Bewegung ohne Partei?

Die Wirklichkeit läßt sich kaum noch karikieren,sie ist die Karikatur selbst. Kabarettisten wissen nicht mehr,wie sie noch überhöhen sollen ...

Betrachtet man das historische Ausmaß der (sozial-)demokratisch betriebenen Zerstörung von Vernunft und Sozialstaat, vermag man sich einem unerhörten Gedanken kaum verschließen: über den sozialpolitisch innovativen Revolutionsbekämpfer Bismarck und jene seiner Taten, die die Linke bisher für besonders reaktionär hielt, neu nachzudenken. Vielleicht war doch nicht alles schlecht; zum Beispiel das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie von 1878 Â…
Doch die Zeit ist dem Witz nicht geneigt. Nicht nur ich - höre und lese ich immer häufiger - fühle mich täglich mehr an die Jahre vor dem Ende der DDR erinnert: Die Wirklichkeit läßt sich kaum noch karikieren, sie ist die Karikatur selbst. Kabarettisten wissen nicht mehr, wie sie noch überhöhen sollen; deshalb können sie auch nicht weiter die politische Opposition simulieren. Die müßte jetzt schon selbst ran.
Ernst Bloch meinte einst, in solchen Augenblicken müsse Schach statt Mühle gespielt werden. Erkläre das aber mal sozialistischen Oppositionspolitikern! Die wissen vor lauter Regierungsfixiertheit nicht einmal mehr, wie man Mühle spielt, von Schach ganz zu schweigen.
Und die globalisierungskritischen Bewegungen, von attac bis zu den möglicherweise nun endlich auch in Deutschland entstehenden Sozialforen? Sie scheuen das Agieren im politischen Raum. Ihre Motive dafür sind zweifellos aller Ehren wert: Sie wollen nicht so werden wie die Grünen, die einst ebenfalls als Bewegung starteten, oder wie die DDR-Bürgerrechtsbewegung, die heute als Rainer Eppelmann, Stephan Hilsberg, Vera Lengsfeld und Günther Nooke vor sich hinwest.
Gesellschaftskritische Bewegungen, deren Protagonisten sich weigern, sich mit Politik zu beschmutzen - an welchem Mißstand sich die jeweilige Bewegung auch entzündet haben mag - können nur scheitern. Bewegung ist der Ausnahmezustand von Gesellschaft. Ihren Normalzustand hat sie im ruhigen Fluß, der es den Herrschenden so einfach
macht zu herrschen. In Bewegung gerät Gesellschaft nur, wenn sich ihrer Hoffnung auf Veränderung, auf Besserung oder auf erfolgreiche Abwehr bemächtigt. Lediglich Vulgärmaterialisten glauben immer noch, Verelendung - zumindest sie allein - sei die Mutter von Bewegung.
Allerdings besteht die - gesellschaftskritische Bewegung zeugende - Hoffnung aus einem flüchtigen, kaum faßbaren Stoff. Das erklärt die Konjunkturen, denen Bewegungen unterliegen: Sie gewinnen ebenso schnell an Kraft - insofern waren die Hunderttausend am 1. November in Berlin nichts Außergewöhliches -, wie sie wieder in sich zusammenfallen. Soll eine Bewegung Kontinuität erreichen, bedarf es Organisation, Institutionalisierung und Geldes. Aber: Dann geht der gesamte Kladderadatsch des "Ankommens in der Gesellschaft", den wir seit 150 Jahren Arbeiterbewegung kennen, wieder von vorn los. Das ist die Krux. Bis heute ist dieses Problem praktisch ungelöst. Als die Partei des Demokratischen Sozialismus unter Schmerzen und Zähneklappern aus der davongejagten SED herauskroch, verkündeten die Idealistischeren unter ihren Strategen den Anspruch, künftig sowohl Partei als auch Bewegung sein zu wollen. Daß daraus nichts geworden ist, ist kein Zeugnis von Verrat - ihre einstigen Ideale und die Interessen ihrer Wähler verraten PDS-Politiker genauso handfest wie Joseph Fischer -, sondern nur Ausdruck der Unmöglichkeit, solches Postulat zu leben.
Zum einen: Partei kann nicht Bewegung sein, sie gar ersetzen; Bewegung ihrerseits kann nicht Partei werden, ohne den Charakter von Bewegung zu verlieren, also ohne aufzuhören, Ausdruck von Problemen der Gesellschaft zu sein, die zur Lösung drängen. Zum anderen: Bewegungen ohne institutionalisierte Politik sind nicht mehr als Folklore. Helmut Schmidts und Ronald Reagans Hochrüstung und nicht etwa die wirklich machtvolle Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre hat den Ausgang des vergangenen Jahrhunderts wesentlich geprägt.
Gesellschaftskritische Bewegungen haben nur dann den Hauch einer Chance, wenn sie sich Partner suchen, die sich nicht zu schade sind, deren Anliegen in den politischen Raum zu tragen und - mit entsprechendem außerparlamentarischen Druck - stückweise durchzufechten. Wo aber ist in Deutschland eine Partei, die solches zu leisten bereit wäre?

in: Des Blättchens 6. Jahrgang (VI) Berlin, 10. November 2003, Heft 23