Gegen Rechtsextremismus. Eine Parlamentsrede

Rede des am 2.12.2000 tödlich verunglückten Politikers und Wissenschaftlers Michael Schumann vom 21.9.2000 im Landtag Brandenburg zur Begründung eines Antrags der Fraktion der PDS.

Michael Schumann hielt die folgende Rede am 21. September 2000 im Landtag Brandenburg zur Begründung eines Antrags der Fraktion der PDS mit dem Titel "Gegen Rechtsextremismus und fremdenfeindliche Gewalt - für ein tolerantes und weltoffenes Brandenburg ". 1 Auf der Grundlage dieses Antrages war mit Ergänzungsvorschlägen des Landtagspräsidenten Dr. Herbert Knoblich (SPD) eine Antragsfassung erarbeitet worden, zu der der nach Schumann das Wort nehmende SPD-Abgeordnete Peter Muschalla erklärte, man sei "an einem historischen Punkt", denn das habe es "in diesem Hause noch nie gegeben, daß die drei großen demokratischen Fraktionen (gemeint sind SPD, CDU und PDS - d. Red.) gemeinsam einen Antrag - gegen Rechts in diesem Falle - verabschieden werden. " Es sei "wichtig, den Bürgern da draußen zu signalisieren: Der Landtag, alle drei demokratischen Fraktionen sind geschlossen gegen Rechtsextremismus und gegen rechte Gewalt (Beifall bei SPD und PDS)".

Um ein solches gemeinsames Auftreten aller demokratischen Parteien im Parlament hatte Schumann lange gekämpft. Der Beitrag der PDS zur Eindämmung der rechtsextremistischen Gefahr - so hatte er z. B. auf einem Landesparteitag der PDS in Brandenburg im Juni 1998 erklärt - "kann nur dann zur Wirkung kommen, wenn es gelingt, die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet und auf allen politischen Ebenen mit anderen politischen und gesellschaftlichen Kräften zu erreichen. Die sektiererische Position, die von der Voraussetzung ausgeht, wir seien die eigentlichen und einzig konsequenten Gegner des Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus und verfügten als einzige über die richtigen Antworten, ist borniert und untergräbt die Möglichkeiten von Zusammenarbeit und Bündnissen vor allem mit anderen gesellschaftlich einflußreichen politischen Kräften. Wir haben deshalb im Landtag alles daran gesetzt, eine gemeinsame Erklärung zumindest mit der SPD zu erreichen. Das geht nicht ohne Kompromisse. Maßgebend muß die Einstellung sein, die Lothar Bisky in der Debatte in das Bild kleidete: Im Kampf gegen Braun, gegen rechte Borniertheit und Rassismus, drücken wir nicht nur rote, sondern auch grüne, gelbe und selbst die schwarzen Hände der CDU." Das Streben nach Zusammenarbeit mit anderen Parteien schließe selbstverständlich Kritik an deren Positionen im einzelnen nicht aus. "Deswegen haben wir in der Parlamentsdebatte (gemeint ist die von 1998 - d. Red.) an die Adresse von SPD und CDU deutlich gesagt: Eine Vogel-Strauß-Politik, die auf eine offensive und öffentliche Auseinandersetzung mit rechter Borniertheit und Fremdenfeindlichkeit verzichtet, um keine schlafenden Hunde zu wecken, oder gar eine Politik, die sich die rechten ausländerfeindlichen Parolen zu eigen macht und glaubt, dadurch den Rechtsextremismus klein halten zu können, ist gescheitert." Und an die Adresse der eigenen Partei gewandt hatte Schumann gefordert: "Wir dürfen unser Heil nicht vom Druck außerparlamentarischer Kräfte, antifaschistischer Basisinitiativen usw. erhoffen. Wir müssen sie auch als Landtagsfraktion und als Fraktionen in den Kommunalvertretungen unterstützen und ermutigen, wo es sie gibt. Aber wir können sie nicht schaffen (diese Initiativen - d. Red.) und wir dürfen vor allem die Betonung der Wichtigkeit des außerparlamentarischen Wirkens nicht als Ausrede für mangelnde parlamentarische Erfolge benutzen. Und die stellen sich nun einmal nur dann ein, wenn man es versteht, die parlamentarische Mehrheit real zu beeinflussen. Wenn uns das gerade in der Frage des Kampfes gegen den Rechtsextremismus nicht hinreichend gelingt, dann werden sich auch die vielen antifaschistisch gesinnten jungen Leute, die uns nahestehen und den rechtsextremistischen Entwicklungen aus legitimen Motiven Widerstand entgegensetzen wollen, resigniert von uns abwenden, und wir werden dann unser Teil Verantwortung dafür tragen müssen, daß sie den falschen Weg der Verstrickung in Gewalt und Gegengewalt gehen " (zitiert nach: Neues Deutschland, Berlin, v. 15. Juni 1998).

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

In den letzten Monaten hat die Debatte über Rechtsextremismus und fremdenfeindliche Gewalt in der deutschen Öffentlichkeit eine neue Dimension gewonnen. Manches, was in dieser Debatte geäußert wird, halte ich persönlich für wenig hilfreich, manches sogar für irreführend, und ich finde auch, daß gelegentlich Pharisäertum im Spiel ist. Aber das ist nicht wichtig. Entscheidend ist etwas anderes, entscheidend ist, daß diese Debatte zu einer neuen Sensibilisierung unserer Gesellschaft geführt hat und daß damit die Chance gegeben ist, einen Zustand zu überwinden, in dem rechtsextremistische Gewalt und Fremdenfeindlichkeit auf Dauer zu einer deutschen Normalität zu werden drohen.
Bundespräsident Rau hat nicht nur mit bemerkenswerter Präzision die komplexen Ursachen von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit benannt und die entscheidenden politischen Aufgaben, die sich in diesem Zusammenhang stellen, beschrieben, er hat auch das Besondere, das Eigentümliche der mit dieser intensiven öffentlichen Debatte verbundenen aktuellen Situation charakterisiert, wenn er Folgendes sagt: "Mit dieser Gewalt leben wir seit Jahren. Fast konnte man meinen, daß wir uns daran gewöhnt haben. Jetzt scheinen alle aufgewacht zu sein. In den vergangenen Wochen ist uns allen noch einmal klar geworden, welchen Gefährdungen unser Gemeinwesen unverändert ausgesetzt ist." 2
Die politischen Möglichkeiten, die in dieser Situation liegen, dürfen wir nicht ungenutzt lassen. Das verlangt auch, daß wir den Prozeß öffentlicher Aufklärung und Sensibilisierung weiter betreiben, er könnte sonst ein Strohfeuer gewesen sein.
Das Parlament, das ein wichtiger Teil der Öffentlichkeit Brandenburgs ist, hat die Pflicht, in dieser Frage immer wieder die Fahne zu hissen, sich in möglichst großer Einmütigkeit gegen Rechtsextremismus und fremdenfeindliche Gewalt, für ein tolerantes und weltoffenes Brandenburg deutlich zu erklären.
Insbesondere die Verantwortungsträger aller Ebenen, die Kommunalpolitiker, die Lehrerinnen und Lehrer, die Polizistinnen und Polizisten, die Inhaber von Ehrenämtern aller Art müssen spüren, daß Parlament und Regierung ihnen in jeder Hinsicht den Rücken stärken, wenn sie sich im Sinne eines toleranten Brandenburg und gegen fremdenfeindliche Ressentiments und Gewalt engagieren.
Das sind die Motive, die uns dazu bewogen haben, Ihnen den vorliegenden Antrag zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu unterbreiten.
Natürlich ist uns allen bewußt, daß Erklärungen und Bekundungen die konkrete politische Arbeit vor Ort nicht ersetzen können. Das ist trivial. Und wir sind weit davon entfernt, zu ignorieren, daß viel Positives geleistet wurde und wird - in Kommunen, in Schulen und Hochschulen, in Wirtschaftsunternehmen, durch freie Träger, durch Kultur- und Kunstschaffende, durch Bürgerinitiativen usw. Wir denken schon deswegen nicht daran, positive Entwicklungen auf diesem Felde zu negieren, weil sich nicht zuletzt viele Mitglieder der PDS in diesem Zusammenhang vorbildlich engagieren.
Wir stehen nicht am Punkt Null. Das betrifft selbstverständlich auch die Landesebene. Wir übersehen da gar nichts, weder die Aufstockung der MEGA 3 noch die wichtige Initiative von Landesregierung und kommunalen Spitzenverbänden noch das vorgesehene Schulprogramm gegen Rechts aus dem Bildungsministerium. Wir übersehen gar nichts. Aber es ist natürlich die Aufgabe der Opposition, die besonders kritischen Punkte anzusprechen, und die füllen seit geraumer Zeit die Schlagzeilen.
Sie, Herr Ministerpräsident, haben in Ihrem Furore machenden "Zeit"-Interview 4 die Berechtigung unserer seit Jahren geübten grundsätzlichen Kritik an der Regierungspolitik bestätigt. Ich sage Ihnen das jetzt natürlich nicht händereibend, aber wer hat denn in diesem Parlament schon vor Jahren den damals noch üblichen Tenor von "den paar Verrückten, den Einzeltätern" moniert? Wer hat denn die verbreitete fremdenfeindliche Einstellung thematisiert, die hier gewiß auch spezifische historische, aber nicht vorwiegend historische Ursachen hat? Siehe die erhellenden Ausführungen des Bundespräsidenten! Wer hat denn die Einführung des Sachleistungsprinzips als einen Vorgang kritisiert, der dem fremdenfeindlichen Ressentiment nachgibt? Das war die PDS. Und wer hat denn außer der PDS von dieser Regierung und von ihrer Vorgängerregierung verlangt, daß die ghettohafte Unterbringung von Asylbewerbern und Aussiedlern als menschenunwürdig abgestellt wird?
(Beifall bei der PDS)

Nein, die Auseinandersetzung über diese Fragen ist unvermeidlich. Das hat nichts mit der Negierung von Erfolgen und erst recht nichts mit Ehrabschneidung zu tun.
Ich sage das auch vor dem Hintergrund der unerfreulichen Debatte am gestrigen Nachmittag. Herr Minister Schönbohm, Sie können von der linken Opposition nicht im Ernst erwarten, daß sie die Kritik des Bundestagspräsidenten an Ihnen einfach links oder rechts liegen läßt. 5 Und Sie können auch nicht wirklich erwarten, daß wir gewisse neuerdings wieder zitierte frühere Äußerungen von Ihnen zur Ausländerfrage bei der Beurteilung Ihrer Politik einfach vergessen. 6
(Vereinzelt Beifall bei der PDS)

Sie können auch nicht erwarten, Herr Minister, daß wir vergessen, wie Sie sich - darüber haben wir ja auch gelegentlich öffentlich gestritten - in der CDU-Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft engagiert haben, eine Kampagne, die damals von der übergroßen Mehrheit dieses Hauses als Bestärkung des fremdenfeindlichen Ressentiments verurteilt worden ist. 7
(Beifall bei der PDS - Minister Schönbohm: Aber nicht von den Bürgern in Hessen!)

Na gut, ich bin im Moment in Brandenburg, Herr Minister.
Wir erstreben mit unserem Antrag ein gemeinsames deutliches Zeichen aller drei großen Fraktionen. Wir halten das aus den Gründen, die ich schon dargestellt habe, für notwendig. Aber wir müssen uns schon gegenseitig in Kritik begegnen, und da sind Sie ja auch nicht gerade fein, Herr Minister.
Ich will bei dieser Gelegenheit auch mit Blick auf die gestrige Debatte aber eines deutlich sagen: Unser Feindbild heißt nicht Schönbohm. Unser Feindbild beginnt da, wo schwarz-rot-golden aufhört und schwarz-weiß-rot beginnt. Damit das ganz klar ist!
(Beifall bei der PDS)

Vizepräsident Habermann: 8 Herr Abgeordneter Prof. Dr. Schumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Prof. Dr. Schumann (PDS):
Selbstverständlich.

Vizepräsident Habermann: Bitte schön, Herr Abgeordneter Petke. 9

Petke (CDU): Herr Prof. Dr. Schumann, nicht von den eigenen Reihen: Können Sie mir erklären, was das Sachleistungsprinzip für Asylantragsteller in Deutschland, was eine Unterschriftensammlung gegen ein Gesetzesvorhaben der Bundesregierung, was all das mit den schlimmen Übergriffen auf Ausländer, die in Deutschland leben, zu tun hat?
(Widerspruch bei der PDS)

Oder sehen Sie die Täter in den Reihen der CDU oder in den Reihen der Landesregierung?

Prof. Dr. Schumann (PDS):
Ach, Herr Kollege Petke, wir können doch jetzt keine Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft und über die CDU-Kampagne führen. Lesen Sie doch einfach mal in den Protokollen der betreffenden Landtagssitzungen nach und denken Sie dann darüber nach, warum damals die große Mehrheit des Hauses gegen die CDU diese Verurteilung vorgenommen hat. Vielleicht leuchtet Ihnen das dann ein?
(Beifall bei der PDS - Petke [CDU]: Was hat das miteinander zu tun?)

Ich war bei dem Punkt, Herr Minister, Ihnen zu erklären, daß unser Feindbild nicht Schönbohm heißt. Mir liegt sehr viel daran, daß das deutlich wird. Mir liegt auch sehr viel daran, deutlich zu machen, daß wir uns an der geschickten Inszenierung von Sündenböcken nicht beteiligen werden, schon deshalb nicht, weil wir da gebrannte Kinder sind. Darauf können Sie sich verlassen.
(Lachen bei der CDU - Zuruf von der CDU: Brandstifter!)

Sie können uns gelegentlich Populismus vorwerfen, meine Herrschaften von der CDU, ich will Ihnen aber eines sagen, und das sage ich Ihnen wirklich in großem Ernst: Wenn Sprecher der Koalition und auch Minister glauben, uns bei dieser Gelegenheit mit der DVU 10 verkneten zu können, wird diesem Parlament eine sehr unerfreuliche Zeit bevorstehen. Sie wissen ganz genau, wie uns das verletzt. Sie wissen ganz genau, was das für uns bedeutet.
(Zurufe von der CDU)

Wenn Sie dies tun, beschädigen Sie nicht nur die PDS - das kriegen wir schon hin, das halten wir aus -, sondern wenn Sie uns in eine Situation bringen, in der wir dieser Verknetung nur entgehen können, indem wir die Regierung loben und beklatschen, dann beschädigen Sie das Institut der Opposition und damit die Grundlagen der Demokratie in diesem Lande!
(Beifall bei der PDS)

Lassen Sie diese Spielchen! Die Verantwortung, die Sie damit übernehmen, können Sie nicht schultern!
(Zurufe von der CDU)

Meine Damen und Herren, auf dieser Geschäftsgrundlage gibt es auch gegenüber der Öffentlichkeit keine glaubwürdige gemeinsame Erklärung oder Verlautbarung der demokratischen Parteien in der Frage, mit der wir uns heute beschäftigen. Aber diese Gemeinsamkeit ist notwendig, wenn wir diese entsetzliche Landplage des Rechtsextremismus und der fremdenfeindlichen Gewalt in diesem Lande wirklich überwinden wollen.
(Beifall bei der PDS)

Ich stimme den Ergänzungsvorschlägen des Herrn Präsidenten zu. Wir werden auch seiner Antragsfassung zustimmen. - Danke schön.
(Beifall bei der PDS)

Michael Schumann - 24. 12. 1946 - 2. 12. 2000, Philosoph, Prof. Dr.; 1990 Mitglied der frei gewählten Volkskammer der DDR und kurzzeitig des Deutschen Bundestages, 1990 - 2000 innenpolitischer Sprecher der PDS-Fraktion im Landtag Brandenburg, Dezember 1989 - 2000 Mitglied des Parteivorstandes der PDS (von Dez. 1989 bis Febr. 1990 der SED-PDS), Vorsitzender des Kuratoriums der Rosa-Luxemburg-Stiftung; am 16. Dezember 1989 auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED mit dem Vortrag des Referats "Zur Krise in der Gesellschaft und zu ihren Ursachen, zur Verantwortung der SED", das dann unter dem Titel "Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!" bekannt wurde, ins politische Rampenlicht getreten.

Die Redaktion "UTOPIE kreativ" erinnert mit dem Abdruck der vorliegenden Parlamentsrede im Landtag Brandenburg vom 21. September 2000, an den Politiker und Wissenschaftler Michael Schumann, der über viele Jahre hinweg auch zum Autorenkreis der Zeitschrift gehörte. Der Abdruck folgt der Fassung und - leicht gekürzt - auch der Kommentierung, wie sie unter der Überschrift "Gegen Rechtsextremismus und fremdenfeindliche Gewalt - für ein tolerantes und weltoffenes Brandenburg" enthalten ist in: Wolfram Adolphi (Hrsg.): Michael Schumann. Hoffnung PDS. Reden, Aufsätze, Entwürfe 1989-2000. Mit einem Geleitwort von Lothar Bisky, Bd. 12 der Reihe ›Texte‹ der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 231-237.

1 Vgl. Plenarprotokoll 3/21 (3. Wahlperiode) des Landtages Brandenburg vom 21. September 2000. Der Antrag trägt die Drucksachennummer 3/1700.

2 Johannes Rau: Gewalt und ihre Ursachen bekämpfen. Wer Gewalt verhindern will, muß ihre Ursachen verstehen, in: Süddeutsche Zeitung, München, 8. September 2000.

3 MEGA ist "Mobile Einsatzgruppe gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit".

4 Gemeint ist ein Interview mit Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe, das in "Die Zeit", Hamburg, Nr. 38/2000 unter der Überschrift "Ich wollte es nicht wahrhaben" abgedruckt wurde. Zum breiten Echo dieses Interviews vgl. auch "Die Welt", Hamburg, v. 21. September 2000. Den Text des Interviews siehe auch unter www.aktiv-gegen-rechts.de.

5 Laut "Der Spiegel", Hamburg, Nr. 37/2000 hatte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm, zugleich stellvertretender Ministerpräsident und CDU-Landesvorsitzender, in einem Brief vorgeworfen, daß "mit Billigung offizieller brandenburgischer Stellen" rechtsextremistische Gewalttäter ihre Ziele erreichen würden. Dies sei eine "verheerende Situation". Schönbohms Ministerium würde "die Konsequenzen rechtsextremistischer und rassistischer Vorfälle nicht nur hinnehmen, sondern sogar nutzen." Anlaß des Briefes war der Fall eines der Opfer der "Hetzjagd von Guben", bei der am 13. Februar 1999 drei Asylbewerber von rechtsextremistischen Männern durch die brandenburgische Stadt gejagt worden waren und einer der Gejagten beim Sprung durch eine Glastür ums Leben gekommen war. Dem nun Gemeinten, der die Hetzjagd überlebt hatte, war durch das Ministerbüro ein dauerhaftes Bleiberecht versagt worden, weil er durch die bei der Hetzjagd erlittene Traumatisierung nur "bedingt in der Lage sein (werde), sein Leben eigenständig zu meistern." Eine ähnliche Entscheidung hatte das Ministerium im Falle eines ägyptischen Bürgers getroffen: Er war, nachdem seine Pizzeria in Elsterwerda bei einem Brandanschlag in Flammen aufgegangen war, mit der Begründung abgeschoben daß seine Aufenthaltsbefugnis an die Betreibung des Betriebes gekoppelt sei.

6 Als Innensenator im SPD-CDU-Senat von Berlin hatte Jörg Schönbohm z. B. am 2. Juni 1998 in der "BZ" erklärt, es gebe in Berlin "Gebiete", in denen man sich "nicht in Deutschland" befinde. Solche "Ghettos" müßten "aufgelöst" werden. Islamischer Religionsunterricht sei nicht angezeigt, denn "der Unterricht im Christentum, den wir geben ", gebe "das christlichabendländische Erbe weiter, auf dem unsere Kultur ganz stark beruht." Die Auszahlung von Sozialhilfe solle gekürzt werden, wenn keine deutschen Sprachkenntnisse bestünden. "Multikulti " sei ein Kampfbegriff der 60er Jahre, der jede Integration verhindere. - Die Äußerungen hatten scharfen Widerspruch hervorgerufen. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin, Andreas Nachama, hatte im Tagesspiegel vom 10. Juni 1998 darauf hingewiesen, daß Berlin längst eine multikulturelle Stadt sei, und gefragt, ob der Innensenator "statt Berlin 2000 vielleicht doch lieber ›Germania 2000‹" anstrebe - "jenes gescheiterte Konzept, von dem es zum Glück nur noch ein architektonisches Modell aus der Zeit des Dritten Reiches gibt"? Nachama forderte, Schönbohm müsse "beherzt für ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht nach dem Prinzip des Geburtsortes - dem ›ius soli‹ - eintreten." Der Vorstand des "Türkischen Bunds" hatte im Tagesspiegel vom 14. Juni 1998 kritisiert, Schönbohm wolle "mit einer den rechtsradikalen Parteien entlehnten Terminologie Menschen aus ihren Wohnbezirken vertreiben." Es sei aber endlich an der Zeit, zu begreifen, daß sich die Einwanderer in Deutschland "auf Dauer niedergelassen " hätten, und dieser Zustand sei "zumindest mit demokratischen Mitteln nicht mehr umkehrbar." Es müsse Schluß sein, "unsere Zukunft über das ›Blutsrecht‹ zu definieren." (vgl. die Dokumentation der Auseinandersetzung unter www.antifaschistische- nachrichten.de.).

7 Gegen die in der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Herbst 1998 vorgesehene Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts mit dem zentralen Projekt einer doppelten Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern waren während des Landtagswahlkampfes in Hessen (die Wahlen fanden am 7. Februar 1999 statt) CDU und CSU gemeinsam mit einer Unterschriftenkampagne zu Felde gezogen, die eine deutliche Ermunterung ausländerfeindlicher Stimmungen zur Folge hatte.

8 Martin Habermann (CDU).

9 Sven Petke, innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion.

10 Die rechtsextreme DVU war bei den Wahlen im September 1999 erstmals in den Landtag Brandenburg gewählt worden. Aktuelle Ergänzung der Redaktion: Im September 2004 konnte sie ihr Ergebnis von 1999 mit 6 Prozent der Stimmen und 6 Landtagssitzen wiederholen.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 170 (Dezember 2004), S. 1114-1118

 

aus dem Inhalt:

VorSatz; Konkrete Utopie Godwin zum Nachdenken; PDS 1989 bis 2004 DETLEF NAKATH, GERD-RÜDIGER STEPHAN: Vor 15 Jahren: Bruch mit dem "Stalinismus als System" Kollektiver Rücktritt der SED-Führung - Zeitweiliger Arbeitsausschuss - Sonderparteitag; MARIO KESSLER: Aufstieg und Fall des Staatssozialismus. Helmut Bocks Dokumentation; ANDRÉ BRIE: Strategische Konsequenzen aus den PDS-Wahlkämpfen 2004; GESINE LÖTZSCH: Zukunft konkreter Politik; CHRISTINE OSTROWSKI: PDS und Bürgernähe; CLAUDIA GOHDE: Den Tiger reiten.Vom Umgang mit den Organisationsdilemmata in der PDS; MICHAEL SCHUMANN: Gegen Rechtsextremismus. Eine Parlamentsrede; WILLIBALD JACOB: Neoliberale Lebensweise und christlicher Glaube sind unvereinbar. Ein Wort zu Bischof Dr. Wolfgang Huber; Medien & Gesellschaft DORIS KATHEDER: Sexy Konkurrenz. Die Versprechen der Warenwerbung in Mädchenzeitschriften; Standorte JOACHIM HIRSCH: Kommentar zum VorSatz 168; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Franz Oswald: The Party That Came Out of the Cold War. The Party of Democratic Socialism in United Germany (Die Partei, die aus dem Kalten Kriege kam. Die PDS im vereinigten Deutschland), Jürgen P. Lang: Ist die PDS eine demokratische Partei? Eine extremismus-theoretische Untersuchung (WOLFRAM ADOLPHI); Eske Bockelmann: Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens (THOMAS TETZNER); Bernd Hüttner: Archive von unten. Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände (ECKART SCHÖRLE); Martin Held, Gisela Kubon-Gilke, Richard Sturn (Hg.): Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik, Jahrbuch 1 (ULRICH BUSCH); Gerald Oberansmayr: Auf dem Weg zur Supermacht. Die Militarisierung der Europäischen Union (STEFAN BOLLINGER); Alexander Jakowlew: Die Abgründe meines Jahrhunderts. Eine Autobiographie (ROLF SEMMELMANN); Summaries