Für eine Säkularisierung der Schule

Warum das staatliche Neutralitätsgebot so wichtig ist

in (10.08.2004)

Durch die rassistischen Untertöne der Kopftuch-Debatte alarmiert befürworten viele Linke, dass Lehrer/innen im Unterricht religiöse Symbole, somit auch ein Kopftuch tragen dürfen.

Dies sei Ausdruck der Integration von muslimischen Lehrerinnen. Es geht aber nicht nur darumn, islamfeindliche Haltungen abzuwehren oder sich für die Grundrechte von Lehrer/innen einzusetzen. Es ist vielmehr notwendig, den Konflikt unter dem Aspekt des staatlichen Neutralitätsgebots genauer zu beleuchten und einer weiteren Durchbrechung der Trennung von Religion und Staat entgegenzutreten.

Ist die Kleidung einer Lehrperson überhaupt eine staatliche Veranstaltung?
Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob die religiöse Kleidung von einzelnen Lehrer/innen überhaupt eine Verlet-zung des staatlichen Neutralitätsgebots darstellen kann. Da es ja unterschiedlich religiöse Lehrer/innen gebe, könne von einem einseitigen Bekenntnis des Staates keine Rede sein. Zudem sei in einer demokratischeren Schule als der jetzigen eine Indoktrination der Schüler/innen nicht zu befürchten.
Eine solche Argumentation übersieht den tieferen Sinn des staatlichen Neutralitätsgebots. Würde die gleiche Problematik bei Richter/innen oder Polizist/innen diskutiert, würde schneller deutlich, dass das staatliche Neut-ralitätsgebot nicht allein dazu dient, die religiöse Indoktrination von Schüler/innen zu verhindern. Staatliche Handlungen sollen vielmehr so erfolgen, dass aus ihnen keine Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung abzulesen ist. Dahinter steht die Vorstellung eines säkularen Staates, in dem Religion reine Privatsache ist. Dass das Grundgesetz einige ausdrückliche Durchbrechungen enthält (zB Reli-gionsunterricht), ist ein Problem, ändert aber an dem säkularen Grundgedanken des Neutralitätsgebotes nichts. Gegen dieses Gebot verstößt bereits die einzelne Lehrperson, die während des Unterrichts, d.h. bei der Umset-zung des staatlichen Erziehungsauftrages, ihre religiöse Gebundenheit deutlich werden lässt. Übrigens würde daran die Abschaffung des Beamtentums nichts ändern. Denn solange wir ein staatliches Schulsystem befür-worten, wird es sich bei Lehrer/innen um staatliche Angestellte handeln, die zur Aufrechterhaltung eines säku-laren Schulbetriebs Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit hinnehmen müssen.

Abgrenzung zu reaktionären Ausprägungen des Neutralitätsgebots
Damit ist ein Bereich angesprochen, der für viele Linke mit unangenehmen Assoziationen verbunden ist. Wird den Beamt/innen mit Verweis auf die staatliche Neutralitätspflicht doch häufig ein politischer Maulkorb aufer-legt. So nutzt Niedersachsen die derzeitige Debatte, um neben einem Kopftuch-Verbot auch gleich solche poli-tischen Äußerungen zu untersagen, die "geeignet sind, den Schulfrieden zu gefährden". In diesem Fall gilt es aber, "politische" und "religiöse/weltanschauliche" Neutralität auseinander zu halten. Erstere ist als Ausdruck der "althergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums" in den Beamtengesetzen speziell geregelt. Die For-derung nach "politisch neutralen" Lehrer/innen ist reaktionär, da sie auf eine über die Einhaltung der Lehrplä-ne hinausgehende Loyalitätspflicht abzielt. Demgegenüber hat das religiös/weltanschauliche Neutralitätsgebot einen progressiven Inhalt: es sichert die Säkularität staatlichen Handelns.
Die Abgrenzung mag im Einzelfall schwierig sein. Als Richtschnur lassen sich religiöse Inhalte daran erken-nen, dass sie sich der demokatischen Entscheidungsfindung entziehen. Vereinfacht gesagt lässt sich die Exis-tenz Gottes nicht durch Mehrheitsbeschluss festlegen, die Aussage "Atomkraft, nein danke!" dagegen schon.

Wo sollÂ’s denn hingehen?
Wie soll sich also die Linke in einer Debatte positionieren, in der es laut Bundesverfassungsgericht um die "Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule" und damit in der Gesellschaft geht? Ausschlaggebend kann nicht sein, mit welchen Motiven das Kopftuchverbot weitläufig begründet wird. Denn die Abwehr rassistischer Ressentiments darf nicht dazu führen, dass wir die Forderung nach einer Säku-larisierung der Schule aufgeben. Dies kann auch nicht dadurch aufgewogen werden, dass eine Zulassung von religiösen Symbolen an den Schulen zu einer Stärkung von Pluralismus und religiöser Toleranz führen würde. Alles Aspekte, die - zugegeben - angesichts der derzeitigen Debattenlage nicht oft genug betont werden kön-nen. Langfristig gilt es aber, auf eine konsequentere Trennung von Staat und Religion hinzuarbeiten, als sie derzeit verwirklicht ist. Dass die derzeitige Praxis eine offensichtliche Bevorzugung christlicher Bekenntnisse bedeutet, ist ja innerhalb der Linken unstrittig. Nicht aber in der öffentlichen Meinung. Durch eine Forderung nach konsequenter Umsetzung der staatlichen religiösen Neutralität wird die christliche Privilegierung stärker angegriffen als durch eine Zulassung von anderen Glaubenszeichen. Damit wird deutlich gemacht, dass der Einfluss der Kirchen vor den Schultoren endet.

[Debatte: Kopftuchverbot
Vor dem Hintergrund der aktuellen öffentlichen Debatte um ein Kopftuchverbot im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Fall Ludin erscheinen in dieser Ausgabe der tendenz zwei Debattenbeiträge zum Thema. Diese Beiträge stellen keine Verbandspositionen von JD/JL dar. Eine Beschlussfassung zum Thema erfolgt aller Voraussicht nach auf der Bundesdelegiertenkonferenz der JD/JL Ende März 2004, und ist ab Mitte April über die Homepage www.jdjl.org einsehbar.]