Orwell und die Achse des Guten

So viel Orwell war nie. Krieg ist Frieden, hieß es in der beklemmenden Totalita-rismus-Vision des 20. Jahrhunderts. Darin unterscheidet sich 2003 wenig von "1984", gewiss. Aber die Art, wie die ...

... gesamte zivilisierte Welt nunmehr seit Monaten einer Sprachregelung gehorcht, die die Wahrheit auf den Kopf stellt, hätte selbst Orwell die Sprache verschlagen. Um es einmal bis zur Kenntlichkeit zu simplifizieren: Amerikas Präsident kündigt seit Monaten an, er werde im Irak einmarschieren, gegebenfalls auch gegen die versammelte Völkergemeinschaft inklusive Weltsicherheitsrat - aber die Welt diskutiert, ob der Irak die Vereinigten Staaten bedroht und wie der UNO endlich der schuldige Respekt zu verschaffen sei. Durch Verschärfung des Drucks, versteht sich. Auf wen? Auf Saddam, natürlich. Gegebenfalls auf die UNO selbst, zur Erzwingung verschärfter Selbstachtung oder so. Kein Mensch thematisiert- in den internationalen Gremien und chattering classes - die eklatante Missachtung der UNO durch Washington und die eklatante Kriegsgefahr, die von dem scheinbar unaufhaltsam vorangetriebenen Aufmarsch amerikanischer Streitkräfte rings um den Irak ausgeht, von dem enorm gesteigerten Risiko terroristischer Anschläge ganz abgesehen. Die Ohren der Welt sind taub vom Geklapper der tibetanischen Gebetsmühlen, die allenthalben die New-speak-Botschaft aus Washington repetieren. Mag sie auch Urteilsvermögen und Selbstachtung jedes denkenden Menschen beleidigen: Wenn die gnadenlose Wiederholung nicht reicht, wird es eben die nackte Macht der Hyperpuissance richten müssen. Wehe jedem, der Gesslers Hut nicht grüßt. Wo bleibt das Kind aus Hans Christian Andersens Märchen "Des Kaisers neue Kleider", das ausspricht, was alle sehen: Unter dem imperialen Mantel steckt nichts als die nackte Arroganz der Macht, erschlichener Macht zudem. Der sich da als Weltenrichter aufspielt, stapelt hoch: ein frömmelnder Wicht, der, obwohl er selbst die Regierungsgewalt im eigenen Land undurchsichtigen Machenschaften verdankt, sich nichtsdestotrotz anmaßt, die Welt regieren zu wollen, im Zweifel an den einzig legitimen Gremien und Prozeduren der Völkergemeinschaft vorbei. Kein Mensch spricht aus, was alle Welt sieht: Nicht der Irak bedroht die USA - die USA schicken sich, umgekehrt, an, den Irak anzugreifen und zu besetzen. Und wie immer es mit dem Respekt Saddams für die Vereinten Nationen aussehen mag: Es ist Bush, der der Weltorganisation mit unverhohlener Verachtung begegnet und sie ultimativ auffordert, seinen Regeln zu folgen oder unterzugehen. Mag sein, dass der Irak den UN-Inspektoren mehr Vertrauen entgegenbringen sollte - die Demonstration absoluter Missachtung für die Arbeit der Inspektoren kommt anderswo her: Washington bemüht sich nicht einmal mehr zu verbergen, dass es an einem Erfolg der Inspektionen keinerlei Interesse hat und Blix und ElBaradei - eben wie den Vereinten Nationen insge-samt-lediglich eine Statistenrolle in seinem Großen Spiel zubilligt: Sie sollen die bestellten Stichworte abliefern und dann wie ihre Vorgänger 1998 (oder 1999 im Kosovo) rechtzeitig die Koffer packen, bevor die Bomber starten. Kurzum: Krieg ist Frieden! In diesem Orwellschen Diskurs ist es nicht derjenige, der unter den Augen der Welt alle Vorbereitungen zu einem "Präven-tiv"-Krieg trifft, sondern das Objekt dieser Angriffsvorbereitungen (ständig im Visier umfassender Satellitenüberwachung, und offensichtlich nicht seinerseits dabei, zum Krieg aufzumarschieren), in dessen Hand die Entscheidung über Krieg oder Frieden liegt. Bushs Strategen scheinen sich geradezu ein Vergnügen daraus zu machen, aller Welt zu demonstrieren, dass sie es nicht nötig haben, irgend jemanden von der Stichhaltigkeit ihrer Prämissen und Schlüsse zu überzeugen - dass ihre Macht, ihr Belohnungs- und Bestrafungspotential (die Mischung aus Bestechung und Erpressung), vollkommen ausreicht, Gefolgschaft einzufordern und Widerspruch rücksichtslos zu übergehen, zu sanktionieren. Unfasslich, dass der Außenminister dieser Macht, der als der klügste, rationaler Abwägung am ehesten zugängliche Kopf der Bush-Administration gilt, den Spitzen der internationalen Diplomatie mit einer Farce wie der Multimediashow im Sicherheitsrat am 5. Februar 2003 die Zeit zu stehlen wagt. Unfasslich, dass es offiziell vollkommen folgenlos bleibt, wenn ein Kernstück der von Powell so pompös vorgetragenen "Evidenz" einen Tag später als Altpapier, als plumper Betrugsversuch aus dem Hause Blair, identifiziert wird. So wenig Mühe darauf verwandt wird, tatsächlich "gerichtsfeste" Beweise vorzubringen, tatsächlich zu überzeugen, so energisch spitzt Washington den Diskurs auf die scheinbar einzig noch relevante Frage zu: Seid ihr für oder gegen uns? Glaubt ihr uns, auch ohne Beweise - oder bezichtigt ihr uns implizit (gar: ausdrücklich), die Weltöffentlichkeit täuschen zu wollen? Beweise zu fingieren? Den Krieg zu wollen, den wir ganz offensichtlich führen wollen? Begreiflich, dass niemand in diese Falle gehen und sich damit der "Achse des Bösen" zuordnen, von Rumsfeld verarzten lassen möchte. Nur zu verständlich, dass sich deshalb alle Welt verhält wie die Leute in Andersens Märchen. Verständlich? Auf den ersten Blick. Aber wohin soll dieserart Feigheit vor dem Freunde führen? Wie lässt sie sich mit der Selbstachtung vereinbaren? Und zwar mit der aller Beteiligten?

Friendly fire oder Die Spaltung des Westens

Was immer aus den Nah- und Mittelostplänen der Bush-Administration wird: Ihr erstes Opfer steht fest, bevor ein GI irakischen Boden betrat. Die Europäische Union, die wir kannten, ist tot. Exitus durch Suizid. Es geschah am 29. Januar 2003, als acht europäische Regierungs-bzw. Staatschefs dem Bush-Regime eine (bestellte) Ergebenheitsadresse zukommen ließen und damit vermutlich den kurz zuvor in Kraft getretenen Unionsvertrag von Nizza brachen, sich jedenfalls demonstrativ über die zwei Tage vorher von den 15 EU-Außenministern mühsam zustandegebrachte EU-Platt-form hinwegsetzten.1 Außer Italien - alias Berlusconi, denn die Italiener folgen Bush in der Irakkriegsfrage ebenso wenig wie die Einwohner irgend eines anderen Landes - gehört keiner der Staaten, deren Spitzenvertreter sich der Fronde gegen Paris und Berlin anschlossen, zu den Initiatoren der (west-)europäischen Integration. Britannien scheint zurückgefallen in die Rolle, aus der Tony Blair zu Beginn seiner Amtszeit energischer als viele Vorgänger herausstrebte: Fast wie in den Gründerzeiten der EWG/EG/EU gefällt es sich darin, die Staaten der Peripherie gegen Kerneuropa zu sammeln und zu organisieren. De Gaulle scheint letztlich Recht zu behalten: Auf London ist kein Verlass. Britannien kann es nicht lassen, die Kontinentaleuropäer gegeneinander auszuspielen. Aber die Wechselbäder der letzten Wochen raten zu Nüchternheit: erst die Empörung über Donald Rumsfelds (offenbar keineswegs einer bloßen Laune entsprungenem) Versuch, "neue" gegen "alte" Europäer auszuspielen; anschließend die Euphorie, in der die amerikanische Provokation als unfreiwillige Geburtshelferin einer gemeinsamen EU-Außenpolitik unter deutsch-französischer Führung gefeiert wurde - und nur Tage später die kalte Dusche aus London (Madrid, Wall Street, Washington), das Comingout der Rumsfeld-Europäer. Jetzt sah das eben zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags reanimierte deutsch-französi-sche Tandem tatsächlich alt aus. Was tun? - Blinde Aufregung und hohle Kraftworte schaden nur. Man muss der Realität, wie sie ist, ins Auge schauen: Außenpolitisch ist Europa gegenwärtig weniger denn je im Stande, mit einer Stimme zu sprechen. Washington beherrscht die atlantische Szene, wie es die Entscheidungsprozesse der Vereinten Nationen dominiert. Damit könnte man leben, ja, es im Blick auf mögliche Alternativen und erst recht auf die Erfahrungen beider Weltkriege als heilsam bewerten, wäre Bushs Amerika der benevolent hegemon, als der es sich ausgibt. Die Wirklichkeit sieht, seit 9/11 die Vereinigten Staaten in den Ausnahmezustand versetzt hat und Bush jun. als Kriegspräsident regiert, erschreckend anders aus. Gegen die tödliche Mischung aus imperialer Verunsicherung und Machtarroganz kommt letztlich auch die im Sicherheitsrat demonstrierte hohe Schule der französischen Diplomatie nicht an, wenn ihr nicht klüger zugearbeitet wird, beispielsweise aus Berlin. Allerdings: Wie verletzlich gerade die Bundesrepublik gegenüber amerikanischem (oder amerikanisch inspiriertem) Druck ist, davon haben die mehr oder weniger ernst zu nehmenden Manöver, Provokationen und Fallenstellereien nach Schröders "ohne uns" einen Vorgeschmack gegeben; und alle sind steigerbar - das potentielle Himmelfahrtskommando in Afghanistan, die Nötigung zum Kurswechsel in Sachen EU/Türkei, die Anforderung von Patriot-Raketen, die es anscheinend nur bei der Bundeswehr gibt, mal für Israel, mal für die Türkei; die Posse um die "Fuchs"-Anforderung aus Israel. Die Liste wird jeden Tag länger.

Amerika wird wieder zu sich kommen

Kein Zweifel, die Kriegspräsidentschaft des George W. Bush droht die Welt, die wir kennen, aus den Angeln zu heben. Aber es geht nicht länger an, auf diesen Vabanque-Spieler und seine Truppe zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Wer so überzieht, muss scheitern. Eher früher als später wird dieser Präsident für seine abenteuerliche Politik zur Rechenschaft gezogen werden, politisch wie finanziell, innenpolitisch für die "unamerikanische" Homeland Security-Politik und sein absurdes Haushaltsgebaren (die Verschleuderung der von Clinton so brav auf Kosten der Sozialhilfeempfänger angesparten Staatsreserven beispielsweise), und innen- wie außenpolitisch für die von seiner Administration zu verantwortenden Kriege und Kriegskosten, für die Ruinierung der Bündnisse Amerikas, den willkürlichen Umgang mit Regelwerk und Institutionen der internationalen Gemeinschaft. Amerika lässt sich nicht über längere Zeit von Extremisten regieren. Die Umstände, unter denen die Bush-Gang die Macht ergriff, sind unvergessen, auch wenn man einstweilen lieber nicht darüber spricht. Gewiss, in Zeiten politischer Hysterie konnte schon einmal ein politisch unzurechnungsfähiger Politiker wie Senator McCarthy das Land terrorisieren. Aber Amerikas politische Kultur war stark genug, sich aus eigener Kraft zu befreien, von seiner Hysterie ebenso wie von dem mediokren Hexenjäger, den diese nach oben gespült hatte. Gerade jetzt braucht Amerika aufgeklärte, standfeste Freunde, keine Speichellecker. Dass Unbeteiligte sich wegducken, wenn jemand Amok läuft, und alles versuchen, seine Wut nicht auf sich zu ziehen, versteht man. Freunden (riskieren wir das große Wort) steht dieses Verhalten nicht zu: Sie sind verpflichtet, den außer sich Geratenen zur Besinnung zu rufen, ihm in den Arm zu fallen, ehe er irreparablen Schaden anrichtet.

Rekonstituierung Kerneuropas

Europa schwankt derzeit zwischen Selbstaufgabe und selbstmitleidigem Trotz. Letzterer führt ebenso in die Irre wie erstere. Lieber keine Europäische Union als eine, die ihre Identität aus wohlfeilem Antiamerikanismus bezieht! Schon jetzt kann einem nur mulmig werden angesichts des ideologischen Unrats, der im amerikanisch-europäischen und nun auch innereuropäischen Kampfgetümmel in Umlauf kommt, wobei der aufgewirbelte Bodensatz alteuropäischen, speziell altdeutschen AntimamerikanismusÂ’ gewiss nicht weniger abstößt, politisch nicht weniger umweltschädlich wirkt als die, eher komischen, Auswüchse eines zeitgenössischen Anti-Europeanism auf der anderen Seite.2 Es macht sich allen Ernstes wieder breit: das dumme Geschwätz von der Geschichtslosigkeit der Amerikaner, der überlegenen historischen (oder kulturellen) Kompetenz der Europäer oder gar der "verspäteten Nation" in Europas Mitte. Aber alles was für die politische Zivilisation des Westens heute wichtig ist, haben doch Amerikaner und Europäer in den zweihundert Jahren seit 1776 und 1789 gemeinsam entwickelt; und der Anteil der Amerikaner wiegt gewiss nicht leichter als der des alten Kontinents (sofern es "Europa" überhaupt gab) oder gar der Deutschen, die erst ihren antiwestlichen Sonderweg bis zum bitteren Ende absolvieren mussten, ehe sie die Freiheit - als Geschenk der Sieger - endlich annahmen. Für die Bundesrepublik - deren Regierung sich in der Auseinandersetzung auf präzedenzlose Weise exponiert hat - stellt die Spaltung des Westens eine noch dramatischere, an die Wurzeln ihrer politischen Existenz und ihres Selbstverständnisses rührende Herausforderung dar als selbst die Kriegsgefahr am Golf (auch wenn diese ihrerseits historisch neue Züge trägt und nicht einfach mit den vorherigen Golfkriegen und der seit 1991 anhaltenden amerikanisch-bri-tischen Gewaltanwendung gegen Bagdad in einen Topf geworfen werden darf). Die offen zu Tage getretenen, durch demonstrative Akte aller Beteiligten vertieften Spaltungslinien innerhalb des Westens (sowohl als Werte- wie als Handlungsgemeinschaft) erschüttern die Fundamente der Bonn/Berliner Republik, zunächst in ihrer atlantischen, mittlerweile auch in ihrer europäischen Dimension. Fest steht: Die Bundesrepublik muss sich ihrer außenpolitischen, internationalen Koordinaten vergewissern und dafür sorgen, dass die gegenwärtigen (nicht nur innerwestlichen) Turbulenzen keine Essentials über Bord gehen lassen. Sie muss ihren europäischen Standort deutlicher definieren, im Lichte neuer Konstellationen wie der Osterweiterung und des amerikanischen Ausnahmezustands. Dabei darf sie nicht der allzu nahe liegenden Gefahr erliegen, ihre politische Identität negativ - durch Stilisierung eines Feindbilds Amerika oder Selbstüberhebung, etwa auf Grund angeblich älterer Kultur, Geschichte, aus gelungener "Vergangenheitsbewältigung" erwachsender moralischer Überlegenheit etc. - bestimmen zu wollen. Wohin das führen kann, demonstriert die geschichtspolitische Selbstvergewisserung des ersten deutschen Nationalstaatsversuchs in der gewollten Abgrenzung gegen Frankreich, gegen die Ideen von 1789, kurzum gegen den dekadenten Westen - dem man dann 1945 gerne die Konkursverwaltung überließ.3 Vorläufiges Fazit: Der politische Flurschaden, den Bush jun. und seine Mitläufer anrichten, erfordert weit energischere Gegenwehr als bisher. Die Folgen des 11. September, der islamischen und amerikanischen Fundamentalismus zum Zwei-Komponenten-Gift amalgamierte, werden uns auf Jahre in Atem halten. Aber die Präsidentschaft des George W. Bush markiert nicht das Ende der Geschichte. Amerika wird sich besinnen. Es ist an den Europäern, sich jetzt unter erhöhtem Druck über sich selbst schlüssig zu werden.4 Ohne Rückbesinnung auf das Europa der Gründer, ohne die Neukonstituierung Kerneuropas wird die EU degenerieren. Als bessere Freihandelszone zu enden, wäre noch die freundlichere Perspektive. Es kann viel schlimmer kommen. Jugoslawiens blutiges Ende, und welche Rolle die Machtzentren des alten Europa dabei mit- und gegeneinander spielten, bleibt unvergesslich. Das "neue Europa" andererseits wird bald erkennen müssen, dass seine Führer auf das falsche Pferd gesetzt haben. Denn Amerika dürfte, von kurzatmigen Bestechungsversuchen wie im Fall der Türkei abgesehen, weder geneigt noch finanziell in der Lage sein, die EU-Neumit-glieder zu alimentieren oder ihre Produkte und Arbeitsemigranten zu absorbieren. 1 Vgl. den Dokumententeil dieses Heftes und Norman Birnbaums Offenen Brief an die Acht. 2 Vgl. Timothy Carton Ashs bemerkenswerte Beobachtungen in der "New York Review of Books", 13. 2. 2003. 3 Überaus lesenswert in diesem Zusammenhang die erweiterte Neuausgabe von Dan Diners Buch "Verkehrte Welten" unter dem Titel "Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments", Berlin 2002. Wer sich von der gewollt polemischen Zuspitzung abschrecken lässt, versäumt wichtige Lektionen. Im neuen Schlusskapitel des Buches konfrontiert Diner eine idealtypische Darstellung der american exception, der Vereinigten Staaten als Weltrepublik, mit einer beunruhigt-beunruhigenden Diagnose der Deformationen im Gefolge des 11. September 2001. Kritisch dazu Micha Brumlik in der "Frankfurter Rundschau", 10. 2.2003, S.8. 4 Vgl. den europapolitischen Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe. - D. Red.