sich entsprechende Weichenstellungen auch konjunkturpolitisch begründen. Die Stärkung der öffentlichen Nachfrage - vor allem bei Investitionen - braucht zusätzliche Steuereinnahmen - und zwar zu Lasten derer, die dadurch ihren Konsum nicht einschränken müssen, die also dadurch nicht ernsthaft belastet würden.

Zweitens: Ein nachhaltiger Abbau der Massenerwerbslosigkeit ist nicht vorstellbar ohne drastische Arbeitszeitverkürzungen.

Eine Bewältigung der Massenerwerbslosigkeit durch Wirtschaftswachstum ist längst nicht mehr vorstellbar. Wachstumsraten, die über Jahre hinweg deutlich oberhalb der Beschäftigungsschwelle von etwa zwei Prozent liegen, sind längst nicht mehr erreichbar, ganz abgesehen davon, ob die damit verbundene Steigerung des Ressourcenverbrauchs unter ökologischen Gesichtspunkten akzeptabel wäre. Arbeitszeitverkürzung ist das einzige bekannte Instrument, mit dem eine Steigerung der Arbeitskräftenachfrage auch ohne Wachstum erzeugt werden kann. Die beschäftigungspolitische Wirksamkeit der Arbeitszeitpolitik wurde übrigens unfreiwillig bestätigt von unserer Landesregierung - als sie ihren Beschluss zur Arbeitszeitverlängerung im Landesdienst auf 42 Wochenstunden begründete mit der Zielsetzung, dadurch bis zu 11.300 Stellen streichen zu können. Wenn das so herum funktioniert, muss es auch andersrum funktionieren.

Arbeitszeitverlängerung und -verkürzung beeinflussen den Beschäftigungsstand über einen einfachen Marktmechanismus. Das betrieblich verfügbare Arbeitszeitvolumen wird entweder erhöht oder verknappt, so dass zur Bewältigung eines gleichen Arbeitsvolumens im einen Fall Beschäftigte überflüssig sind, im anderen Fall aber nachgefragt werden müssen.

Die teils problematischen Erfahrungen, die Belegschaften mit den bisherigen Arbeitszeitverkürzungen gemacht haben, gehen maßgeblich darauf zurück, dass sie erkauft wurden mit neuen Möglichkeiten der Flexibilisierung, die den Arbeitgebern eine rationellere Ausnutzung ihres vorhandenen Arbeitskräftepotenzials erlauben, und zudem oft die Leistungsschraube anzogen wurde. Und sie haben damit zu tun, dass die Verkürzungsschritte zu langsam und kleinschrittig kamen, um die Wirkungen fortgesetzter Rationalisierung, also der Steigerung der Arbeitsproduktivität, zu kompensieren oder gar zu übertreffen.

Für eine Arbeitszeitpolitik, die dem Abbau der Erwerbslosigkeit dienen soll, folgt daraus zweierlei: Es muss erstens um rasche Arbeitszeitverkürzungen in großen Schritten gehen, und es muss zweitens darum gehen, die marktorientierte Flexibilisierung möglichst wieder einzufangen und verlässliche Bedingungen der Lage und Verteilung der Arbeitszeit zu sichern. Dazu gehört beispielsweise das freie Wochenende, aber auch die Vermeidung von Nacht- und Wechselschichtarbeit überall da, wo sie nicht zwingend erforderlich ist. Nach meinem Dafürhalten sollte die 30-Stunden-Woche - noch besser der 6-Stunden-Tag - zum Nahziel gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik werden, und zwar bei gesicherten Rahmenbedingungen.

Der Gesetzgeber könnte da helfen, indem er die zulässige Mehrarbeit begrenzt und die Höchstgrenzen der Regelarbeitszeit so weit wie möglich an die geltenden Tarifregelungen heran führt. Dann müsste sich der Bedarf an Flexibilität einen Weg sozusagen nach unten statt nach oben suchen. Auch gesetzliche Beschränkungen von gesundheitlich problematischen Arbeitszeiten gehören dazu.

Eine Perspektive der allgemeinen täglichen Arbeitszeitverkürzung bei verlässlicher Lage und Verteilung der Arbeitszeit, das wäre auch ein substanzieller Fortschritt für die seit Jahrzehnten beklagten Mängel bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bisher wird das ja meist als "Frauenproblem" definiert und in prekäre Beschäftigungsformen entsorgt, von denen frau nicht leben kann. Eine geschlechtergerechte Erwerbsgesellschaft muss aber Erwerbsarbeit im Regelfall so organisieren, dass sie regelmäßig und für beide Geschlechter mit den täglichen Erfordernissen von Kindern oder Pflegebedürftigen vereinbar ist. Und dafür sind nicht nur begrenzte, sondern verlässliche tägliche Arbeitszeiten wichtig. Wenn der Arbeitgeber meint, wegen eines Auftrags müsse jetzt mal für drei Monate 60 Stunden und auch am Wochenende gearbeitet werden, kann man ja die Kinder oder die Oma nicht solange in den Kamin hängen.

Dazu gehört auch ein Mehr an gesicherter Zeitsouveränität für die Beschäftigten, damit die falls nötig ihre Arbeitszeit flexibel den Wechselfällen menschlichen Lebens anpassen können. "Gesicherte" Zeitsouveränität bedeutet, dass die Kontrolle über die Zeitgestaltung bei den Beschäftigten liegt und sich gerade nicht nach den Schwankungen von Konjunktur und Auftragslage richtet.

Aus der Verknüpfung von Arbeitszeitverkürzung mit gesicherten Einkommen und neuen arbeitszeitpolitischen Rahmenbedingungen könnte dann so was wie ein Neues Normalarbeitsverhältnis erwachsen, also eine allgemeine Regulierung von Bedingungen, unter denen abhängige Erwerbsarbeit stattfindet.

Drittens: Mit Blick auf das Ziel eines nachhaltigen Abbaus der Massenerwerbslosigkeit wäre eine Strategie der Arbeitszeitverkürzung zu ergänzen durch eine beschäftigungswirksame Investitionsstrategie des Staates und der Kommunen, nicht zuletzt zu Gunsten des ökologischen Strukturwandels bei Verkehr und Energie, bei Wasser und Abwasser.

Dass den öffentlichen Händen heute die Investitionsmittel für den Umstieg auf ein ökologisch nachhaltiges Wirtschaften im Bereich der öffentlichen Infrastrukturen fehlen, ist ja nicht nur ein Problem für die Konjunktur und den Arbeitsmarkt. Was da liegen bleibt und vertagt wird, das wird uns irgendwann bitter einholen. Je länger das aufgeschoben wird, umso schwieriger wird es schließlich zu bewältigen sein. Ganz abgesehen vom Arbeitsmarkt ist es schon deshalb unerträglich, dass die öffentlichen Investitionen in Deutschland weit unter den EU-Durchschnitt abgesackt sind. Fachleute sprechen längst von einem Verfall öffentlichen Eigentums, wobei der Zustand der Schulgebäude eher die Spitze des Eisbergs ist.

Hohe Bedarfe an zusätzlicher Beschäftigung bestehen bei Bildung und Erziehung. Wenn die soziale Selektivität unseres Bildungssystems wirksam abgebaut werden soll, wenn da Chancengleichheit herrschen soll, unabhängig vom sozialen Status der Eltern, wenn behinderte Kinder nicht mehr in Sonderschulen ausgesondert werden sollen, dann geht das nicht ohne erheblich mehr Lehrerinnen und Lehrer.

Für eine akzeptable Pflegequalität in Heimen fehlen schon jetzt 30.000 Pflegekräfte. Und der Pflegebedarf steigt mit dem Älterwerden der Gesellschaft weiter an.

Unser Gesundheitswesen braucht mehr ÄrztInnen und mehr Krankenpflegekräfte, um eine gute Versorgungsqualität zu anständigen Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Nicht nur in den Krankenhäusern. Vor allem in Ostdeutschland sind bereits weiße Flecken auf der Karte der ambulanten ärztlichen Versorgung entstanden.

Auch eine Stärkung der Sozialversicherung - vierter Punkt - könnte also zum Beschäftigungsaufbau beitragen, denn sie ist ein Hauptfinanzier sozialer Dienstleistungen. Und wenn sie ihre Aufgaben wieder effektiv wahrnehmen soll, dann geht das vielfach nur mit zusätzlicher Beschäftigung.

Diese Beispiele mögen andeuten, dass wir in vielen Bereichen des Sozialen und Kulturellen mehr Arbeitsplätze brauchen, damit hier die Leistungsfähigkeit der Infrastrukturen ihren Aufgaben für die Allgemeinheit entsprechen kann.

Dazu brauchen Staat und Sozialversicherungsträger vor allem eines: mehr Geld.

Natürlich gilt auch hier, dass Geld nicht alles ist. Auch Reformen in den Strukturen sind nötig. Aber es gilt eben auch: Ohne Moos nix los.

Zur Stärkung der Kranken- und Rentenversicherung würde sich ein solidarisch gewendetes Konzept von "Bürgerversicherung" anbieten. Dabei wären die beiden bekannten Eckpunkte, mit denen auf Seiten der Versicherten mehr Beiträge eingenommen werden sollen, nämlich die Verbeitragung aller Markteinkommen - auch der Vermögenseinkommen - bei Pflichtversicherung von allen Einkommensbeziehern zu ergänzen um folgende vier Eckpunkte:

1. Erneuerung der paritätischen Finanzierung
- indem im gleichen Umfang, wie bei den Versicherten mehr hereingeholt wird, auch die Wirtschaft herangezogen wird. Dazu wäre ein ergänzender Wertschöpfungsbeitrag der Unternehmen zu erheben, der dort übrigens auch für eine gerechtere Verteilung der Beitragslast sorgen würde.
2.
3. Herstellung von Belastungsgerechtigkeit unter den Versicherten
- indem die Beitragsbemessungsgrenzen schrittweise aufgehoben werden. Es gibt keine sachliche Begründung dafür, warum hohe und höchste Einkommen nicht mit dem gleichen Beitragssatz herangezogen werden sollen, wie er bei den untersten selbstverständlich ist.
4.
5. Vorrang für Leistungsverbesserungen
- Mehreinnahmen müssen in erster Linie dazu eingesetzt werden, die klaffenden Lücken im Leistungsrecht zu schließen. In der Krankenversicherung gehtÂ’s dabei vor allem um die Rücknahme der Zuzahlungen und Leistungsausgrenzungen und um die Finanzierung einer wirksamen Präventionsstrategie. In der Rentenversicherung um die Gewährleistung einer den Lebensstandard sichernden Altersrente, die nicht nur für den fiktiven Eckrentner mit 45 Versicherungsjahren zum Durchschnittsverdienst, sondern auch bei heutigen realen Erwerbsbiografien erreichbar ist.
6.
7. Soziale Sicherheit ist keine Ware
Die Kommerzialisierung der sozialen Infrastrukturen, der marktförmige Umbau der Beziehungen zwischen den Sozialversicherungsträgern und den Erbringern sozialer Dienstleistungen (z.B. Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Berufsbildungsträger) ist zurückzunehmen. Denn Menschen, die auf soziale Dienstleistungen angewiesen sind, befinden sich in einer verletzlichen Lebenssituation, die nicht Marktinteressen unterworfen werden darf, sondern im Schutz öffentlicher Verantwortung bewältigt werden muss.
8.
In den Pflegeheimen haben wir in Deutschland eine bereits eine regelrechte humane Katastrophe zu verzeichnen. Die Missachtung von Grund- und Menschenrechten von Pflegebedürftigen aus Mangel an Geld ist nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Das liegt nicht nur an den Pflegekassen, sondern vor allem an den Sozialhilfeträgern, also den Kommunen. Die so genannte "Teilkasko"-Pflegeversicherung leistet bisher ja nur begrenzte Zuschüsse zu den tatsächlichen Kosten, so dass Kostensteigerungen für Pflege vor allem die Sozialhilfeträger belasten. Und die wiederum stehen unter dem Druck wegbrechender Steuereinnahmen. Da schließt sich ein Teufelkreis. Das Versprechen, mit der Pflegeversicherung eine vorrangige Absicherung der Pflegebedürftigkeit zu schaffen, die pflegebedingte Armut und Sozialhilfeabhängigkeit überwindet, wurde praktisch schon bei ihrer Gründung gebrochen. Dabei könnte der Pflegeversicherung eine angemessene finanzielle Leistungsfähigkeit wohl schon dadurch gesichert werden, dass die paritätische Finanzierung wieder Geltung erhält und die Arbeitgeber im gleichen Umfang wie bisher die Versicherten herangezogen werden. Rechnerisch würde sich das Beitragsaufkommen dadurch annähernd verdoppeln.

Zur Stärkung der Arbeitslosenversicherung bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik, also für vernünftige Qualifizierung, für Fortbildung und Umschulung und vor allem für den Aufbau eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors in Bereichen, wo gesellschaftlicher Bedarf besteht, aber nicht anderweitig gedeckt werden kann - für solche Dinge könnte der frühere rot-grüne Vorschlag wieder aufgegriffen werden, wegen des gesamtgesellschaftlichen Interesses am Abbau der Massenerwerbslosigkeit eine Arbeitsmarktabgabe derjenigen einzuführen, die nicht in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Damit könnten im Einzelfall auch wirtschaftlich gesunde Unternehmen bei der Umsetzung von Arbeitszeitverkürzungen unterstützt werden, wenn sie dadurch sonst in ernste Schwierigkeiten gerieten.

Aber natürlich muss es dringend auch darum gehen, die soziale Absicherung bei Erwerbslosigkeit wieder durchgreifend zu verbessern, schon um den disziplinierenden Erpressungsdruck auf den Erwerbslosen und den Beschäftigten zu mindern.

Ich hatte vorhin ein paar Hinweise auf die enormen Dimensionen des privatisierten Reichtums gegeben. Von der Finanzierungsseite sozialer Reformen her müsste es vorrangig darum gehen, Ressourcen des Reichtums - bei Einkommen wie bei Vermögen - in angemessenem Umfang für Zwecke der Allgemeinheit zu erschließen. Dafür braucht eine andere Steuer- und Abgabenpolitik, die den Verfassungsgrundsatz von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums ernst nimmt. Das bedeutet etwa:

· Das Aufkommen aus Unternehmens- und Gewinnsteuern muss erhöht werden.
·
· Die Vermögenssteuer muss wieder eingeführt und die Erbschaftssteuer ergiebiger werden. Sehr konservativ geschätzt brächte 1 Prozent Vermögenssteuer bei einem Freibetrag von 500.000 Euro mindestens 16 Milliarden jährlich. Andere Schätzung halten beim gleichen Steuersatz auch das drei bis vierfache für möglich.
·
· Die Spitzensteuersätze müssen wieder angehoben und die seit Jahrzehnten diskutierten Steuerschlupflöcher müssen endlich geschlossen werden.
·
· Luxusgüter könnten mit dem doppelten Mehrwertsteuersatz belastet werden (Luxussteuer).
·
· Zur finanziellen Stärkung der Sozialversicherung wäre neben den Beiträgen auf Arbeitsentgelt vor allem eine ergänzende Wertschöpfungsabgabe der Unternehmen zu erheben. Im Rahmen einer Bürgerversicherung wäre das unerlässlich, damit die paritätische Finanzierung gewahrt werden kann.
·
· Zur Finanzierung des Aufbau Ost könnte eine befristete Abgabe auf Großvermögen erhoben werden, wie es sie in der Nachkriegszeit zur Finanzierung des Aufbau West schon einmal gab - damals übrigens eingeführt von einer konservativen Bundesregierung.
·
· Eine andere Steuer- und Abgabenpolitik müsste zugleich für die Schließung der internationalen Steueroasen eintreten und ansonsten wirksamere Kontrollen des Kapitalverkehrs durchsetzen.
·
In den wenigen groben Strichen dieser Alternativen-Skizze sind schon eine Menge Stellschrauben beinhaltet, und wenn man an der einen dreht, hat das nicht nur Wirkungen, sondern auch Nebenwirkungen in ganz anderen Bereichen. Deshalb würde es darauf ankommen, auf der Grundlage der skizzierten Orientierungen ein schrittweise umsetzbares alternatives Reformprojekt für einen zukunftsfähigen Sozialstaat zu entwickeln.

All das würde nicht bedeuten, dass hier der Sozialismus ausbricht. Es handelt sich eher um pragmatische Vorschläge mittlerer Reichweite für einen sozial regulierten Kapitalismus mit einem zukunftsfähigen Sozialstaat, in dem der Abstand zwischen Arm und Reich lediglich etwas moderater ausfiele als heute.

Bei alledem ist nicht zuletzt auch die europäische Dimension im Blick zu behalten. Auch der neoliberale Systemwechsel ist ja keine nationale, sondern eine europäische Veranstaltung. Oft spielen die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten da über Bande, indem sie in der Kommission Pflöcke einrammen, die sie dann zu Hause mit dem Ausdruck des Bedauerns als "europäischen Sachzwang" verkaufen. Gegen den Rest der EU würde eine alternative Politik in Deutschland kaum lange zu halten sein. Deshalb käme es darauf an, auch auf europäischer Ebene für andere Rahmenregulierungen bei Wirtschaft, Finanzen und Beschäftigung Richtung zu streiten, das heißt zunächst, sich mit sozialen Bewegungen in anderen Mitgliedsstaaten zu verbinden, die ähnliches anstreben, und eine andere Politik möglichst in allen EU-Gesellschaften zu verankern.

Das vereinigte Euroland wäre eigentlich eine hervorragende Plattform für soziale und ökologische Regulierungen, weil hier das Totschlagargument von der Globalisierungsfalle, also der Standortverlagerung ins Ausland, nicht zieht. 90 Prozent der Wirtschaftsbeziehungen des Euroraums sind binnenwirtschaftlicher Natur; nur 10 Prozent hängen an Außenwirtschaft mit den außereuropäischen Märkten.

Zum Schluss noch ein paar Anmerkungen zu einem strategischen Glaubwürdigkeitsproblem alternativer Orientierungen:

Weder in der deutschen, noch in der europäischen Politik finden wir heute noch Akteure vor, von denen wir mit Aussicht auf Erfolg erwarten könnten, dass sie - sozusagen stellvertretend für die europäische Zivilgesellschaft - einen sozialen und ökologischen Richtungswechsel durchsetzen. Wir haben in Deutschland keine Kraft mehr im parlamentarischen Raum, von der wir annehmen könnten, dass sie in absehbarer Zeit so was umsetzen könnte. Das wird man auch dann einräumen müssen, wenn man Anhänger der PDS oder des Projekts einer neuen Linkspartei sein sollte.

Schlimmer noch: sogar im außerparlamentarischen Raum fehlen uns heute große, starke Kräfte, von denen wir ernsthaft erwarten könnten, dass sie die große, durchsetzungsfähige Bewegung für eine andere Politik in Gang bringen. In manchen Gewerkschaften haben wir viele und auch sehr gute Diskussionen mit Beiträgen, die da in die richtige Richtung gehen. Aber zugleich haben wir - auch bei verdi und der IG Metall - die Fortsetzung einer vermeintlich "pragmatischen" Betriebs - und Tarifpolitik, die all das ignoriert, was die eigenen Grundsatzreden oder das gemeinsame "Arbeitnehmerbegehren" für soziale Gerechtigkeit einfordern. Links blinken und rechts abbiegen bringt natürlich weder Vertrauen noch Glaubwürdigkeit für alternativen Konzepte.

Aber es kann nicht darum gehen, auf die Gewerkschaften oder auf andere Großorganisationen zu schimpfen. Im Gegenteil. Es geht eher darum, einer Realität ins Auge zu sehen, die uns sagt, dass wir den Kampf für eine andere Politik, für Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit, für ökologische Nachhaltigkeit und für Emanzipation vorerst an niemand mehr delegieren können. Wenn ich sage "wir", dann meine ich damit nicht die versprengten Reste der alten außerparlamentarischen Linken, sondern ich meine all diejenigen, die die Richtung des heute herrschenden Reformkurses ablehnen und bereit sind, für soziale Gerechtigkeit und einen zukunftsfähigen Sozialstaat zu streiten.

Bevor wir kritisieren, was andere alles nicht machen, sollten wir für uns die Frage beantworten, was wir dazu beitragen können, dass eine starke soziale Bewegung zu Stande kommt. Das ist ziemlich unbequem, aber nach meiner Wahrnehmung wohl unvermeidlich.

Dabei geht es um Vernetzung, um Organisierung derer, die bereit sind, sich zu engagieren, und zwar quer zu den traditionellen Grenzen von Organisationen, Parteien oder politischen Kulturen. Wir müssen raus aus dem Schubladendenken, wo Leute vorrangig danach bewertet werden, welches Parteibuch, welche Religion oder Weltanschauung sie haben, ob sie der Gewerkschaft A oder dem Verband B angehören. Wir müssen lernen, trotz oder besser mit vielfältigen Unterschieden verschiedenartiger MitstreiterInnen, als bunte Bewegung, auf gemeinsame Zielsetzungen hin zu arbeiten.

Der Kampf um die Köpfe, die Aufklärung über Sinn und Unsinn der heutigen Reformpolitik, das Werben für die Überzeugung, dass Alternativen möglich sind, wenn die Bürgerinnen und Bürger sie möglich machen, das kann nur erfolgreich sein, wenn wir uns denen verständlich machen können, die nicht gestern und nicht heute, aber vielleicht morgen oder übermorgen mit uns streiten.

Ich glaube, das wurde noch nicht verstanden von denen, die am 3. April in Köln versuchten, Norbert Blüm auszupfeifen. Oder von denen, die meinten, die Monatsdemos wären eine prima Plattform für weltanschauliche Missionierung von links. Und umgekehrt gibt es so manche Sozialstaatsanhänger aus eher konservativem Milieu, die da auch nicht hin wollen, wohin die Politik uns heute führt, die aber bisher ihre Vorurteile nicht in den Griff kriegen - gegen Gewerkschaften oder gegen attac oder gegen das, was sie für linksradikal halten.

Wenn wir eine Chance eröffnen wollen für soziale Gerechtigkeit in diesem Land, dann sollten wir lernen, im Interesse gemeinsamer Ziele auch beträchtliche Unterschiede auszuhalten, die es ansonsten geben mag.