Doch keine Revolution

Länderbericht Brasilien

in (10.06.2004)

Als Luiz Inácio Lula da Silva am 1. Januar 2003 als neuer Präsident Brasiliens antrat, wurde er nicht nur in seinem Land gefeiert.

Insbesondere die globalisierungskritische Linke sah in ihm eine echte Alternative zu den vorherrschenden neoliberalen Staatsregierungen. Der Wahlsieg des ehemaligen Metallarbeiters aus einer armen Migrantenfamilie mit über 61% war ein historischer Einschnitt. Selten hat eine linke Partei wie die sozialistische Arbeiterpartei PT ein solches Ergebnis erzielt.

Inzwischen ist die Lula-Euphorie in der brasilianischen wie der internationalen Linken abgeebbt. Linke Intellektuelle, Umweltverbände und der von der PT dominierte studentische Dachverband sind in die Opposition gegangen. Sowohl der kleinere, linke Parteiflügel der PT als auch der größte Gewerkschaftsdachverband CUT mobilisieren gegen die Renten- und Arbeitsmarktpolitik der Regierung, die von der Lockerung des Kündigungsschutzes über die faktische Senkung der Reallöhne bis zur Heraufsetzung des Renteneintrittsalters um 10 Jahre reicht. Die Zahl der Landbesetzungen durch die Landlosenbewegung MST ist seit dem Regierungswechsel sogar stark angestiegen.

Doch nicht nur Linke haben ihre Meinung über den ehemaligen Gewerkschafts- und Streikführer geändert. Als sich ein möglicher Wahlsieg Lulas und seiner Arbeiterpartei PT abzeichnete, reagierten die internationalen Finanzmärkte zuerst allergisch, die brasilianische Währung Real verlor rapide an Wert. Das veranlasste Lula noch im Wahlkampf, die Einhaltung aller internationalen Verträge und insbesondere der harten Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu versprechen. Dies bekräftigte er u.a. durch die Kandidatur mit José Alencar, Milliardär und Großunternehmer der Textilbranche, als Vizepräsident. Inzwischen ist die Stimmung in der Finanzwelt umgeschwungen. The Economist forderte in Anspielung auf den venezolanischen Präsidenten: "Mehr Lula, weniger Chavez!", die FAZ nannte ihn den "neuen Liebling der Börsen".

Allerdings steht Lula vor einer denkbar schwierigen Aufgabe: Auf der einen Seite muss Brasilien weiter die Auslandsschulden bezahlen, auf der anderen Seite soll mehr in Sozialprogramme investiert und mehr soziale Gerechtigkeit erreicht werden. Der Weltmeister im Herrenfußball gehört zu den Ländern mit der größten Kluft zwischen Arm und Reich. Der rechts-sozialdemokratische Amtsvorgänger Lulas, Fernando Henrique Cardoso, hat eine steigende Arbeitslosigkeit, zunehmende Armut, schlechte Gesundheitsversorgung und Trinkwassernotstand hinterlassen.

Prominentestes Beispiel Lulas Sozialpolitik heißt: "Fome Zero". Dieses Hungerbekämpfungsprogramm erreicht zwar bisher nur einen Teil der vom Hunger betroffenen Familien. Es sichert jedoch mehreren Millionen den regelmäßigen Zugang zu Grundnahrungsmitteln und ist damit definitiv mehr als nur symbolisch.

Im Januar 2004 integrierte Lula durch eine Kabinettsumbildung die rechts-konservative Zentrumspartei in die Regierung, um seine Parlamentsmehrheit weiter zu sichern, während vier PT-Abgeordnete, die gegen die Rentenreform gestimmt hatten, ausgeschlossen wurden.
Die erweiterte "Links-Mitte-Rechts-Allianz" dürfte die versprochene Umverteilung von Einkommen und Land noch schwieriger machen. Der scharfe Sparkurs, den der Staatschef verordnet hat, um die Finanzmärkte zu beruhigen, ist daran nicht unschuldig, doch darf man in Brasilien weder Revolutionen noch Wunder erwarten.