Leute mobilisieren

in (03.12.2003)

Die französische Regierung machte gute Miene zum kritischen Spiel, gab Zuschüsse und zeigte sich weltoffen. Luc Ferry, Minister für nationale Bildung, ...

... ein erklärter Gegner des "68er Denkens" und gewisser ökologischer Übertreibungen, erklärte in Le Monde: Man darf die Altermondialisten weder in Grund und Boden verdammen noch ihnen eine Blankovollmacht geben. Denn: Sie stellen gute Fragen, geben aber schlechte Antworten. Eine dieser guten Fragen lautete: Wie erreichen wir eine Bürgerkontrolle der Europäischen Zentralbank? Die schlechte Antwort habe ich verpaßt, weil die Plenen und Workshops wegen des fehlenden Blankoschecks nicht im Herzen der Metropole stattfanden, sondern in den drei weit auseinander liegenden kommunistisch regierten Pariser Vorstädten Ivry, Bobigny und Saint-Denis. Dafür hörte ich andernorts eine (schlechte?) Antwort von Jacques Nikonoff, Präsident von attac-Frankreich, der nicht leugnet, Kommunist zu sein. (Für deutsche Gegenwartsohren war es ungewohnt zu hören, wie viele Menschen sich auf dem Sozialforum freiwillig als von eben dieser Herkunft outeten). Er forderte das Tabu zu brechen, wonach Arbeitslosigkeit eine unvermeidliche "fatalité" sei, die sich aus den ökonomischen Gesetzen ergebe. Es sei vielmehr möglich, sie abzuschaffen.
Das Wie hätte mich interessiert, aber auch das versäumte ich, weil ich quer durch die Stadt aufbrach zum Seminar mit dem spektakulären Titel: Kann die Bewegung der Altermondialisten die große Emanzipationskraft des 21. Jahrhunderts werden?
Im großen Saal wird zunächst eine Erklärung abgegeben: Die Nutzung des Multiplex-Kinos in Ivry durch das Sozialforum sein keine Legitimierung der einseitigen Filmprogramme dieses Hauses wäre. Danach übernimmt Bernard Cassen, Gründungsvater von attac-Frankreich, die Moderation auf dem Podium.
Zunächst bekommt der französische Politologe Stéphane Rozes das Wort für sein Statement: In Frankreich hegten zwei Drittel der Menschen Sympathien für die Altermondialisten und ihr Forum, weil sie der Auffassung zustimmten, die Welt sei so, wie sie ist, nicht wünschenswert. Sie fänden den Lauf der Dinge unverständlich und inakzeptabel. Es sei bedenklich, wenn die Arbeiter nicht mehr wählen gingen. Viele Menschen empfänden die Zustände zunehmend als Leid- und Angstsystem. Kulturelle Kreise befürworteten eine Revolte. Man dürfe aber nicht von Ideologien ausgehen, sondern müsse an die praktischen Erfahrungen der Menschen anknüpfen. Dann macht er selbst die ideologische Vorgabe: Die Zielrichtung des Kampfes sei antiliberalistisch, nicht antikapitalistisch. Wobei nicht klar wird, ob er damit das Ziel der kulturellen Kreise, der Altermondialisten oder der zwei Drittel Franzosen meint. Später, in der Diskussion, wird ein Student aus London dazu bemerken, was denn eine Bewegung wert sei, die zwar eine andere Welt für möglich halte, nicht aber eine andere Wirtschaftsordnung. Und dafür viel Beifall bekommen.
Hans Abrahamson von attac-Schweden fordert in seinem Statement konkrete Visionen in Richtung eines globalen Sozialvertrages, jenseits der durch die WTO aufgezwungenen Privatisierung. Man dürfe sich nicht von der Logik der Macht vereinnahmen lassen, sondern müsse das Denken der Menschen erobern.
Zu diesem Punkt bringe ich einen Vorschlag ein, der mich seit Porto Alegre umtreibt. Er klingt utopisch, aber wer nicht das Unmögliche fordert, wird bekanntlich nicht einmal das Mögliche erreichen. Deshalb:
Die globalisierungskritische Bewegung baut zu Recht auf die Kommunikation des Internets. Aber 90 Prozent der Weltbevölkerung sind davon vorerst noch ausgeschlossen. Im Medienzeitalter darf die Linke auf die Dauer nicht darauf verzichten, sich mit der größtmöglichen Wirkung zu vernetzen. Was nicht in den Medien ist, ist nicht. Die meisten Menschen gewinnen ihre politische Einstellung aus dem Fernsehen. Aber kaum eine Fernsehkamera verirrt sich in die Favelas von Rio, in die Slums von Calcutta, zu den hungernden Kindern in Kinshasa oder Luanda, in die armseligen USA-Reservate der Indios, in die Suppenküchen von Marseille und zu den Berliner Obdachlosen, zu den Goldminenopfern von Papua-Neuginea, zu den Hinterbliebenen der ermordeten Führer der brasilianischen Landlosenbewegung, zu den verstümmelten Opfern von Landminen und in die von Kriegen zerstörten Städte und Dörfer. Um auch den Armen, den Ausgegrenzten und Analphabeten das Bewußtsein gemeinsamer Interessen zu geben, müssen wir über den schrittweisen Aufbau eines aufklärerischen, jenseits von Profitinteressen arbeitenden Weltfernsehsenders nachdenken. Für diesen Vorschlag bekomme ich vom Publikum erstaunten Beifall; mir scheint, er muß sich erst mal setzen.
Einige Podiumsredner äußern sich sehr abstrakt, andere berichten von konkreten Projekten, ohne zu verallgemeinern, was daraus für die Altermondialisten zu schließen sei. Ein junges Mädchen beklagt sich, daß für sie einige Beiträge unverständlich gewesen seien, weil nicht klar geworden sei, worauf der Redner hinaus wolle, und hat damit viel Unterstützung beim Publikum, in dem auch viele Gewerkschaftler sind. Doch Bernard Cassen reagiert ziemlich barsch, eine politische Bewegung lasse sich nicht auf einfache Sprechblasen verkürzen. Ich erahne, wie viele Brücken hier noch zu bauen sind.
Dann zeigt sich die Vertracktheit der Technik. Asbjörn Wahl von attac-Norwegen hat sein Statement auf dem Laptop, doch da gibt es pfeifende Rückkopplungen zu den Mikros, die Simultandolmetscher verstehen nichts. Allgemeine Verwirrung, aber Wahl will lieber verzichten, als ohne Laptop zu sprechen. Unruhe kommt auf, auch bei mir, denn bald geht mein Flugzeug. Schließlich kommt ein junger Mann nach vorn und sagt, well, wir Englischsprachigen haben bereits viel Geduld aufgebracht mit der eigenwilligen Übersetzung aus dem Französischen, nun mögen die Franzosen eben Geduld aufbringen, bis der Norweger ausgeredet hat. Beifall, so beschlossen, Das ist neu für La Grande Nation. Und bei so viel gutem Willen hören plötzlich auch die Mikros zu pfeifen auf. Wie gut, denn was beinah verpaßt wurde, ist substanziell.
In Skandinavien gelte es jetzt, im Bündnis mit den Gewerkschaften den Sozialstaat gegen die zu verteidigen, die ihn einst geschaffen haben. Dafür müsse man sowohl das Konzept von Macht verstehen als auch Erfolg und Scheitern sozialer Bewegungen. Der Sozialstaat sei einst nicht vom Himmel gefallen, sondern sei das Resultat harter sozialer Kämpfe, Streiks und Verhandlungen gewesen. Auch die sozialen Vorgaben der sozialistischen Länder seien in der Konkurrenz der Systeme hilfreich gewesen. Etwa in der Mitte des letzten Jahrhunderts habe die Arbeiterbewegung einen friedlichen Klassenkompromiß in Form eines Sozialvertrages errungen. Es habe weder große Krisen noch bemerkenswerte Arbeitslosigkeit oder Elend gegeben. Die Wirtschaft sei aus der Marktlogik genommen, die Macht des Kapitals kontrolliert worden. Dies sei die reformistische Straße der Arbeiterbewegung zum Sozialismus gewesen, denn auf eine Demokratisierung der Produktionsmittel habe man in der Ära des Sozialstaates verzichtet.
Doch das Kapital, so erklärt der Norweger, hatte mit seiner Strategie des Entgegenkommens letztlich Erfolg. Es setzte eine Entradikalisierung und Entpolitisierung der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften ein, ihre antikapitalistische Seite wurde unbedeutend, da angeblich überflüssig. In diesem blinden Winkel entwickelten sich Privilegien und Korruption der Nomenklatura - der politischen Klasse, wie man heute sagt. Und kaum war der Druck des Sozialismus verpufft und das Vakuum mit Neoliberalismus gefüllt, wurden die Schrauben der Ausbeutung wieder angezogen. Bestimmend wurde wieder das Prinzip, das sich alles rentieren müsse.
Nun stehe der Kampf um die Vorherrschaft in der Wirtschaft wieder auf der Tagesordnung, schlußfolgert Wahl. In sozialen Kämpfen müßten die Ziele der Unternehmen mit denen der Altermondialisten konfrontiert werden. Dabei müßten die Gewerkschaften einbezogen werden, denn die hätten einst gelernt, Leute zu mobilisieren.
Mir bleibt gerade noch Zeit zu klatschen. Dann muß ich gehen.

aus Ossietzky 24/2003