Impulse für soziale Bewegungen

Perspektiven des Protests nach den Demonstrationen vom 3. April

Während die Gewerkschaften noch vor einem Jahr in ungläubigem Staunen und unfähig zum Handeln verharrten, hat sich die Situation seither grundlegend verändert. Die verheerenden gesellschaftlichen

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... und ökonomischen Auswirkungen der Agenda 2010, die breite Bevölkerungsschichten existenziell bedrohen, sind bei den Menschen angekommen, werden spürbar.
Die Folge ist, dass das Misstrauen in die politische Klasse wächst und große Unzufriedenheit sich breit macht. Allerdings haben die Gewerkschaften - insbesondere die IG Metall und ver.di in Baden-Württemberg - auch im vergangenen Jahr Politikfähigkeit bewiesen, z.B. bei der Verteidigung der Tarifautonomie. Durch eine Welle politischer Streiks, im Schwerpunkt in der Automobilindustrie, aber auch z.B. in den Universitätskliniken in Baden-Württemberg, konnte ein Etappensieg erreicht und der Flächentarifvertrag vorläufig verteidigt werden. Betrieblichen Bündnissen für Arbeit - die immer Erpressungsbündnisse gegen die Belegschaften und ihre Betriebsräte sind - wurde eine Absage erteilt. Das Ergebnis dieser Kämpfe war umso erstaunlicher, als sie sich gegen alle Fraktionen im Bundestag wandten: Keine im Bundestag vertretene Partei ist inhaltlich überzeugt von der Notwendigkeit, die Tarifautonomie unangetastet zu lassen. Dennoch konnte der Angriff abgewehrt werden.

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Mit den Demonstrationen am 3. April ist den Gewerkschaften erstmalig ein großer Mobilisierungserfolg gegen den neoliberalen gesellschaftlichen Mainstream und die Angriffe auf soziale Besitzstände gelungen. Vorausgegangen war der 1. November 2003: Obwohl die Gewerkschaftsführungen, ängstlich geworden nach den negativen Mobilisierungserfahrungen des 24. Mai 2003, sich nicht entschließen konnten, zu dieser Kundgebung aufzurufen, waren 100.000 Menschen in Berlin gegen Sozialabbau auf die Straße gegangen. Dies war ein großartiger Erfolg, der das Sprungbrett bildete für das "beherzte" Mobilisieren der Gewerkschaften auf den 3. April. Basis des Mobilisierungserfolges war das breite zivilgesellschaftliche und außerparlamentarische Bündnis, das den Protest der verschiedenen Gruppen und Bereiche der Gesellschaft gebündelt hat. Dieses außerparlamentarische Bündnis muss vertieft werden und den strategischen und organisatorischen Rahmen für die Fortsetzung der Auseinandersetzungen bilden. Strategisch: weil weiterhin auf eine außerparlamentarische Allianz gegen die neoliberale große Koalition im Bundestag gesetzt werden soll. Organisatorisch: weil an den entstandenen Bündnisstrukturen anzuknüpfen ist. Den Erfolg des 3. April nutzen heißt, den politischen Gegendruck in Schwung halten und verbreitern!

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Für die Gewerkschaften folgt daraus, dass zentrale Themen herausgearbeitet werden müssen, die (a) von der Sache her relevant und (b) mobilisierbar sind, also Themen, in denen sich zivilgesellschaftlicher Protest bündelt, weil sie den Menschen auf den Nägeln brennen.

Eines dieser Themen ist die Verteilungsfrage, die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Reiche und in ein wachsendes Heer an armen, marginalisierten Bevölkerungsschichten. Konkret bietet sich die Mobilisierung über die Forderung nach Wiedereinführung der Vermögen- und Erbschaftsteuer sowie über das von ver.di und Attac ausgearbeitete Konzept einer solidarischen Einfachsteuer an.

Es ist bezeichnend, wie viel Energie derzeit in die "Entlarvung" der Vermögensteuer als unnütz, schädlich, bürokratisch investiert wird - von jenen, die sonst so leidenschaftlich wettern wider "kleinmütiges Besitzstandsdenken" in der Gesellschaft. In Baden-Württemberg ist der SAP-Gründer Hasso Plattner zum Symbol für gesellschaftliche Maßlosigkeit geworden. Plattner, stolzer Besitzer eines Aktienpaketes im Wert von 3,4 Milliarden Euro, sagte kürzlich: Käme die 1%ige Vermögensteuer, müsse er sich von seinen Aktien trennen und sich ins Privatleben zurückziehen, und das heißt: "keine weiteren Investitionen, keine neuen Arbeitsplätze, keine Spenden mehr". Diese Maßlosigkeit eines Megareichen muss auf ein gesellschaftlich verantwortungsvolles Maß zurückgestutzt werden.

Einer der Schwerpunkte gemeinsamer Aktionen sollte die Arbeitszeitfrage sein. Dabei geht es um Widerstand gegen Arbeitszeitverlängerung, um die Aktualisierung der Aufgabe der Arbeitsumverteilung und um die Frage, "wem gehört die Zeit?" Momentan findet ein abgestimmter und auf breiter Front vorangetriebener Angriff statt: im öffentlichen Dienst, in der Druckindustrie, in der Metall- und Elektroindustrie, aber ebenso im Einzelhandel mit der von Wolfgang Clement aufgegriffenen Forderung nach kompletter Freigabe der Ladenöffnungszeiten sowie in der Rentenversicherung mit dem Ziel der Verlängerung der Lebensarbeitszeit (bzw. entsprechender Rentenkürzungen). Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich ist ein Lohnsenkungsprogramm für die Belegschaften. Insofern stellt sich bei der Arbeitszeitfrage derzeit die Verteilungsfrage in dramatischer Form.

Zu diskutieren ist, was wir in den Mittelpunkt des Widerstands gegen den Sozialabbau der Agenda 2010 stellen: die Privatisierung öffentlicher Güter, die Praxisgebühr und der "Rentenklau" sind die Ansatzpunkte. Dabei gilt es, die Forderung nach einer solidarischen Bürgerversicherung, die tatsächlich alle Gesellschaftsklassen und Einkommensarten umfasst, zu popularisieren.

Wichtig ist die Mobilisierung gegen die Umsetzung der Hartz IV-Gesetze. Sie bringen massive Verarmungsprozesse bei denen, die ganz aus dem Leistungsbezug heraus- oder auf Sozialhilfe herabfallen. Und sie untergraben den Anspruch auf humane, qualifizierte und existenzsichernde Arbeit durch die einschneidende Verschärfung der Zumutbarkeitsbedingungen. Selbst das Versprechen verbesserter Beratung wurde mittlerweile einkassiert. Arbeitslosigkeit soll billiger werden und besser wirken. Gegenüber der vielfach taktisch motivierten Auseinandersetzung zwischen Bund, Ländern und Kommunen um die Mittelverteilung muss der soziale Zynismus einer Politik der weitgehenden Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Ausgrenzung der Krisenopfer deutlich werden, um beschäftigungspolitischen Alternativen in der Gesellschaft Gehör zu verschaffen. Das schließt die Debatte um Mindesteinkommen ein.

Kurzum: Es geht um die Auswahl und Bearbeitung von drei bis fünf zentralen Themen, die in den politischen Auseinandersetzungen der kommenden Monate kampagnefähig sind. Das ist auch die Botschaft des Perspektivenkongresses Mitte Mai. Dabei sollte die transnationale Dimension immer mitbedacht werden, d.h. die Einlösung der in der Mobilisierung für den 3. April zu kurz gekommenen europäischen Perspektive. In Zeiten von Globalisierung und Standortkonkurrenz müssen alle gewerkschaftlichen Gegenstrategien die Chancen grenzüberschreitender Kooperationen prüfen und ausschöpfen. Eine solche Herangehensweise öffnet übrigens auch Zugangsmöglichkeiten bei jüngeren Beschäftigten.

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Es geht nicht nur um Themen. Gewerkschaften brauchen auch eine Stärkung der betrieblichen Strukturen und Durchsetzungskraft. Ein dauerhafter Erfolg außerbetrieblicher Mobilisierung ist nur vorstellbar, wenn wir gleichzeitig in den betrieblichen und tarifpolitischen Auseinandersetzungen stärker werden.

Der Nachkriegskonsens, nach dem in den Betrieben nur die betrieblichen und tarifpolitischen Konflikte ausgetragen werden dürfen und die politischen Fragen über den langen Arm in den Parlamenten zu klären sind, ist durch die Etablierung der "neoliberalen Einheitspartei" verloren gegangen, womit für die Gewerkschaften die Geschäftsgrundlage einer "unpolitischen" Interessenvertretung in den Betrieben entzogen ist. Die Politisierung der Betriebsarbeit ist daher legitim, notwendig und historisch gerechtfertigt.

Für die konkrete betriebliche Praxis bedeutet dies, die Themen Sozialabbau und Umverteilung stärker in den betrieblichen Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zu stellen.

In Deutschland ist ein politischer Erzwingungsstreik durch höchstrichterliche Rechtsprechung untersagt - und man sollte sich keine Illusionen darüber machen, dass Unternehmer, Unternehmerverbände und politische Kräfte dies bis hin zur finanziellen Strangulierung der Gewerkschaften durchsetzen werden. Doch das ist nur die Hälfte der Wahrheit, zu der auch gehört, dass Rechtsfortschritt historisch und aktuell oft nur durch kalkulierte Rechtsübertretung erreicht worden ist - gerade auf der betrieblichen Ebene. Als bei Porsche im Kampf um den Erhalt der Tarifautonomie mit Sanktionen gedroht wurde, stellte der Betriebsrat die Arbeitgeberseite vor die Entscheidung, ob sie Autos produziert haben wolle oder sich auf Abmahnungen versteife. Damit war das Thema "gegessen" bzw. durch die betrieblichen Kräfteverhältnisse aktuell entschieden. Gleichzeitig halte ich das Potenzial der Gewerkschaften in Deutschland, zu einer sozialen Bewegung zu werden, für längst nicht ausgeschöpft. Derzeit ist die Bindung der Gewerkschaften an die SPD noch hinderlich für eine klare Widerstandslinie gegen die Agenda 2010.

Gewerkschaften sind traditionell - historisch und kulturell - über fast 100 Jahre der Sozialdemokratie verbunden. Der nun notwendige politische Abtrennungsprozess verlangt vielen Mitgliedern eine Menge Kraft ab - und er ist noch lange nicht abgeschlossen. Wichtig ist, dass der Strategiekonflikt, der derzeit zwischen Einzelgewerkschaften, aber auch quer durch die Organisationen verläuft, nicht gedeckelt, sondern offen ausgetragen wird. Nur so wird eine Orientierung für die Mitglieder dabei herauskommen.

Der 3. April und der Perspektivenkongress sechs Wochen später haben die Chancen deutlich gemacht, die für die Gewerkschaften in der Perspektive breiter, inhaltlich ausgewiesener zivilgesellschaftlicher Bündnisse bestehen. Das "politische Mandat" ist keine leere Floskel. Angesichts der offenkundigen Krise der politischen Repräsentanz, der Krise der repräsentativen Parteiendemokratie, kommen wir überhaupt nicht darum herum, gewerkschaftliche Autonomie politisch neu zu deklinieren. War nicht die Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie eine der Stützen von "Stellvertreterpolitik" und damit der Entpolitisierung der sozialen Auseinandersetzungen? Was als Aufgabe vor uns steht, ist die Wiederaneignung der Politik in der Zivilgesellschaft. Politik darf nicht weiterhin im Korsett der verharschten Strukturen und Institutionen des politischen Systems eingeschnürt sein.

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In der Mobilisierung für den 3. April haben sich in vielen Städten neue Bündnisse und Aktionsformen herausgebildet, die wesentlich auf Impulsen anderer gesellschaftlicher Gruppen und ihrer Protestformen beruhen. Davon können und müssen die Gewerkschaften lernen. In Baden-Württemberg gab es in der Vorbereitung des 3. April in sieben von elf ver.di-Bezirken Bündnisse mit Attac. Die in gemeinsamen Aktionen gewonnenen Erfahrungen müssen verbreitert und zur Grundlage einer neuen Mobilisierung gemacht werden. Ich wünsche mir, dass wir daran arbeiten, die jeweiligen Schwächen und Stärken von Attac einerseits und der Gewerkschaften andererseits abzugleichen und in einem kritischen, aber produktiven Prozess zu gemeinsamer Stärke weiter zu entwickeln. Dies auch deshalb, weil sich Gewerkschaften bei ihren Bemühungen, die Organisation zu reformieren, schwer tun. Immer noch stark verbreitet ist das Denken in Hierarchien, in großen Strukturen, in Standardlösungen und stark verbreitet ist das, was man Verbandsdisziplin nennt, eine ständige Gefahr für lebendige, demokratische Strukturen von unten. Dagegen setzt Attac basisdemokratische, offene Strukturen, die geprägt sind durch Anerkennung von Differenz und Vielfalt. Von dieser Praxis können und müssen die Gewerkschaften lernen. Optimal gelungen ist das vor 1½ Jahren am 14. September in Köln auf der großen Jugenddemo von Gewerkschaften und Attac. Die Stärke der Gewerkschaften beruht neben ihrer langen Tradition aber auch auf der Stabilität und Verlässlichkeit klarer Organisationsstrukturen, dessen, was wir "den Apparat" nennen. Rosa Luxemburg hat das einmal als die im positiven Sinne "konservative" Funktion von Organisation bezeichnet, die auch in politischen Schwächephasen sozialen Widerstand und politischen Druck ermöglicht. Diese Strukturen mögen für ein vielfältiges politisches Verbandsleben hier und da hinderlich sein, sie sind unabdingbar notwendig in Auseinandersetzungen, z.B. beim Erzwingungsstreik. Die Streikfähigkeit der Gewerkschaften symbiotisch zu verbinden mit der offenen, lebendigen Vielfalt der Aktionsformen, die wir von sozialen und globalisierungskritischen Organisationen wie Attac kennen, dieses als einen produktiven Arbeitsprozess gezielt anzugehen, hielte ich für einen hoffnungsvollen Schritt in Richtung neuer Impulse für soziale Bewegungen.

Was Gewerkschaften und Attac inhaltlich eint - und das kann in einem Bündnis nicht hoch genug bewertet werden - ist die Verteilungsfrage, die Forderung nach Umverteilung von oben nach unten, weltweit, aber auch in Deutschland. Das bildet die inhaltliche Klammer dieses Bündnisses und gleichzeitig ihren politischen Kern. Ich halte das für eine außerordentliche Chance, die den besonderen Charakter, aber auch inneren Vorteil des Bündnisses von Attac und Gewerkschaften ausmacht.

In einem Interview zum 1. Mai fragte mich ein junger Journalist, auf den Mitgliederrückgang der Gewerkschaften und den Mitgliedererfolg von Attac hinweisend: "Besteht zwischen den Gewerkschaften und Attac nicht ein Konkurrenzverhältnis?" Meine spontane Antwort: "Ich würde es eher als Liebesverhältnis bezeichnen." Und wie es in komplizierten Liebesverhältnissen so ist: Keiner sollte versuchen, zu werden wie der andere, es wird viel gestritten, man lernt viel voneinander und es gibt die große Perspektive, gemeinsam in einer sozialen Bewegung unwiderstehlich zu werden!

Sybille Stamm ist ver.di Landesbezirksleiterin Baden-Württemberg. Bei diesem Artikel handelt es sich um den nach dem Perspektivenkongress geringfügig aktualisierten und ergänzten Beitrag auf dem Attac-Ratschlag vom 7.-9. Mai 2004 in Essen.

aus Sozialismus Heft Nr. 6 (Juni 2004), 31. Jahrgang, Heft Nr. 278