Ein Land sieht schwarz

Was für ein Herbst im politischen Deutschland. Die Bayern-Wahl war gerade geschlagen, die Ruhe vor dem Sturm also beendet, schon nahm dieser orkanartige Stärke an. ...

... Ein wahrer Reformfuror schüttelt die Republik. Kaum hatte der Kanzler seine achte Rücktrittsdrohung ultimativ mit dem Erfolg der Agenda 2010 verknüpft und sich Angela Merkel als die Brutalstmögliche aller Reformer geoutet, brach eine Woge der Begeisterung los, schien ein ganzes Land in Verzückung zu geraten, um genau zu sein: seine bürgerliche Medienöffentlichkeit. Von FAZ bis SZ wird jubiliert: Der lang ersehnte Ruck ist da. Allenthalben raunt es "Herbst der Entscheidung". Die Zeit sei reif. Eine Hamburger Wochenzeitung gleichen Namens nimmt dies ganz wörtlich und statuiert voller Euphorie: "Deutschland ist auf dem Weg in eine andere Republik". Längst ist nicht mehr von bloßer Reform die Rede, sondern die Systeme selber - Rente, Gesundheit und Soziales - stehen zur Disposition; und plötzlich finden sich die erstaunlichsten Notgemeinschaften zusammen. Seehofer, Blüm und Schreiner streiten Seit an Seit für die sozialstaatlichen Errungenschaften der Bonner Republik. In diesem Herbst scheint alles möglich. Ein nahezu einhelliger Wille zur Dezision herrscht in der meinungsmachenden Klasse. Medial und in den beiden Volksparteien gibt die ganz große Koalition der Zumuter den Ton an - und die bürgerliche APO von Herzog bis Henkel kann ihre Fahnen wieder einrollen, ihr Ziel ist erreicht. Was aber macht der Souverän, wie reagiert die Bevölkerung? Sie schwankt zwischen apathischem Desinteresse und verängstigter Ablehnung. Völlig überrannt von den Reformsäuen, die täglich neu durchs Land getrieben werden - da hatte man sich gerade an Hartz 3 und 4 gewöhnt, und schon kommt Rürup 2 auf den Tisch, wer kann und will da noch durchblicken -, registriert sie doch sehr genau die soziale Schieflage der angestrebten "Reformen". Die Qittung kam prompt: Laut Umfragen gilt die SPD nicht mehr als Partei der sozialen Gerechtigkeit. Seit Monaten bewegt sie sich konstant zwischen 25 und 29 % - gleichzeitig flüchtet sich die Bevölkerung in die Arme von Papa Stoiber. Der Bayer avanciert plötzlich zum besten Sachwalter sozialer Demokratie. In Zeiten einer medial forcierten Krise, die täglich neue Hiobsbotschaften, Reformen genannt, mit sich bringt, üben der bayrische Sozialpaternalismus und Stoibers fürsorglicher Autoritarismus auch bundesweit ungeahnte Anziehungskraft aus. Kanzler Schröder hingegen scheint aus dem Keller gar nicht mehr hoch zu kommen. Schon lange färbt sein Ma-cher-Image nicht mehr auf seine Umfragewerte, geschweige denn auf die der Partei ab. Der Kanzler regiert mit harter Hand und seine Partei verliert mehr und mehr an Boden. Die einstige Volkspartei also auf dem Weg zur Splittergruppe?

SPD - Peitsche ohne Zuckerbrot

In der Partei regiert dementsprechend die pure Panik. Die herrschende Mehrheit, obschon selber kaum von den Reformen überzeugt, zieht alle Register der Verunglimpfung, um die wenigen Abweichler auf Linie zu bringen. Ob Sozialhilfeempfänger in Zukunft jeden "zumutbaren" Job annehmen müssen, soll für Sozialdemokraten eine Gewissensentscheidung sein? Papperlapp. Der Abgeordnete Tauss spricht von "parteischädigenden Verhalten" und für Karl Hermann Haack vom konservativen Seeheimer Kreis sind seine anders denkenden Kollegen schlicht "charakterlose Gesellen". Angesichts dieser Einschüchterungskampagne mutet es regelrecht paradox an, wenn Einpeitscher Müntefering nun gerade die Abweichler als "feige und kleinkariert" abkanzelt. Überwältigen statt überzeugen heißt die Devise. Wie derzeit in der SPD mit innerparteilichen Freund-Feind-Erklärungen operiert wird, ist einer demokratischen Partei längst nicht mehr würdig - und nur noch durch eines zu erklären: Der überwiegenden Mehrheit der Abgeordneten geht es längst nicht mehr um die Frage nach der richtigen oder falschen Politik. In der SPD grassiert die pure Existenzangst, will heißen: die Angst um die Jobs. Fraktionsgeschäftsführer Wilhelm Schmid spricht der Mehrheit seiner Genossen aus dem Herzen: "Wenn diejenigen, die unsere Reformen nicht mitzutragen bereit sind, entsprechend abstimmen, ist unser aller Karriere beendet." Waren die Sozialdemokraten 1998 mit dem Anspruch des Politikwechsels angetreten, sind sie 2003 bei der Verteidigung ihrer Pöstchen angelangt. Eines ist klar: Gerhard Schröder und seine Führungsspitze haben sich auf Gedeih und Verderb der Agenda 2010 und ihrer Durchsetzung verschrieben. Der Kanzler sieht seine einzige Chance im "Augen zu und durch". Was aber kann die SPD eigentlich noch dabei gewinnen? Offensichtlich nichts, wie die katastrophalen Wahlausgänge von Hessen, Niedersachsen und Bayern beweisen, außer der Hoffnung auf das Anziehen der Konjunktur. Was die Genossen jetzt noch bei der Stange hält, ist - neben der eigenen Karriere - die Gewissensberuhigung mit der Vorstellung einer Kanzlerin Maggie Merkel, die noch härtere Fakten schaffen würde. Was für eine Selbsttäuschung. Denn eines macht dieser Herbst eindeutig klar: Derartig einschneidende "Reformen" kann offensichtlich nur eine SPD an der Regierung durchführen - leicht auszudenken, welchen Widerstand eine oppositionelle SPD bei diesen sozialen Zumutungen geleistet hätte. Helmut Kohl hatte es ja nicht ohne Grund 16 Jahre lang nicht einmal versucht. Faktisch aber regiert die CDU heute längst wieder mit, als Antreiber der Regierung. Sie ist deshalb gut beraten, nicht alles zu blockieren - angesichts von Reformen, die sie um des Friedens in der eigenen Partei willen als Regierungspartei ebenfalls kaum durchbringen könnte, wie der Streit zwischen Stoiber und Merkel deutlich macht.

CDU - Zuckerbrot und Peitsche

Paradoxerweise kann jedoch gerade in einer gemäßigten Spaltung, so diese nicht weiter den Charakter einer wilden Kakophonie hat, die große Stärke der Union liegen: Sie stellt damit gleichzeitig die reformerische Avantgarde, Merkel, wie den sorgsamen Bewahrer, Stoiber - und wäscht doch stets ihre Hände in Unschuld. Denn der eigentliche Verantwortliche für die Grausamkeiten wird ein Anderer sein, Gerhard Schröder. Merkel und Stoiber - so könnte das neue Dreamteam der Union aussehen. Speerspitze der Moderne und Beschützer all derjenigen, die beim Fortschritt nicht mitkommen - mit der gleichen Devise gewann die SPD die Wahl 1998: Innovation und Gerechtigkeit. Heute übernimmt "Gegenkanzlerin" Merkel den Part von Schröder, und Stoiber markiert den Lafontaine. Die kühle Machtphysikerin Merkel hat die Chancen dieses Strategiemixes längst begriffen. Anstatt die Reformen schnöde zu blockieren, wird sie den Keil im Wettstreit um die weitreichendste Reform weiter in die SPD treiben. Schließlich müssen im Reformmarathon von Oktober bis Dezember die Gesetze nach der Entscheidung im Bundestag noch durch Bundesrat und Vermittlungsausschuss. Dabei aber werden Koch und Merkel der SPD das Schlucken noch so mancher Kröte abverlangen. Gleichzeitig wird eine von Müntefering auf Kadavergehorsam eingeschworene Fraktion sich von den Stoibers und Seehofers wiederholt von links überholen lassen müssen. Für die SPD als einstige Partei der sozialen Gerechtigkeit eine grausame Vorstellung.

Balsam für die Seele

Einzelne in der SPD spielen deshalb gedanklich längst mit der Option der Opposition. Aber dafür hat Schröder sein und das Schicksal der ganzen Regierungsmannschaft zu eindeutig an das Gelingen der Agenda geknüpft. Die Lage der SPD erweist sich in vierfacher Hinsicht als fatal: Wähler- und Mitgliederschwund bei fehlender Führungsalternative und gleichzeitiger programmatischer Entleerung. Das einzige, was jetzt noch helfen könnte, wäre ein konsistentes Parteiprogramm, das der inhaltlichen Misere Abhilfe schüfe und die Anhänger wenigstens mit einer Vorstellung, um nicht zu sagen: einer Vision von zukünftiger gerechter Gesellschaft ausstattete. Davon ist jedoch weit und breit nichts zu sehen, im Gegenteil. In diesem Monat steht der Programmparteitag der SPD an. Anstatt jedoch irgendeinen Versuch zu unternehmen, dem Reformwirrwarr einen roten Faden einzuweben, bricht Generalsekretär Scholz einen völlig überflüssigen Streit um den "Demokratischen Sozialismus", den Leitbegriff des Berliner Programms, vom Zaun - getreu der Devise, wenn Du Deinen Anhängern schon die härtesten Änderungen zumutest, dann nimm ihnen auch noch den ideologischen Balsam für die Seele. Als ob die Partei keine anderen Sorgen hätte. Viel gravierender als der Streit um die Traditionsvokabel ist jedoch die Infragestellung des Leitwerts soziale Gerechtigkeit. Zynischerweise könnte man zwar sagen, die SPD macht sich ehrlich - man muss jedoch hinzufügen: sie macht sich auch entbehrlich. Denn anders als CDU oder FDP wird die SPD niemals primär unter dem Freiheits-Slogan gewählt werden. Allein das Label der Gerechtigkeit verleiht der Partei einen Alleinstellungsanspruch im Wettbewerb um die Wählergunst. Was aber veranlasst eine Partei, derart leichtfertig ihr Markenzeichen aufzugeben? Der häufige Hinweis auf das englische Modell hilft hier jedenfalls nicht weiter. Einerseits basierte der Freiheits-Kurs, mit dem Tony Blair erst Labour und dann das Land eroberte, auf lang währender Überzeugungsarbeit und dem theoretischen Fundament von Anthony Giddens‘ "Drittem Weg". Demgegenüber hat die SPD das letzte Jahrzehnt programmatisch vollkommen verschlafen. Hinzu kommt aber noch, dass die englische Labour Party mit Chef-Ideo-logen Mandelson an der Spitze längst überlegt, wie wieder klassisch sozialdemokratische Gerechtigkeitsthemen den Kurs der Modernisierung ergänzen könnten. Die SPD praktiziert derzeit das Gegenteil. Ginge es in der jetzigen Situation tatsächlich nur um die Zukunft einiger gut besoldeter SPD-Abgeordneter, könnte sich der außenstehende Beobachter gelassen zurücklehnen. Aber fatalerweise geht es bei dem derzeitigen Überbietungswettbewerb der beiden Volksparteien um weit mehr, nämlich um die Aushöhlung des Anspruchs auf Schutz der sozial Schwachen. Hatte die westliche Bundesrepublik bis 1989 ein gewissermaßen externes Korrektiv, nämlich den Kommunismus, demgegenüber der Kapitalismus seine auch soziale Überlegenheit täglich in der Systemkonkurrenz demonstrieren musste, ist diese soziale Korrektur jetzt aus dem Inneren des Systems selbst zu erzeugen. Da aber jenseits der SPD derzeit keine ernsthafte parlamentarische Kraft existiert, die diese Rolle wirksam einnehmen könnte, kommt der Partei eine gegenüber Â’89 noch gewachsene Bedeutung für den sozialen Frieden zu. Vor 20 Jahren prophezeite Ralf Dahrendorf das "Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts". Heute droht das Ende der Sozialdemokratie als Volkspartei. Welche Folgen das für das bisherige "Modell Deutschland" - den sozialen Ausgleich im Namen gerechter Verteilung - haben wird, lässt sich heute noch gar nicht absehen. Doch steht zu fürchten, dass wir es bei dieser Bundesrepublik tatsächlich mit einem "anderen Deutschland" zu tun bekämen.