Wohlfeile Keule und geistige Selbstverstümmelung

Zwei neue Bücher mit "linkem" Antiamerikanismus-Vorwurf

Sowohl der Antisowjetismus-Vorwurf als auch der Antiamerikanismus-Vorwurf beziehen ihre Wirkung daraus, daß ganz bewußt nicht beschrieben wird, worauf das "Anti" denn eigentlich gerichtet ist.

Zu den machtpolitisch plausibelsten, für die Menschen verheerendsten und zugleich absurdesten, weil von Beginn an immer auch selbstzerstörerischen ideologischen Konstruktionen, mit denen nach 1945 in Nachkriegs-Ostdeutschland die Sowjetunion als Besatzungsmacht und "Großer Bruder" wie auch die SED- und DDR-Führung über Jahrzehnte hinweg ihre Macht absicherten, gehörte der Antisowjetismus-Vorwurf. Seine Wirkung bezog er aus mindestens drei - und zwar sehr unterschiedlichen - Faktoren. Der erste - "von oben" durchgesetzt - bestand in der Willkür und Unberechenbarkeit, mit der er von den Herrschenden in Anwendung gebracht wurde. Der zweite - "von oben" und "von unten " sich speisend - war die "revolutionäre Disziplin", mit der Tausende antifaschistische Widerstandskämpfer in ihrem durch überreichliche persönliche Erfahrung gestützten Bestreben, ein Wiedererstarken des Faschismus unter keinen Umständen zuzulassen, einen solchen willkürlichen Umgang mit dem Antisowjetismus-Vorwurf mittrugen, ihm mit ihrer Autorität zusätzliches Gewicht verliehen und ihn selbst dann noch akzeptierten und erduldeten, wenn er - was ja nicht selten vorkam - gegen sie selbst gerichtet war. Und der dritte dieser Faktoren schließlich - vor allem "von unten" kommend - bestand in der Überzeugung vieler ganz "normaler" Mitläufer des nazi-faschistischen Systems, daß Wiedergutmachung nötig war und im Rahmen dieser Wiedergutmachung nach einem außergewöhnlich grausamen Vernichtungskrieg auch außergewöhnliche Maßnahmen der Disziplinierung ihre Berechtigung hatten und hingenommen werden mußten. Mit aller Schärfe spiegelt der Einsatz des Antisowjetismus-Vorwurfs so die tragische und dramatische Doppelgesichtigkeit der Sowjetunion als Befreierin des deutschen Volkes vom Faschismus auf der einen und als keinen Widerspruch duldende Durchsetzerin eigener Machtinteressen auf der anderen Seite, und mit eben solcher Schärfe spiegelt er auch die Deformierung, ja Selbstzerstörung kommunistischer und antifaschistischer Ideale in einer vom Stalinismus geprägten Partei.

Es ist hier nicht der Platz, dieses Thema in seiner ganzen Komplexität auszuleuchten. Die Literatur dazu füllt viele Regale. Tausendfach ist dokumentiert und beschrieben worden, wie schnell man in der unmittelbaren Nachkriegszeit für "antisowjetische" Bagatellvergehen in Konzentrationslager der sowjetischen Besatzungsmacht in Deutschland oder nach Sibirien verbracht werden konnte. Solche drastischen Folgen gab es später in der DDR nicht mehr. Aber bis in die achtziger Jahre hinein blieb der Antisowjetismus-Vorwurf ein erheblicher, und immer gleich blieb die Methode: Gesehenes, Erfahrenes, Erlebtes durfte nicht erzählt, nicht reflektiert werden, es hatte unterdrückt zu bleiben, weil von Staats und Partei wegen die Rolle der Sowjetunion als Sieger- und Befreiungsmacht im Zweiten Weltkrieg und als Führungsmacht des "sozialistischen Lagers" als etwas all dies Überwölbendes, gleichsam Ewiges und Unantastbares geltend gemacht wurde. Die Warnung vor dem antiemanzipatorischen, anti-aufklärerischen und anti-demokratischen - und damit für alle sozialistischen und kommunistischen Ziele und Vorhaben selbstzerstörerischen - Wesen dieser Politik wurde auch für nicht wenige Antifaschisten und Kommunisten zum Verhängnis.

Vergleichsverzicht, Definitionswirrwarr, Gesinnungsprüfung
Warum dieser Exkurs am Beginn eines Aufsatzes, in dem es doch eigentlich um den Antiamerikanismus-Vorwurf gehen soll? Und zwar am Beispiel zweier Bücher, die im Jahre 2003 als Antwort auf die Absage der Bundesregierung an eine Teilnahme am Irak-Krieg der USA und auf die Anti-Kriegs-Demonstrationen in Deutschland in sich "links" verortenden Verlagen erschienen sind und in der großen Mehrheit der in ihnen versammelten Beiträge die Erhebung und ausführliche Ausmalung dieses Vorwurfs samt scharfer Diskreditierung derjenigen, die sie mit ihm bedenken, zum Gegenstand haben - nämlich Nichts gegen Amerika. Linker Antiamerikanismus und seine lange Geschichte aus dem Konkret Literatur Verlag und Amerika. Der "War on Terror" und der Aufstand der Alten Welt von ça ira?1Weil es erstaunlich ist, daß in den insgesamt - unter Hinzurechnung der beiden Einleitungen - 25 Texten dieser beiden Bände niemand den doch eigentlich naheliegenden Vergleich zwischen dem Antiamerikanismus-Vorwurf von heute und dem Antisowjetismus-Vorwurf von gestern überhaupt nur in Erwägung zieht.

Woran liegt das? Ganz gewiß auch daran, daß die Herausgeber - bei Nichts gegen Amerika zeichnet Michael Hahn als solcher verantwortlich, bei Amerika sind es Thomas Uwer, Thomas von der Osten-Sacken und Andrea Woeldike - es vorgezogen haben, bei der Suche nach Autorinnen und Autoren nur die ihnen gewohnten, im Westen liegenden Gefilde abzugrasen und auf eine wissenschaftlich fundierte "Ostsicht" auf die Dinge zu verzichten.2 Das ist ein weiteres Indiz für die leider auch bei der westdeutschen Linken in all ihren Schattierungen noch immer häufig anzutreffende Unfähigkeit, zu begreifen, daß mit dem Zusammenbruch der DDR auch die alte Bundesrepublik Deutschland von der Bildfläche verschwunden ist und es darum bei der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse im nunmehr entstandenen neuen Deutschland nicht ausreicht, einfach nur die Erfahrungen und Sichten der einen - westlichen - Seite fortzuschreiben und auf ganz Deutschland auszudehnen, sondern daß - will man ein zeitgemäßes Gesamtbild gewinnen - auch die östlichen Erfahrungen und Sichten hineingenommen werden müssen. Was selbstverständlich einschließt, die Lern- und Aufarbeitungsprozesse der Ex-DDR-Linken nicht einfach nur als Ritual von Leuten aus einer fremden Welt abzutun, sondern als Teil gemeinsamer deutscher Geschichte zu begreifen.

Ist man bereit zu einem solchen Herangehen, ergeben sich zwangsläufig ganz andere Fragestellungen und Bewertungen als die, die in den beiden hier vorliegenden Bänden angeboten werden. Natürlich geht es - ist es wirklich notwendig, das zu betonen? - bei dem von mir eingeforderten Vergleich zwischen Antisowjetismus-Vorwurf auf der einen und Antiamerikanismus-Vorwurf auf der anderen Seite tatsächlich um einen Vergleich und nicht um eine Gleichsetzung, und bei einem solchen Vergleich ist selbstverständlich sofort geltend zu machen, daß, wer in Deutschland heute des Antiamerikanismus geziehen wird, keineswegs mit Deportation oder Gefängnisstrafen zu rechnen hat, wie das im Falle des Antisowjetismus-Vorwurfs in der DDR lange der Fall war. Aber geistige Enge und Selbstbeschränkung werden dazu führen, es bei dieser einen Ebene der Beurteilung bewenden zu lassen! Das Problem ist doch viel komplexer - und offenbart bei gründlicherer Befassung eben sehr rasch, daß es nicht nur randständige, sondern zentrale, wesentliche Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Vorwürfen gibt.

Zum Beispiel die, daß sowohl der Antisowjetismus-Vorwurf als auch der Antiamerikanismus-Vorwurf ihre Wirkung entscheidend daraus beziehen, daß von denen, die ihn zur Anwendung bringen, ganz bewußt nicht beschrieben wird, worauf das "Anti" denn eigentlich gerichtet ist. Der Begriff "Sowjetismus" existierte praktisch nicht - so wie auch der Begriff "Amerikanismus" von den Bekämpfern des "Antiamerikanismus " tunlichst umgangen wird. Der zu den bekanntesten ostdeutschen Gesellschaftsanalytikern der Generation der um die 50jährigen zählende Philosoph Michael Brie hat auf diesen Zusammenhang im Frühjahr 2002 bereits einmal sehr deutlich hingewiesen (ohne freilich von den Autorinnen und Autoren von Nichts gegen Amerika und Amerika mit Ausnahme von Ivo Bozic überhaupt zur Kenntnis genommen worden zu sein). Indem man ständig über Antiamerikanismus spreche, könne man - so Brie - "über den herrschenden Amerikanismus schweigen und ihn genau dadurch stillschweigend durchsetzen". Und weiter: "Das Wesentliche " werde "gegen Analyse wie Kritik immun, indem es unsichtbar gemacht " werde. "Jeder Versuch, hinter den Nebelvorhang vorzudringen", werde "als Tabubruch, als Antiamerikanismus denunziert". Das heißt: "Die Vorsilbe ›Anti‹ lenkt weg von dem, worüber man eigentlich Auskunft haben müßte, um den Inhalt des Antiamerikanismus bestimmen zu können - nämlich den Amerikanismus."3

Die Parallelen sind unübersehbar: Beim Sowjetismus wie beim Amerikanismus handelte bzw. handelt es sich um Politikströmungen mit der Funktion der Durchsetzung imperialen Vormacht- und Führungsanspruchs. Aber indem diese an sich klaren Begriffe vermieden und dadurch fast aus dem Bewußtsein getilgt wurden und werden, wird das "Anti" von ihnen losgelöst, und so erscheinen "Antisowjetismus" oder "Antiamerikanismus" plötzlich in ganz anderen Bedeutungen. Nicht gegen den Amerikanismus sehen die Autorinnen und Autoren, die in Nichts gegen Amerika und Amerika den Antiamerikanismus-Vorwurf erheben, den Antiamerikanismus gerichtet, sondern gegen "Amerika" - womit sie die USA meinen -, gegen "die Amerikaner", gegen "alles Amerikanische". Hatten wir - siehe oben! - alles schon: Als Antisowjetismus galt jede Kritik an der Sowjetunion, an "den Russen", an "allem Sowjetischen".

Zwei Autoren in Nichts gegen Amerika akzeptieren den Amerikanismus- Begriff und setzen sich mit ihm auseinander: Frank Illing in seinem Aufsatz Paranoia, Projektion, Personifizierung. Zu einigen vorschnellen Gleichsetzungen von europäischem Antisemitismus und Antiamerikanismus4 und Leonard Zeskind in einem Beitrag, der mit Noam Chomsky und die Dixie Chicks. Zwei Seiten des Amerikanismus und des Antiamerikanismus in den USA überschrieben ist.5 Prompt heben sich diese beiden Texte an Gründlichkeit und Ernsthaftigkeit auch wohltuend von den anderen Beiträgen ab.

Bei den anderen entstehen in der Folge des Verzichts darauf, den Begriff des Antiamerikanismus an den des Amerikanismus zu binden, abenteuerliche Definitionsversuche. Herausgeber Michael Hahn, der zu seinem Band Nichts gegen Amerika nicht nur die Einleitung verfaßte, sondern auch gleich noch drei weitere Aufsätze beisteuerte,6die Texte von Illing und Zeskind aber offensichtlich gar nicht richtig zur Kenntnis genommen hat, "behilft" sich - nachdem er ohne ein erkennbares Konzept alle möglichen Äußerungen aus Politik und Wissenschaft zum Stichwort "Antiamerikanismus" aneinandergereiht und zum Teil verworfen, zum Teil mit Zustimmung bedacht hat, - "für die Zwecke dieser Untersuchung von linken Spielarten des Antiamerikanismus (...) mit der folgenden Arbeitshypothese": "Linker Antiamerikanismus will einen bestimmten Nationalstaat (die USA) für das Elend verantwortlich machen, das der Kapitalismus als gesamtgesellschaftliches - und weltweites - Verhältnis anrichtet. Begünstigt wird dies durch ein ›antiimperialistisches‹ Weltbild, das die Welt vereinfachend in ›gut‹ und ›böse‹ aufteilt. Dabei werden die kritisierten Mängel durch kulturalistische Zuschreibungen mit dem ›Wesen‹, dem ›nationalen Charakter‹ der USA erklärt (›typisch amerikanisch!‹, ›American way of life‹). Gleichzeitig werden die Zustände im eigenen Land ignoriert, relativiert oder gar beschönigt " (Nichts gegen Amerika, S. 18/19).

Eine solche Mischung aus Beobachtungen, Vermutungen und Unterstellungen klärt - man muß es deutlich sagen - nicht auf, sondern vernebelt und verunklart. Christian Stock kommt im gleichen Band nicht viel weiter, wenn er aus dem von ihm als "Standardwerk" bezeichneten Band "Feindbild Amerika" von Dan Diner folgende Argumentation herausarbeitet: Antiamerikanismus trete "nicht als geschlossene und sich auf den ersten Blick als solche zu erkennen gebende Weltanschauung auf", er könne darum nur "anhand von gegen Amerika in Stellung gebrachten Bildern, Emblemen und Metaphern" "entschlüsselt" werden, und immer habe man zu bedenken, daß "die dem antiamerikanischen Ressentiment entweichenden Zuschreibungen" als "Teil eines überaus zwiespältigen Wahrnehmungsgefüges" verstanden werden müßten, "in dem sich tatsächliche Vorkommnisse und andere Realien mit projektiven Anteilen zu einem undurchsichtigen Geflecht eines negativen Amerikabildes verdichten" (Nichts gegen Amerika, S. 81).7 Wahrlich: Das hätte der Verfasser einer auf die Bewahrung der "reinen Lehre" gerichteten "Handreichung zum Erkennen und Entschlüsseln von Antisowjetismus " nicht trefflicher formulieren können!

Angesichts des Wabernden, Unklaren in diesen Definitionsversuchen ist es Herausgeber Hahn wohl selbst ein wenig ungemütlich geworden, wenn er erklärt, daß sein Buch keine "Checkliste" liefern könne, anhand derer "sich einwandfrei festlegen ließe, ob ein bestimmter Text oder ein bestimmtes Plakat antiamerikanisch ist oder nicht", und daß man daher für eine Beurteilung des "Antiamerikanismus"-Gehalts einer Äußerung "immer den jeweiligen Kontext beachten" müsse: "Wer spricht? An wen richtet sich die Aussage? Welche Assoziationen werden hervorgerufen? Warum?" (Nichts gegen Amerika, S. 19). Und auch eine "Kritikberechtigung " räumt er ein mit den Worten, daß die Frage nicht sei, "ob Linke die militarisierte Außenpolitik, den Arbeitszwang für Sozialhilfebezieher oder die Todesstrafe in den USA kritisieren wollen, sondern wie", und daß man "begründete Kritik" sorgfältig trennen müsse "vom bloßen antiamerikanischen Ressentiment" (S. 12).

Was aber sind die Maßstäbe dafür, daß das eine "begründete Kritik" ist und das andere nicht? Da muß man schon sehr viel deutlicher werden, als Hahn dies tut, und die Dinge an Realitäten und Fakten binden, sonst verfängt man sich schnell in Methoden der beckmesserischen Gesinnungsprüfung, wie sie Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre in den USA Leute wie Joseph McCarthy anwandten, um gegen Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Thomas Mann und viele andere mit dem Vorwurf des "unamerikanischen Verhaltens" zu Felde zu ziehen. Und Hahn selbst hat ja im Herbst 2002 schon ein im wahrsten Sinne des Wortes schlagendes Beispiel dafür geliefert, wie schnell man bei einem solchen Herangehen der offensichtlich allzu süßen Verlockung zum "Entschlüsseln " des "Einzelfalls" erliegen kann. Er nämlich war es, der - Peter Nowak hat es in einer kürzlich erschienenen und insgesamt erschreckend affirmativen Besprechung von Nichts gegen Amerika und Amerika in der Wochenzeitung Freitag geradezu genüßlich ausgebreitet - "kurz vor den letzten Bundestagswahlen (...) - damals noch als Lokalreporter des Schwäbischen Tagblattes - eine Wahlkampfrede der Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, in der sie US-Präsident Bush indirekt mit Hitler verglich, öffentlich machte," was zur Folge hatte, daß, "als sich die USMedien des Themas angenommen hatten, (...) die Ministerin nicht mehr zu halten" war.8In Nichts gegen Amerika geht er nur scheinbar sanfter zu Werke. Hart jedenfalls nimmt er sich im Text Vom Keulenschlag zum Schulterklopfen alle diejenigen vor, die er bei einer Infragestellung der ganzen "Antiamerikanismus"-Konstruktion "ertappt" hat: Micha Brumlik, Rudolf Walther, Reinhart Kößler, Henning Melber, Till Bastian, Ute Scheub, Frank Unger, Robert Misik, Rainer Rilling (S. 20-23).9

Ausblendung des Faktischen, Verzicht auf Problemhierarchien
Der Definitionswirrwarr geht einher mit einem ebenfalls für beide Bücher typischen Mangel an einem Grundgerüst der Kategorien und Problemhierarchien und mit einer weitgehenden Ausblendung des Faktischen.

Gegenstand der Betrachtung sind vor allem Deutungen, Ansichten, Meinungen. Hahn sagt es im Falle von Nichts gegen Amerika ganz direkt: "Dies ist also kein Buch über die USA (Hervorhebung i. O.), sondern eines über ihre linken Gegner" (S. 8). Mal ganz davon abgesehen, daß hier also stillschweigend die komplette Gleichsetzung von "Gegnern der USA" mit "Antiamerikanisten" vollzogen wird: Wie geht das zusammen mit der hier schon zitierten Hahn-Forderung nach Beachtung des "jeweiligen Kontexts"? Wie ist der zu finden ohne einen Bezug zum Faktischen, zur konkreten Politik und ihren konkreten Folgen?

Christa Wolf hat in den siebziger Jahren mit ihrem Roman "Kindheitsmuster" in der DDR so starkes Aufsehen erregt und so große Unruhe gestiftet, weil sie Autobiographisches aus dem "unpolitischen" Alltagslebens zur Zeit der Herrschaft des deutschen Faschismus geltend gemacht hat, das nicht in die ideologisierte Darstellung dessen, wie das Leben aus "offizieller" Sicht "politisch korrekt" zu sein hatte, paßte. Ich muß an diesen Roman denken, wenn ich lese, wie Ivo Bozic in Nichts gegen Amerika unter Der ferne Westen. Ostdeutsche Heimatliebe und Antiamerikanismus in der PDS zwar manche stimmige Beobachtung abliefert, sich insgesamt aber bei völliger Außerachtlassung der konkreten USA-Politik genau dorthin schreibt, wo er am Ende sein will: bei einem Rundumschlag gegen alles, was er als "Antiamerikanismus" sieht.10Man kann das so machen, freilich. Man kann, wenn man wie Bozic davon schreibt, daß der Vietnamkrieg "in der DDR" als "Beweis für den barbarischen Zustand der westlichen Welt" galt, völlig ausblenden, daß dies auch von vielen anderen Menschen in der Welt so gesehen und beurteilt wurde; man kann dann auch, wie Bozic es tut, feststellen, daß in der DDR "im Verlauf des Kalten Krieges (...) die Ablehnung der USA (wuchs)", ohne auch nur einen einzigen Satz darauf zu verwenden, daß die USA ihrerseits als einer der beiden Hauptakteure eben jenes Kalten Krieges agierten und als solcher außer der Tatsache, daß sie in Vietnam - und auch in anderen Teilen der Welt - Krieg führten und gegen Kuba eine Blockade verhängt hatten, die DDR gerade nicht als einen ihrer Freunde betrachteten und behandelten, was sich unter anderem darin ausdrückte, daß sie eine entscheidende Rolle bei der 25 Jahre andauernden völkerrechtlichen Nicht-Anerkennung der DDR und bei der Durchsetzung der Cocom-Boykott-Listen spielten; und man kann dann natürlich auch unmittelbar zu der durch nichts zu beweisenden These überleiten, daß "kaum ein prominentes Mitglied der PDS seine damalige Unterstützung für die sowjetische Invasion" in Afghanistan "zurückgenommen" habe (dies alles auf S. 68) - zur Aufklärung darüber, was Antiamerikanismus tatsächlich ist, wo und warum er tatsächlich zu bekämpfen wäre, trägt dies alles nicht bei. Es ist bei einem solchen Herangehen dann auch kein Wunder, daß die Überlegungen von Michael Brie über das Verhältnis von Antiamerikanismus und Amerikanismus von Bozic kurzerhand als "simpler rhetorischer Trick" abgetan werden (S. 75-76).

Hätte Bozic sein Thema nicht einfach nur propagandistisch "durchgezogen ", hätte er entdecken können, was es in der kommunistischen Bewegung und in der DDR tatsächlich an Antiamerikanischem im Sinne von "Gegen-die-USA-Gerichtetem" gab: nämlich die Ablehnung von Denkweisen, Baustilen, Musikrichtungen, Modeströmungen nicht aus dem tatsächlichen Inhalt dieser Denkweisen, Baustile, Musikrichtungen und Modeströmungen heraus, sondern einfach deshalb, weil sie eben "amerikanisch" waren, das heißt: aus den USA stammten. Wir haben es hier in der Tat mit einer zweiten Spielart des Antiamerikanismus zu tun: einer, die nicht mit realem Amerikanismus in Verbindung gebracht werden kann, sondern bestenfalls mit einem angenommenen, in den Köpfen konstruierten, von Klischees geprägten und vorbestimmten. Einen Versuch, diese Spielart des Antiamerikanismus im Denken und Handeln führender SED-Funktionäre knapp und gedrängt ins Gedächtnis zurückzurufen, hat der Historiker und UTOPIE-kreativ-Redakteur Jörn Schütrumpf Anfang 2002 einmal unternommen.11Manche der dort getroffenen Beobachtungen ähneln denen, die Bozic anbietet - die Methode der Bewertung und historischen Einordnung jedoch ist eine ganz andere. Im Gegensatz zu Bozic, der mit einer starren Gesellschaftsbetrachtung die Vorstellung von einer "ewigen Unbelehrbarkeit" der Leute im Osten glaubhaft zu machen versucht, weist Schütrumpf nach, wie diesem stalinistischen Antiamerikanismus im Laufe der Jahre durch das Leben selbst der Boden entzogen worden ist. Dieses historisch-materialistische Herangehen ermöglicht es Schütrumpf dann auch, eine klare Grenze zu ziehen zwischen dem, was ein tatsächlich zu bekämpfender, weil die Hirne vernebelnder Antiamerikanismus ist - eben eine Sichtweise, die bestimmte Dinge und Zusammenhänge nicht um ihrer selbst willen, sondern ihres Amerikanischen wegen verurteilt - und dem, was heute alles in den Begriff Antiamerikanismus hineininterpretiert wird.12

Es ist an dieser Stelle ein persönlicher Einschub notwendig, weil Bozic einen von mir im Oktober 2001 verfaßten Artikel ausdrücklich positiv erwähnt. Mein Beitrag unter der Überschrift Darf ein Linker die USA verstehen?, geschrieben für die PDS-Mitgliederzeitschrift Disput, sei, so Bozic, "eine nachdenkliche Betrachtung zu Antiamerikanismus" gewesen (Nichts gegen Amerika, S. 76). Da ist insofern ein nicht geringes Unbehagen anzumelden, als in diesem Beitrag weder von Amerikanismus noch von Antiamerikanismus die Rede ist, sondern lediglich von der verschiedene Etappen durchlaufenden Herausbildung meines auch heute vor allem durch Widersprüche geprägten ganz persönlichen USA-Bildes - und zwar ausdrücklich und bewußt fern aller "Ismen" und mit der Absicht, dem ja eben keineswegs etwa nur "SED-typischen", sondern allgegenwärtigen und immer wieder neu auflebenden Denken in Klischees und Vorurteilen insgesamt etwas entgegenzusetzen.13

Das Problem des Fehlens von Problemhierarchien tritt in Nichts gegen Amerika besonders deutlich bei Christian Stock und Michael Hahn hervor. Es ist ja zunächst einmal völlig richtig, wenn beide Autoren auf die Gefahren aufmerksam machen, die sich ergeben, wenn Kritik am US-Kapitalismus auf eine solche Weise betrieben wird, daß damit zugleich Kritik am jeweils "eigenen", "nationalen" Kapitalismus ausgeblendet wird. Auch die bedenkliche Nähe solcher Haltungen zu von rechts kommendem Antiamerikanismus ist richtig herausgestellt.

Andererseits jedoch ist mit solchen Appellen und Warnungen das Problem der besonderen Rolle der USA und des realen Amerikanismus nicht nur nicht erfaßt, sondern geradezu verdrängt. Es ist nun einmal so, daß es die USA waren, die nach dem Zusammenbruch ihres Hauptgegners Sowjetunion die Welt gar nicht erst zu Atem kommen ließen, sondern zum Krieg gegen den Irak bliesen - und zwar eben genau gegen jenen Irak, den sie im Jahrzehnt zuvor als Gegner zum Iran bezahlt und aufgerüstet hatten. Und es ist nun einmal so, daß die USA unter gröblichster Mißachtung der UNO und aller anderen zur Mäßigung mahnenden Stimmen nach dem 11. September 2001 den "Krieg gegen den Terror " ausriefen und erst gegen Afghanistan und dann erneut gegen den Irak zu Felde zogen, und wer da meint, es sei wegen der Anschläge vom 11. September dies das gute Recht einer im Herzen verletzten Nation gewesen, der muß daran erinnert werden, daß es eine Aufklärung der Verbrechen des 11. September - und damit eine Benennung der tatsächlichen und unzweifelhaft Schuldigen - bis heute nicht gegeben hat und der Krieg gegen den Irak mit der falschen Anschuldigung des Besitzes von Massenvernichtungswaffen begründet worden ist. Und so muß man sich eben doch fragen, was Christian Stock im Sinne hat, wenn er angesichts dieser so unübersehbar von den USA ausgehenden Bedrohungen der globalisierungskritischen Bewegung vorwirft, eine "personalisierende und verdinglichende", "vor allem auf US-amerikanische Politik( er)" zielende Globalisierungskritik zu betreiben, und es nimmt geradezu denunziatorische Formen an, wenn er dieser Bewegung dann auch gleich noch ein "über die Maßen vereinfachendes Weltbild" unterstellt, "welches die Staatenwelt in ›Böse‹ und ›Gute‹ unterscheiden" wolle und mit dem sie "das berechtigte Anliegen radikaler Herrschaftskritik in Kumpanei mit den reaktionären Gegnern der USA" verkehre (Nichts gegen Amerika, S. 94).

Warum diese Scheu davor - oder ist es Unfähigkeit? -, eine Hauptgefahr für den Frieden und für ein grundlegendes Umsteuern in Richtung auf soziale und ökologische Nachhaltigkeit auch als solche zu benennen und im Kampf gegen diese Hauptgefahr Verbündete zu suchen? Warum das Bestreben, diese Suche nach Verbündeten immer gleich dadurch zu denunzieren, daß unter diesen Verbündeten auch falsche sein können? Ja, so vielfältig und kompliziert ist die Welt nun einmal, und so schwierig ist die Suche nach Verbündeten, aber diese Suche ist trotz alledem, will man der erkannten Hauptgefahr etwas entgegensetzen, unabdingbar - und wem nun ist angesichts dessen eigentlich ein "über die Maßen vereinfachendes Weltbild" vorzuwerfen? Den Globalisierungskritikern - oder nicht doch eher Leuten wie Stock?

Hier zeigen sich im übrigen erneut auch die bedenklichen Konsequenzen des selbstverordneten Vergleichsverzichts. Es muß selbstverständlich die Frage gestattet sein, wie jemals eine Anti-Hitler-Koalition hätte zustande kommen können, wenn die Linken der westlichen Welt seinerzeit nach dem von Michael Hahn ausgegebenen Leitsatz "Linke Kritik muß weiterhin zuallererst die eigenen (Hervorhebung i. O.) Verhältnisse angreifen, in denen Menschen erniedrigte, geknechtete, beleidigte, verlassene und verächtliche Wesen sind" (Nichts gegen Amerika, S. 161), gehandelt hätten? Die Linken mußten damals erkennen - und erkannten, und zwar schon lange vor dem Überfall Deutschlands auf Polen -, daß sich unter den vielen Bedrohungen und Gefährdungen, die der Kapitalismus alltäglich und weltweit hervorbrachte, in Deutschland einige mit ganz besonders drastischen Wirkungen herauskristallisierten - und gegen diese ganz besonderen, über allen anderen stehenden Bedrohungen und Gefährdungen richteten sie ihren Kampf, wobei sie Bündnisse nicht nur mit den eigenen Herrschenden eingingen, sondern auch - und sogar im Einklang mit den Ersteren - mit der Sowjetunion.

Natürlich wäre es fatal, einen solchen Rückblick mit der Absicht zu betreiben, im heutigen Deutschland die Notwendigkeit des Kampfes gegen deutsche Ausbeutungsverhältnisse und gegen deutschen Nationalismus und Rechtsextremismus zu negieren oder auch nur geringzuschätzen. Es ist die komplizierte Gleichzeitigkeit dieser Auseinandersetzung mit derjenigen mit der USA-Politik, die von der Linken bewältigt werden muß - und in der Gleichzeitigkeit die Existenz von Problemhierarchien. Einfacher geht es nicht.

Haltlose Gleichsetzung von Antiamerikanismus und Antisemitismus
Zu den stärker differenzierenden, nachdenklicheren und auch einmal die USA-Realität kritisch beschreibenden Beiträgen in Nichts gegen Amerika zählt - wie bereits weiter oben angedeutet - der von Frank Illing unter dem Titel Paranoia, Projektion, Personifizierung. Zu einigen vorschnellen Gleichsetzungen von europäischem Antisemitismus und Antiamerikanismus. Gegen die - mit Verlaub: geradezu abstruse! - These von Dan Diner, wonach es sich beim Antiamerikanismus um eine "Stufe in der über den Antisemitismus hinausgehenden Verweltlichung der Judenfeindschaft " handele (S. 95),14 setzt Illing die Überlegung, daß "der moderne Antisemitismus (Â…) nicht zu trennen" sei "von der aus ihm folgenden Massenvernichtung und einer jahrhundertelangen Praxis der Ausgrenzung, Verfolgung, Entrechtung von Jüdinnen und Juden", der Antiamerikanismus hingegen immer "ein Diskurs" geblieben sei, "der nie vergleichbare Auswirkungen auf amerikanische Bürger gehabt hat". "Ohne die Beachtung dieses Unterschieds", so fährt er fort, "hängen alle Vergleiche von Diskursen und Vergleichen in der Luft" (S. 96), und um das zu untersetzen, fügt er wichtige Aussagen dazu an, was als "Amerikanismus " beschrieben werden kann.15

Völlig anders liest sich das bei Gerhard Scheit in Amerika: "Der absolute Feind", der beim Antiamerikanismus "hinter allen Gegnern" gesehen werde, sei "immer derselbe: das phantasierte Judentum" (S. 93).16Mit dieser These werden sie alle, die da irgendwo Kritik an der Politik der USA und/oder Israels wagen, über einen Leisten geschlagen und unmißverständlich in die Schranken gewiesen, und einhergeht diese These mit einem Satz wie diesem: "Die USA sind, wie Dan Diner festhält, dazu ausersehen, ›das Ausgreifen einer grenzenlos angelegten bürgerlichen Gesellschaft zu verantworten‹" (S. 80 - Hervorhebung W. A.).17

Das "Ausersehensein" der USA ist in diesem Buch Amerika tatsächlich ein Kernpunkt der Argumentation, von ihm aus wird alle Kritik an den USA vehement zurückgewiesen und verunglimpft. Die "antiamerikanischen Ideologen", schreibt Scheit, "die vor allem in Deutschland und Frankreich ihren Stützpunkt haben", ließen "keine besondere Lage gelten - weder im Falle Israels, als Zufluchtstätte aller vom Antisemitismus Verfolgten, noch in dem der USA, als Organ zur Durchsetzung des Rechts. Darum wollen sie einen internationalen Gerichtshof, den die USA und Israel nur ablehnen können" (S. 86). Eine "besondere" Lage als Rechtfertigungsgrund für Angriffskriege, Völkerrechtsbruch und Setzung ausschließlich eigener Maßstäbe - die Verwandtschaft eines solchen Herangehens mit der Reklamierung einer "besonderen" Lage der Sowjetunion als "Heimat aller Werktätigen" zur Rechtfertigung für imperiale Großmachtpolitik ist unübersehbar, und wer in Texten des deutschen Reichstages in den dreißiger Jahren zu lesen versteht, wird auf noch ganz andere Verwandtschaften stoßen.

Aber das stört die Herausgeber nicht. Kritiklos stellen sich Thomas Uwer, Thomas von der Osten-Sacken und Andrea Woeldike hinter die Aussage des ehemaligen CIA-Chefs James R. Woolsley, wonach sich die USA "im Krieg mit den faschistischen Regimes im Nahen Osten und totalitären islamischen Bewegungen" befänden und der Krieg gegen den Terrorismus der "Vierte Weltkrieg" sei (S. 12/13),18 und von daher entwickeln sie ihre These, wonach es sich "beim aktuellen Antiamerikanismus " nicht mehr nur "um falsches Bewußtsein", sondern "längst um eine politische Realität" handele, der "mit ein wenig Aufklärung und der heuristischen Trennung in Feindbild und ›berechtigte Kritik‹" nicht mehr "beizukommen" sei (S. 13). Also klären sie auch nicht auf, sondern schwingen undifferenziert und über alle Kontinente und Zeiten hinweg - da geht es auch gegen Hegel, Karl May und Lenau19und gegen Nietzsche und Bloch20 - einfach die große Keule. Michael Hahn legt in seiner Einleitung zu Nichts gegen Amerika viel Wert darauf, Distanz zu diesen "Leuten um die antideutsche Berliner Zeitschrift ›Bahamas‹" herzustellen, die sich "aus lauter Verzweiflung über die eigene Gesellschaft (Â…) nun einem neuen Vaterland an die Brust" würfen und "George Bush als ›Man of Peace‹" feierten (S. 12). Indes: Das von ihm verantwortete Buch ist viel zu eklektisch und an vielen Stellen viel zu nah dran an dem Band Amerika, um dieser Distanzierung Glaubwürdigkeit und Tiefgang geben zu können.

Google-Journalismus als Wissenschaftsersatz
Herausgeber Hahn hebt in Nichts gegen Amerika im Dank an seine "Autor(innen)" hervor, daß diese ihre Beiträge "trotz knapper Zeitvorgaben verfaßt" hätten (S. 13). Warum die Zeit knapp war und wer ihm das "Zeitfenster" für eine Veröffentlichung nur kurz aufgehalten hat - war da etwa schon befürchtet worden, daß die USA im Irak in große Schwierigkeiten geraten würden und der Antiamerikanismus-Vorwurf darum an Marktwert verlieren könnte? - läßt er leider unerwähnt. Zu vermuten ist jedoch, daß auch eine längere Bearbeitungsspanne an den erheblichen methodologischen Mängeln beider Bücher wenig geändert hätte, denn es liegt diesen Mängeln wohl etwas Prinzipielles zugrunde. Offensichtlich gewinnt eine Auffassung an Gewicht, wonach auch so grundsätzliche und politisch bedeutungsvolle Fragestellungen wie die nach Wesen und Wirkung des Antiamerikanismus wissenschaftlich seriöser Durchdringung nicht mehr bedürfen. Das zeigt sich zum Beispiel in der weiter oben bereits ausführlich erörterten Anspruchslosigkeit hinsichtlich der Erarbeitung von Definitionen und Kategoriegerüsten; aber es geht noch weiter.

So fällt auf, daß es im Falle beider Bücher offenbar keine Anstrengungen gegeben hat, über die bloße Aneinanderreihung von Beiträgen hinaus etwas Verbindendes, Synergetisches zu leisten. Konferenzen von Autorinnen und Autoren, veranstaltet mit dem Ziel, sich zum Beispiel über Grundbegriffe des abzuhandelnden Themas zu verständigen, finden offensichtlich nicht mehr statt.

Auffällig auch das ahistorische, den konkreten Zeitumständen entrückte Umgehen mit zitierten Standpunkten anderer, um sie reibungslos in die eigene Argumentationskette einbauen zu können. Dies wird durch die üblich gewordene - aber damit noch lange nicht richtige! - Zitierweise gefördert. In der Einleitung zu Amerika beispielsweise gibt es als Quellenangabe im Text "Arendt 1999b" und "Ehrenburg 1986", und weder aus dem Text selbst noch aus der beigefügten Literaturliste geht hervor, daß die zitierten Aussagen natürlich keineswegs aus den Jahren 1999 oder 1986 stammen, sondern - Hannah Arendt starb 1975 und Ilja Ehrenburg bereits 1967 - viel älter sind und unter ganz anderen Umständen entstanden, als es die Jahreszahlen nahelegen. "Bloch 1985", "Hegel 1971" oder "Alexis de Tocqueville 2001" ergeht es im Artikel von Gerhard Scheit nicht besser, und die Liste der Beispiele ist damit noch lange nicht zu Ende.

Kann es sein, daß da ernsthafte wissenschaftliche Arbeit - oder auch seriöse journalistische Recherche - einfach durch eine "effektive" Arbeit mit der Suchmaschine ersetzt wird, wir es also zunehmend mit einer Art Google-Journalismus zu tun haben, der sich nicht mehr die Mühe macht, zu zeigen, wann und unter welchen Umständen ganz bestimmte Argumente und Auffassungen entstanden sind, sondern statt dessen so etwas wie "Zeitlosigkeit" konstruiert?

Das ist eine denkbar schlechte Methode, um einem so deutlich zeit- und umständegebundenen Phänomen wie dem Antiamerikanismus tatsächlich aufklärend auf die Spur kommen zu können.

Wolfram Adolphi - Jg. 1951, Dr. sc. phil., Dipl.-Staatswissenschaftler; wissenschaftlicher Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Redakteur bei "UTOPIE kreativ"; in der Zeitschrift Veröffentlichungen vorwiegend zur Geschichte und Gegenwart der internationalen Beziehungen und zur Entwicklung der PDS; zuletzt "Kriegsdiktatur" (Heft 151, Mai 2003) und "Verweigertes Gedenken" (In memoriam Hans Voelkner) (Heft 153/154, Juli/August 2003).

Der vorliegende Beitrag setzt sich mit zwei Sammelbänden auseinander, die nach dem Beginn des Irak- Krieges der USA im Jahre 2003 in Deutschland erschienen sind: erstens mit: Michael Hahn (Hrsg.): Nichts gegen Amerika. Linker Antiamerikanismus und seine lange Geschichte, Konkret Literatur Verlag Hamburg 2003, 176 S. (15 EUR); und zweitens mit: Thomas Uwer, Thomas von der Osten-Sacken, Andrea Woeldike (Hrsg.): Amerika. Der "War on Terror" und der Aufstand der Alten Welt, Ça ira Verlag Freiburg i. Br. 2003, 318 S. (17,50 EUR).

Wenn etwa in den sechziger oder siebziger Jahren ein DDR-Student von einer Studentenbrigade in der Sowjetunion zurückkehrte und über schlampige Arbeitsorganisation, Materialverschwendung oder unerträgliche sanitäre Verhältnisse berichtete, hatte er beste Chancen, wegen Antisowjetismus zur Verantwortung gezogen zu werden, und befand sich damit in engster Nachbarschaft zu Frauen, die - ohnehin schon nur im kleinsten Kreise - von Vergewaltigungen in den ersten Friedenswochen zu erzählen wagten, oder von Heimkehrern, die, nachdem sie einst aus Solidarität in die Sowjetunion gegangen oder in der Not politischer Verfolgung dort Schutz gesucht hatten, in Sibirien oder Kasachstan Lagerhaft erleiden mußten und nun die ihnen auferlegte Schweigepflicht brachen, oder vielleicht auch einfach nur von Leuten, die einen "ungebührlichen " Witz gerissen hatten. "Natürlich" war auch Kritik an der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 antisowjetisch und "natürlich" auch eine Verurteilung der Invasion in Afghanistan 1978. Es paßte buchstäblich alles und jedes hinein in das Antisowjetismus-Verdikt, das Spektrum der "Tatbestände" war weit und unberechenbar, und weit und unberechenbar auch dehnte sich die Skala der Ahndungsinstrumente.

1 Die genauen Literaturangaben siehe oben.

2 Die Tatsache, daß mit Ivo Bozic in Nichts gegen Amerika ein ostdeutscher Autor vertreten ist, ändert an dieser Bewertung nichts. Ivo Bozic ist Jg. 1968, sein DDR-Hintergrund dementsprechend schmal, und sein Text - es wird darauf weiter unten bei dessen Besprechung noch einmal eingegangen werden - besteht aus dieser und jener journalistischer Beobachtung, nicht aber aus ernsthafter wissenschaftlicher Analyse.

3 Michael Brie: Das Gespenst des Antiamerikanismus - Nebelwand der amerikanischen Herrschaftsideologie, in: UTOPIE kreativ, Heft 138 (April 2002), S. 301. - Vgl. auch: Michael Brie: Wer über Antiamerikanismus redet und über Amerikanismus schweigt, heuchelt. 10 Thesen für eine Podiumsdiskussion am Ost-West-Kolleg, Brühl, 13. März 2003, www.rosalux.de/Aktuell/wtext/03kw12.htm. - Eine Arbeit des (westdeutschen) Friedensaktivisten Horst-Eberhard Richter aus dem Jahre 1986 unter dem Titel Amerikanismus, Antiamerikanismus - oder was sonst?, erschienen in Psyche Nr. 7/ 1986, S. 583-599, wird in Nichts gegen Amerika von Michael Hahn in einem Beitrag Tägliche Faschismus- Vergleiche. Antiamerikanismus in der Neuen Linken der BRD herabmindernd und ohne die Bedeutung des Amerikanismus-Begriffs erkennend erwähnt.

4 Frank Illing, Jg. 1965, ist laut kurzer biographischer Notiz Soziologiedozent und Redakteur von Radio Dreyeckland in Freiburg i. Br. sowie "gelegentlicher ›Konkret‹- Autor" und Autor von "Veröffentlichungen v. a. zur tschechischen Avantgarde". - Ausführlicheres zu seinem Beitrag siehe weiter unten im vorliegenden Aufsatz.

5 Leonard Zeskind, Jg. 1949, leitet laut kurzer biographischer Notiz das Institute for Research & Education on Human Rights in Kansas City, Missouri, und veröffentlicht u. a. in The Nation, Rolling Stone, New York Times und Los Angeles Times. Weiter heißt es: "Langjährige Tätigkeit am Auto-Fließband, in der Stahlindustrie und in der Antifa-Recherche." Derzeit schreibe er ein Buch über weißen Nationalismus in den USA.

6 Die Beiträge von Michael Hahn in Nichts gegen Amerika haben folgende Überschriften: Einleitung. Notwendige Verunsicherung; Vom Keulenschlag zum Schulterklopfen. Einige Erklärungen und Verklärungen von Antiamerikanismus in der Linken (das ist Text 2 in diesem Band); Tägliche Faschismus-Vergleiche. Antiamerikanismus in der Neuen Linken der BRD (das ist Text 3); Das Verhältnis beachten. Einige Elemente für eine nicht-antiamerikanische Kritik an den USA (das ist Text 11 und damit der Schlußtext des Bandes). Die biographische Kurznotiz im Buch weist Hahn, Jg. 1961, als in Tübingen tätigen Journalisten mit einem M.A. der Howard University in Washington sowie als Autor bei Konkret, Jungle World und Analyse und Kritik aus.

7 Der Beitrag von Christian Stock trägt die Überschrift Profite um jeden Preis. Die globalisierungskritische Bewegung und die USA. In der biographischen Kurznotiz ist Stock, Jg. 1964, in Freiburg i. Br. lebend, als "Redakteur bei der internationalistischen Zeitschrift ›iz3w‹" und "seit 22 Jahren in verschiedenen sozialen Bewegungen aktiv" benannt.

8 Peter Nowak: Alle gegen Amerika. Antiamerikanismus. Zwei Reader über das Verhältnis der deutschen Linken zu den USA, in: Freitag, Berlin, Nr. 23 v. 28. Mai 2004, S. 15.

9 Der Kritik an Rainer Rilling durch Hahn sei hier noch ein Satz mehr gewidmet. "Auch Rainer Rilling von der PDS-nahen Rosa- Luxemburg-Stiftung" setze - schreibt Hahn - "›Globalisierung‹ mit ›Amerikanismus‹ gleich" (da immerhin taucht der Begriff des Amerikanismus, wenngleich unreflektiert und nicht untersucht, bei ihm einmal auf), und er zitiert zum Beweis dessen aus einem Aufsatz, den Rilling unter der Überschrift "Verirrt im Amerika- Diskurs?" in UTOPIE kreativ, Heft 136 (Februar 2002, S. 101-106) veröffentlicht hat. Allerdings beweist das Zitat nicht tatsächlich jene Globalisierung-Amerikanismus- Gleichsetzung, die Hahn bei Rilling erkennen zu müssen glaubt, sondern vielmehr, wie oberflächlich Hahn offensichtlich zu lesen pflegt. "Der fundierte ›linke‹ Anti-Amerikanismus" - schreibt Rilling, und er wird von Hahn absolut korrekt zitiert - "zielt auf die Abschaffung der Machtakteure einer globalen kapitalistischen Hegemoniestruktur (›Empire‹) und wendet sich gegen eine Globalisierung, die nichts als eine Planetarisierung des Blicks amerikanischer Eliten ist." Gegen eine ganz bestimmte Art der Globalisierung sieht Rilling diesen Anti-Amerikanismus gerichtet - eben die, "die nichts als eine Planetarisierung des Blicks amerikanischer Eliten ist" - und nicht, wie Hahn meint, gegen die Globalisierung überhaupt.

10 Zu Ivo Bozic sagt die biographische Kurznotiz in Nichts gegen Amerika, daß er Mitherausgeber und Autor der Wochenzeitung Jungle World ist und früher Redakteur bei den Tageszeitungen Neues Deutschland und Junge Welt sowie persönlicher Referent der PDS-Abgeordneten Angela Marquardt war. Sein politischer Standort ist mit "immer parteilos" und "in der undogmatischen Linken verkehrend" angegeben.

11 Gemeint ist der VorSatz zu UTOPIE kreativ, Heft 135, Januar 2002.

12 "Die heute gepflegten Antiamerikanismusvorwürfe", schreibt Schütrumpf an der genannten Stelle, "meinen nicht im Ernst Antiamerikanismus, sie meinen selbst zahmste Kritik an US-amerikanischer Außenpolitik. Letzten Endes unterscheiden sich diese Anwürfe im Niveau nicht vom einstigen Antiamerikanismus, war er nun links, rechts oder synthetisiert."

13 Es sei mir gestattet, die letzten Sätze des genannten Artikels, geschrieben im Oktober 2001, zu zitieren: "Warum ich dies alles in Erinnerung rufe? Weil ich die Ereignisse des 11. September über alles kurzfristige Alltagsdenken hinweg wirklich als Zäsur sehe und tiefer begreifen will. Als Zäsur auch im eigenen Denken und Weltgefühl. Und zu dieser Zäsur gehört für mich an ganz vorrangiger Stelle eine Prüfung meines USABildes. Diese Prüfung läßt mich nicht schwankend werden in meiner Ablehnung des Krieges, den die USA jetzt in Afghanistan führen, und in meiner Ablehnung des Krieges als Mittel des Kampfes gegen den Terrorismus überhaupt. Im Gegenteil: Sie bestärkt mich in dieser Haltung. Aber ich will dem geschlossenen Visier der Kriegsführer nicht meinerseits mit geschlossenem Visier begegnen. Ich will heraus aus Denk-Sackgassen und nicht tiefer hinein. Und fühle mich darin bestärkt, weil Bewegung auch an vieler anderer Stelle ist." Wolfram Adolphi: Darf ein Linker die USA verstehen?, in: Disput, Berlin, Nr. 11/2001, S. 16-17.

14 Illing zitiert Dan Diner: Feinbild Amerika, München 2002, S. 33 f.

15 "In der Existenz dieser ›amerikanistischen‹ Ideologie liegt ein weiterer Unterschied zum Antisemitismus. Die Ablehnung des ›typisch Amerikanischen‹ kann sich auf ein reales Pendant beziehen, wenn in Amerika selbst verkündet wird, was ›amerikanisch‹ und was ›anti-‹ oder ›un-amerikanisch‹ sein soll. Charakteristisch für den ›Amerikanismus‹ ist die Identifizierung von Kapitalismus, Individualismus und parlamentarischer Demokratie (unter Ausschluß anderer Demokratievorstellungen) und deren Propagierung als Vorbild für andere Länder. (Â…) Die christlich-missionarische und nicht selten manichäische Rhetorik (›Reich des Bösen‹, ›Achse des Bösen‹) wird zur Legitimation bemüht, selbst wenn von ihr nicht unbedingt auf die tatsächliche Politik geschlossen werden kann. Diese Ideologie ist in Äußerungen amerikanischer Politiker über ihre politischen Vorstellungen stets präsent." Frank Illing: Paranoia, Projektion, Personifizierung. Zu einigen vorschnellen Gleichsetzungen von europäischem Antisemitismus und Antiamerikanismus, in: Nichts gegen Amerika, S. 101-102.

16 Gerhard Scheit: Monster und Köter, großer und kleiner Teufel. Thesen zum Verhältnis von Antiamerikanismus und Antisemitismus, in: Amerika. Der "War on Terror" und der Aufstand der Alten Welt, S. 75-99.Zur Person von Scheit heißt es in der biographischen Notiz: "lebt als freier Autor in Wien und ist Herausgeber des zweiten Bandes der Gesamtausgabe von Jean Améry", Veröffentlichungen u. a. in den Zeitschriften Konkret und bahamas, verschiedene Bücher im ça ira-Verlag.

17 Das Diner-Zitat stammt aus: Dan Diner: Feindbild Amerika, München 2002, S. 17.

18 Das Woolsley-Zitat stammt aus: James R. Woolsley: At War For Freedom, in: Observer Worldview (UK), 20.7.2003.

19 Gemeint ist der Beitrag von Stefan Ripplinger, ausgewiesen als Mitarbeiter von Jungle World und Die Republik, der unter dem Titel Der Schatz im Silbersee. Mit Karl May und Hegel im Wilden Westen in Amerika auf den Seiten 37-46 abgedruckt ist.

20 Gemeint ist der unter Anm. 16 bereits genannte Beitrag von Gerhard Scheit.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 165/166 (Juli/August 2004), S. 662-671

 

aus dem Inhalt:

VorSatz, Essay GERHARD WAGNER: "Ich weiß, daß wir diesmal gewinnen". Hollywood, Casablanca und die Befreiung von Paris, Gesellschaft - Analyse & Alternativen MARIO CANDEIAS: Erziehung der Arbeitskräfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat, WOLFGANG WEISS Tragfähigkeit - ein Begriff der Regional-Demographie mit politischen Implikationen, Utopie & Wirklichkeit RICHARD SAAGE Wie zukunftsfähig ist der klassische Utopiebegriff?, JAN VOGELER, HEINRICH FINK Heinrich Vogeler und die Utopie vom neuen Menschen, Reine Lehren MICHAEL BRIE Welcher Marxismus und welche Politik? Uwe-Jens Heuers Buch "Marxismus und Politik" kritisch gelesen, WOLFRAM ADOLPHI Wohlfeile Keule und geistige Selbstverstümmelung. Zwei neue Bücher mit "linkem" Antiamerikanismus-Vorwurf, MAX BRYM Die serbischen Cetniks einst und jetzt, Wieder gelesen Wandlung und Wahrhaftigkeit. Franz Fühmann zum 20. Todestag, PDS - strategische Debatte DIETMAR WITTICH In welcher Gesellschaft leben wir?, THOMAS FALKNER Herausforderungen für sozialistische Politik, ELKE BREITENBACH, KATINA SCHUBERT Opposition und Regierung - Partei und Bewegung - Widersprüche? Überlegungen zur PDS-Strategiedebatte, FRIEDRICH W. SIXEL Die PDS und die Krise der heutigen Gesellschaft, Standorte ULI SCHÖLER Der unbekannte Paul Levi?, Festplatte WOLFGANG SABATH Die Wochen im Rückstau, Bücher & Zeitschriften Wolfgang Ruge: Berlin - Moskau - Sosswa. Stationen einer Emigration (HELMUT BOCK), Albert Scharenberg, Oliver Schmitke (Hrsg.): Das Ende der Politik? Globalisierung und der Strukturwandel des Politischen (FRIEDHELM WOLSKI-PRENGER), Massimiliano Andretta, Donatella della Porta, Lorenzo Mosca, Herbert Reiter: No Global - New Global. Identität und Strategien der Antiglobalisierungsbewegung (ARNDT HOPFMANN), Tanja Busse, Tobias Dürr (Hg.): Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance, (ULRICH BUSCH), Volker Perthes: Geheime Gärten. Die neue arabische Welt (HENNER FÜRTIG), Summaries