Ungarn. Die Parlamentswahlen 2002 und der verspätete Beginn von Vergangenheitsbewältigung

Ungarn hat im Frühjahr 2002 gewählt. Bei der Wahl standen zwei Parteienkoalitionen einander gegenüber. Niemand hat vor den Wahlen geahnt, daß der Sieg der linksliberalen Koalition ...

... ein Ende und einen Neubeginn bedeutet. Ein Ende des relativ schwachen Interesses für die Vergangenheit, für die Aktivitäten der Staatssicherheit und des Kádár-Regimes sowie dessen Hinterlassenschaften. Die Wahl von Péter Medgyessy, einem früheren Nomenklatura-Mitglied, zum Ministerpräsidenten der neuen Regierung hat nämlich eine Flut von politischen, moralischen und historischen Diskussionen, Enthüllungen und Konflikten eröffnet, die bis in den Herbst 2002 hinein das politische Klima in Ungarn nachhaltig beeinflussen. Trifft der Eindruck zu, daß die zwölf Jahre Ruhe um die Hinterlassenschaften der ungarischen Stasi jetzt zu Ende gehen? Und inwiefern hängt das mit einem wichtigen Akt der neuen Demokratie, mit den nationalen Parlamentswahlen, zusammen? Der Sturm auf die Archive hat in Ungarn nicht im Jahre 1989, sondern nach den Wahlen von 2002 stattgefunden, und nicht 1989 sind Bürgerkomitees für die Stasi-Vergangenheit gegründet worden, sondern 2002 entstanden Bürgerinitiativen für den Rücktritt des Ministerpräsidenten der MSZP, Péter Medgyessy.
Die Frage der Vergangenheitsbewältigung war eher eine Sache der politischen Parteien und ihrer Konflikte geblieben, die den normierten, kontrollierten Zugang und die Rechtsfolgen der kommunistischen Vergangenheit nach ihren jeweiligen politischen Positionen darstellen und gestalten wollten, bis 2002 die Betriebspanne die "Mauer der Stille" zufällig einriß. Der Gesetzgebungsprozeß über Lustration und Aktenzugang, der sich lange Jahre hinzog, folgte weniger den Impulsen der Bürgergesellschaft als der Logik des parteipolitischen Kampfes, sowohl 1997 als auch 2002, beim ersten und zweiten sog. "Agentengesetz". Zunächst will ich versuchen, den deutschen Lesern einen kurzen Einblick in die zeitgenössischen ungarischen politisch-intellektuellen Diskurse zu vermitteln und deren Unterschiede zu ähnlichen Prozessen nach dem Fall der Mauer und nach der deutschen Wiedervereinigung zu verdeutlichen.
Divergierende Ausgangspunkte der Demokratisierung und Vergangenheitsbewältigung: die DDR und Ungarn
Für die deutschen Leser lohnt es vielleicht, sich die Unterschiede der Ausgangsbedingungen zu vergegenwärtigen, die zu einer unterschiedlichen Bewertung dieses Abschnitts sowie zu Unterschieden in der Bewältigungsleistung hinsichtlich der kommunistischen Vergangenheit zwischen der DDR und Ungarn geführt haben.
1. In Ungarn blieb nach dem Zweiten Weltkrieg die Welle der Vergangenheitsbewältigung aus, die im westlichen Deutschland einsetzte und die nach der Auflösung des SED-Regimes im wiedervereinigten Deutschland eine Herausforderung für den Umgang mit den Folgen der Diktatur darstellte.
2. Im westlichen Ausland gab es keine Forschungen zur ungarischen Staatssicherheit, ihrem Verhalten zur Opposition und zum Westen, die vom Umfang her der zur DDR vergleichbar gewesen wären. Wenn überhaupt, wurden sie von ungarischen Exil-Oppositionellen mit akademischem Status betrieben, mit Schwerpunkt auf dem Volksaufstand von 1956.
3. Für die früheren ungarischen Oppositionellen gab es weitaus größere Möglichkeiten, nach der Wende erfolgreich politisch tätig zu sein, als für die ostdeutschen Bürgerbewegten, und die parteipolitisch engagierte ehemalige Dissidenz hat ihre Katakomben-Vergangenheit bisher nicht so intensiv gepflegt wie die von der "Bonner Realpolitik" marginalisierte Nischenkultur der DDR.
Die Zwiespältigkeiten hinsichtlich der Vergangenheitsbewältigung in Ungarn resultieren teilweise aus dem Charakter des Regimes von János Kádár.1 Der Mann, der vom Sieg der Konterrevolution 1956 bis zur demokratischen Wende 1988 an der Spitze der ungarischen Parteiführung stand, war nämlich kein "Hardliner" vom Typ Ceausescu oder Honecker, sondern jemand, der wesentliche Ziele der Destalinisierung auch nach dem Sieg über die Revolution aufrecht erhielt und nicht unbedeutende Tendenzen einer Liberalisierung des Regimes eingeleitet bzw. toleriert hat. "Dialektik von Repression und Toleranz" bzw. "repressive Toleranz" gehört zu den wesentlichen Charakteristika der posttotalitären, autoritären Regime in Osteuropa und auch in Ungarn. Zu den zahlreichen Neuerungen und Innovationen des Kádár-Regimes - verglichen mit denen des rein totalitären Regimes in Ungarn vor 1953 - gehören unter anderem folgende, die wir an dieser Stelle hervorheben möchten:
1. eine Zieltransformation der ungarischen Repressionsorgane von der Bekämpfung der inneren Feinde (Opposition und Protest), die im Mittelpunkt stand, zur Bekämpfung der äußeren Feinde (Exil und "Imperialisten");
2. die Befriedigung der Konsumwünsche der Bevölkerung durch das System "Legitimation durch Konsumtion" (die überaus große Stabilität des Kádár-Regimes ist teilweise auf die Befriedigung der Konsumwünsche breiterer Bevölkerungsschichten und eine spürbare Liberalisierung, hin zu wachsender persönlicher Freiheit, zurückzuführen);
3. die als "Kampf an zwei Fronten" definierte politische Strategie, das Auftreten gleichermaßen gegen den "Revisionismus" von Imre Nagy (hingerichteter Führer der 1956er Revolution) wie gegen den Stalinismus von Rákosi;
4. ein weiterer innerer Konflikt innerhalb der Elite zwischen den der Linie von Imre Nagy nahestehenden Reformern und den "Hardlinern", die an der Aufrechterhaltung des alten Systems interessiert waren (der Kampf von Reformern und Reformgegnern durchzog die Geschichte des Kádárismus);
5. die Neuorganisierung des Sicherheitsapparates: Auflösung der uniformierten, organisatorisch selbstständigen Stasi nach 1956, deren Eingliederung in das Innenministerium und die Sicherung einer gewissen Kontrolle der Parteielite über ihre Aktivitäten, so daß sie nicht mehr als Kampfmittel im Konflikt der verschiedenen Führungsgruppen funktionieren konnte. Einführung von "weichen" Methoden in den Kontrollapparat, ein Aufgeben der Strategie der Schauprozesse und exemplarischen Gefängnisstrafen gegenüber politischen Dissidenten nach dem Ende der konterrevolutionären Terrorwelle. György Aczél, ein gut taktierender Funktionär, wurde zum Kulturpapst der Kádár-Ära und versuchte mittels Überredung, persönlichen Kontakten und individuellen bzw. Gruppenbegünstigungen die Intellektuellen zu befriedigen, sie auf die Seite des Regimes zu bringen - mit erheblichem Erfolg.2
Verglichen mit der DDR3 war die offizielle Repressionsstrategie in Ungarn eine andere. Die Repression gegenüber der sich entwickelnden "Mikropolitik", Dissidenz und Opposition in Ungarn seitens der Behörden war zunächst vom Selbstbewußtsein der "fröhlichsten Baracke des Lagers" geprägt. "Toleranz kann man sich leisten", war die herrschende Attitüde gegenüber den entstehenden alternativen Milieus.4 Die Ausweitung der Proteste zu Beginn der 70er Jahre und der vielleicht zunehmende Druck aus Moskau gegen die Reformen, die Spätfolgen der Intervention in Prag haben aber dazu beigetragen, daß härtere Strategien befürwortet wurden und die softliner-Methoden von Aczél einem härteren Auftreten gewichen sind. Die Ausweitung der Repression entsprach aber keiner geradlinigen Tendenz im Ungarn der 80er Jahre. Die Mobilisierung der Massen gegen das Regime ist nämlich trotz der Polen-Krise am Beginn der 80er Jahre ausgeblieben, und die Opposition selbst war darüber teilweise bitter enttäuscht. Einige folgerten daraus, daß weitere Aktivitäten sinnlos seien, andere aber haben, dem polnischen Muster folgend, die Strategie des "radikalen Reformismus" von Adam Michnik anzuwenden versucht, die Foren und Institutionen der Gegenkultur und Gegenöffentlichkeit weiter auszubauen.5 So kam es zur Etablierung der einflußreichsten Samizdat-Zeitschrift "Beszélõ"6, und deren Erfolg hat andere "politische Unternehmer" dazu gebracht, die Organe der Gegenöffentlichkeit weiter auszubauen.
Es sei dahingestellt, ob das Kádár-Regime diese Initiativen wegen seiner internationalen Verschuldung, aufgrund außenpolitischer Strategien und Hoffnungen duldete, oder ob die Konspiration so erfolgreich war, daß sie nicht zu stoppen war - zu Beginn der 80er Jahre jedenfalls kam es zum Ausbau und zur Verstärkung der Gegenöffentlichkeit und oppositionellen Gruppen in Ungarn. Die Konflikte und Kooperationen der kleinen "Szene" bildeten gewisse Foren, Rituale und Gegeninstitutionen aus - wie den in Privatwohnungen abgehaltenen alternativen Unterricht, die zu politischen Diskursen "mißbrauchte" Party, die Proteste am Tag der Revolutionen als "Erinnerung" (eine eigentümliche Form des Protestes, "memorial protest"), den Austausch und die informelle Verbreitung von Samizdat sowie die Kontakte mit westlichen Unterstützern und Medien, die vom Regime teilweise toleriert wurden. Aus dieser kleinen Szene selbst hätte die große Wende sich sicherlich nicht entwickelt, aber ohne relativ breite intellektuelle Gruppierungen mit einer alternativen politischen Sozialisation, Gruppenerfahrungen von Protest und Repression, Diskussions- und Allianzkultur hätte sich die neue politische Elite der ungarischen Parteien sicherlich nicht so schnell entwickelt. Die Fragmentierung der ungarischen Opposition, die schon in Analysen aus den 70er Jahren festgestellt worden ist7, hat die vorübergehende Existenz einer dominierenden Sammlungsbewegung, wie SolidarnoÂœæ in Polen oder Charta 77 in der Tschechoslowakei, effektiv verhindert, und die verschiedenen intellektuellen Milieus der Opposition haben sich während der Wende 1988/89 zu politischen Parteien entwickelt.
Die Wende in Ungarn hat früher begonnen als in der DDR, und sie hat schon früher die "oppositionelle Identität" gefährdet bzw. zu einer politischen Mobilisierung im öffentlichen Raum mit parteipolitischem Charakter geführt. Teilweise deswegen sahen die neuen Organisationen ihre Hauptfeinde nicht mehr in Stasi und Parteielite, sondern in den konkurrierenden politischen Lagern. In Ungarn gab es seit Beginn des Jahres 1988 rechtlich verankerte Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, während in der DDR die Stasi noch mit der gewaltsamen Unterdrückung von Demonstrationen beschäftigt war. So kann man die Geschichte von Dissidenz und Opposition in Ungarn eigentlich nur bis 1988 datieren.8 In diesem Übergangsjahr vollzog sich in der Öffentlichkeit die Ausbildung neuer Bürgerrechte, einer Parteienlandschaft und demokratischer Freiheiten. Im stillen jedoch konnten die ungarischen Sicherheitsorgane noch bis Anfang 1990 ihre alten Aktivitäten fortführen, die Bespitzelung oppositioneller Individuen und Gruppierungen.
1988/89 sind die Jahre des Übergangs, in denen die alte Dissidenz sich zugunsten einer neuen Politik auflöst, aber der Kampf zwischen Alt und Neu ist nicht entschieden bis zu den Ergebnissen der ersten freien Wahlen von 1990 und der zuvor vollzogenen Auflösung des Stasi-Apparates. In dieser Phase erfolgt der Übergang von der Illegalität in die Öffentlichkeit, von Gruppierungen zu Parteien, von Robin Hoods zu Menschenrechtsaktivisten, während die andere Seite - Stasi, Polizei, Parteiapparat - langsam ihre Selbstsicherheit und die Macht verliert. Die Determinanten dieser Prozesse liegen natürlich nicht nur in Ungarn, sondern auch in Glasnost und Perestroika von Gorbatschow, in den Kämpfen und Kompromissen der SolidarnoÂœæ in Polen, doch ohne eine politisch aktive Dissidenz und Opposition in Ungarn wären diese Prozesse der Demokratisierung und Öffnung schwieriger vonstatten gegangen und hätten weniger stabile Ergebnisse gebracht. Die Demokratie hat schnell und konfliktfrei gesiegt, die Stasi war aufgelöst, keine Listen von Mitarbeitern und keinerlei Archivmaterialien sind an die Öffentlichkeit gekommen. Eine erste Regelung zur Aktenöffnung verabschiedete die erste sozialliberale Regierungs-Koalition 1996/97 - wegen mehrerer Überprüfungen beim Verfassungsgericht -, und eine zweite Regelung im Sommer 2002 ist nach den Ergebnissen der diesjährigen Parlamentswahlen von der zweiten sozialliberalen Koalition geschaffen worden.
Die Wahlen von 2002 als Beginn einer neuen Welle der Vergangenheitsbewältigung in Ungarn
Ungarn wurde von 1998 bis 2002 von einer Mitte-Rechts-Koalition regiert, der drei Parteien angehörten: als führende Kraft der Bund Junger Demokraten - Ungarische Bürgerliche Partei (Fiatal Demokraták Szövetsége - Magyar Polgári Párt; FIDESZ), das Ungarische Demokratische Forum (Magyar Demokrata Fórum; MDF) und die Unabhängige Partei der Kleinlandwirte, der Landarbeiter und des Bürgertums (Független Kisgazda-, Földmunkás és Polgári Párt; FKGP). Diese Koalition wurde abgelöst von den früheren Oppositionsparteien: Ungarische Sozialistische Partei (Magyar Szocialista Párt; MSZP) und Bund Freier Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége; SZDSZ). Das Ergebnis ist ähnlich dem von 1994; auch damals hatten sich die Parteien der zuvor regierenden Mitte-Rechts-Koalition verabschieden müssen, und die Oppositionsparteien, die die damalige Regierung abgelöst haben, waren ebenfalls MSZP und SZDSZ, die dann bis 1998 die Regierung bildeten. FIDESZ war und blieb 1994 in der Opposition, war aber 2002 die führende Kraft der abdankenden Regierungskoalition. 1990 und 1998 haben die Mitte-Rechts-Parteien, das "bürgerliche" Lager, das Ruder in die Hand bekommen, 1994 und 2002 waren es die koalierenden links-liberalen Kräfte, die Ungarn auf der Basis der entsprechenden Wahlergebnisse regierten. "Dritter Weg", Grüne, Kommunisten haben es seit dem Regimewechsel nicht ins ungarische Nationalparlament geschafft; eine rechtsradikale Partei, die Partei der Ungarischen Gerechtigkeit und des Ungarischen Lebens (Magyar Igazság és Élet Pártja; MIEP), war aber 1998-2002 mit einer eigenen Fraktion präsent.
Was ist neu an den Wahlen von 2002? Das Wahlsystem ist im großen und ganzen von 1990 bis 2002 fast unverändert geblieben, die einzige bemerkenswerte Veränderung war 1994 die Erhöhung der parlamentarischen Eintrittshürde von vier auf fünf Prozent, was aber von den damals im Parlament vertretenen Parteien im Konsens akzeptiert wurde. Ungarn ist einheitlich, zentralisiert, es gibt keinen Föderalismus, keine Landtagswahlen und Parlamente, die Kommunalwahlen finden im Herbst des Parlamentswahljahres statt. Das kommunale Wahlsystem ist ziemlich kompliziert. Budapest als Zweimillionenstadt hat ein eigenes System, es gibt die ländlichen Bezirke, die Komitate (megye), und die kleinen Kommunen haben ebenfalls ihre eigene Regel. Angesichts dieses differenzierten Systems sind als die wirklich großen politischen Wahlen in Ungarn die Parlamentswahlen anzusehen. Es gibt (bisher) keine Europa-Wahl, der ungarische Präsident wird vom Parlament gewählt, Plebiszite sind unbekannt, direktdemokratische Elemente schwach institutionalisiert; also darf man sagen, die einzige große Anstrengung für die ungarischen Parteien sind die Parlamentswahlen - verglichen mit den bundesdeutschen Parteien, die sich alle an den zuvor erwähnten Herausforderungen messen lassen müssen. Die Links-Rechts-Achse ist in Ungarn früh und fest im Parteiensystem institutionalisiert worden, die Parteien sind recht stabil, alle jetzt agierenden großen Parteien bestanden schon zur Zeit des Regimewechsels. Es gibt eine Konzentrations- und Polarisierungstendenz im Parteiensystem, der entsprechend sich die beiden Achsen und die meisten Wähler um Links-MSZP sowie Rechts-FIDESZ konzentrieren. Die kleineren und mittleren Parteien sind aber noch nicht verschwunden und werden dies wahrscheinlich auch nicht, wie im Wahljahr 2002 Relevanz und Präsenz von MDF und SZDSZ gezeigt haben. Der Nichtwiedereinzug in das nationale Parlament bedeutet in Ungarn zumeist das politische Ableben der entsprechenden Parteien, wie es der Fall der Christdemokraten 1998 und der der FKGP 2002 zeigt. Die Konzentrations- und Polarisierungstendenzen haben ihre Wurzeln sowohl im Wahlsystem, das bei Auszählung und Registrierungsmethoden die Tendenz zur Begünstigung der größeren Parteien hat, als auch im politischen System mit dem konstruktiven Mißtrauensvotum, starken Links-Rechts- Orientierungen, sowie in polaren politischen Denkmustern (gleichsam dem Politikverständnis von Carl Schmitt folgend), die die politische Kultur wesentlich prägen.
Die Parlamentswahlen von 2002 waren von den drei wachsenden Tendenzen der Politisierung, Mobilisierung und Polarisierung geprägt. Nach den offiziellen Wahlstatistiken hatten die Parlamentswahlen von 2002 die größte Wahlbeteiligung seit dem Regimewechsel zu verzeichnen. Dieses Phänomen wurde von allen politischen Richtungen begrüßt, und die Politiker sprachen von einem Sieg der ungarischen Demokratie. Die Mobilisierung hat sich aber nicht nur auf den Bürger-Weg zur Wahlurne reduziert. Sowohl während als auch nach der Wahlkampagne hat es eine früher ungekannte Zahl von Massenkundgebungen, Aufmärschen und Demonstrationen gegeben, veranstaltet im Rahmen konzentrierter Aktionen von Parteien oder ihren Satellitenorganisationen zur Vorbereitung der Wahlen bzw. im Gefolge ihrer Ergebnisse. Besonders hat sich das rechte Lager bewegt, geführt von FIDESZ, das vor den Wahlen höchst siegesbewußt war und in der ersten Runde am 7. April feststellen mußte, daß das linksliberale Lager stärker war. Bis zur zweiten Wahlrunde, der Stichwahl der Kandidaten am 21. April, versuchte es nun mit allen Mitteln, seinen Sieg doch noch zu erzwingen. Die Mobilisierung war weitgehend gewaltfrei, abgesehen von einzelnen, nicht vollständig aufgeklärten kleineren Handgemengen; es gab jedoch eine spektakuläre illegale Blockade am 4. Juli, wo einige der zentralen Budapester Verkehrsknotenpunkte von organisierten bzw. "spontanen" Demonstrationen des unterlegenen rechten Lagers blockiert wurden und die Polizei die Menschenansammlungen mit Knüppeln und Tränengas auflösen mußte.
Eine nachhaltige Wirkung der Mobilisierung des von FIDESZ geführten rechten Spektrums nach den Wahlen ist die Etablierung der Bewegung rechter Bürgerinitiativen ("polgári körök"), die die jeweiligen politischen Anliegen der Partei mit Demonstrationen, Versammlungen und symbolischen Aktionen unterstützen wollen. Die Polarisierung und Politisierung der Öffentlichkeit hat ein solches Ausmaß erreicht, daß die unterlegenen rechten Aktivisten verkünden, Viktor Orbán (FIDESZ, Ministerpräsident 1998-2002) sei weiterhin der Ministerpräsident der Nation, die Sozialisten hätten ihren Ministerpräsidenten Medgyessy nur mit Wahlbetrug9 durchgeputscht, und die Ergebnisse der Wahlen seien manipuliert. Diese Logik der Zweifel an der Legitimität der neuen Regierung hat an Schärfe gewonnen mit den Enthüllungen aus der Vergangenheit des Ministerpräsidenten der MSZP-SZDSZ (am 18.06. eine Veröffentlichung in der Tageszeitung des rechten Lagers "Magyar Nemzet"), der auf Druck der Öffentlichkeit zugeben mußte, eine Zeitlang mit der Spionageabwehr des Kádár-Regimes zusammengearbeitet zu haben.
Dieser Skandal hat zu einer Koalitionskrise geführt, weil der kleinere Koalitionspartner SZDSZ zunächst den Rücktritt von Medgyessy wollte, sich dann aber doch hinter den Ministerpräsidenten der MSZP stellte, unter der Bedingung der Erweiterung des Durchleuchtungsgesetzes (Lustration). Daraufhin ist einer ihrer Gründer, der führende Dissident der Georg-Lukács-Schule János Kis, ehemaliger Präsident der SZDSZ, aus der Partei ausgetreten, weil er den Rücktritt des Ministerpräsidenten forderte. Aufgrund dieses Ereignisses hat die MSZP-SZDSZ-Koalition einer Ausweitung der Aufdeckung der Vergangenheit der führenden Politiker - vor allem der jetzigen und früheren Regierungsmitglieder, Ministerpräsidenten, Minister und Staatssekretäre - zugestimmt und einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß mit Einverständnis und Beteiligung der Opposition (FIDESZ und MDF) etabliert. Dieser Konsens schwand aber, als die von der Regierung gestellten Mitglieder sich nicht damit begnügten, die Vergangenheit von Ministerpräsident Medgyessy aufzuklären, sondern auch bei mehreren Mitgliedern früherer Mitte-Rechts-Regierungen eine Zusammenarbeit mit den Nachrichtendiensten und der Spionageabwehr des Kádár-Regimes entdeckten und dies veröffentlichten.
Einige Analytiker - unter anderen der Historiker und Politologe Ervin Csizmadia, Autor der oben zitierten umfangreichen Darstellung der Geschichte der ungarischen Opposition, in mehreren Zeitungsartikeln und Interviews - neigen dazu anzunehmen, daß mehr als zehn Jahre nach dem Regimewechsel der Konsens bröckelt, der damals mit der "gesetzeskonformen Revolution" ohne Opfer- und Täter-Rollenzuweisungen in der Zusammenarbeit am Runden Tisch10 entwickelt worden war. Die politischen Lager der Rechten und der Linksliberalen bekämpfen ihre Gegner jetzt ohne Rücksicht auf die damals am Runden Tisch entwickelte Zusammenarbeit in einer zuvor ungekannten Zügellosigkeit. Wieweit dieser Prozeß mit einem allgemeinen Aufklärungsbedürfnis über die vergangene Diktatur, einem späten bzw., verglichen mit der DDR, sogar verspäteten Prozeß parallel läuft oder laufen wird, läßt sich im Moment nur als Frage stellen. Der rechtliche Rahmen der Aufklärung ist mit der Medgyessy-Affäre stark erweitert worden, der Wille zur Öffnung der Archive und die Diskursbereitschaft über die Ergebnisse sind spürbar gewachsen.
Hintergründe und Voraussetzungen
Es gab natürlich vielfache Prozesse im kulturellen Bereich, die den Ausbruch des Konflikts einer Vergangenheitsbewältigung um den zum Spitzenpolitiker aufgestiegenen Péter Medgyessy vorbereitet haben. Am 24. Februar wurde mit dem "Haus des Terrors" das erste zentrale Dokumentations- und Ausstellungszentrum dieser Art in Ungarn eröffnet. Wie die Vergangenheitsbewältigung selbst, so waren auch deren Verdinglichungen, wie die in der ehemaligen DDR verbreiteten Gedenkstätten, Dokumentationszentren und Sammlungen, in Ungarn selten anzutreffen. Die der FIDESZ nahestehende "Stiftung des 20. Jahrhunderts", geführt von der Historikerin und ehemaligen Dissidentin Mária Schmidt, einer Beraterin des Ministerpräsidenten Viktor Orbán, hat die Eröffnung dieses ersten größeren Museums zur Geschichte der Diktaturen im 20. Jahrhundert in Ungarn - der ungarischen Faschisten, der Kommunisten und der Stasi - im Hauptsitz der Stasi und (zuvor) der ungarischen Pfeilkreuzler in der Andrássy-Straße Nr. 60 in Budapest ermöglicht. Die feierliche Eröffnung mit der Rede des Ministerpräsidenten Viktor Orbán fand in stark gespannter Atmosphäre statt - nicht nur, weil die extreme Rechte MIÉP eine Demonstration vor dem Sitz der MSZP veranstaltete, die ihrerseits anstatt des "Hauses des Terrors" ein "Haus der Versöhnung" nach spanischem Bürgerkriegsdenkmal-Muster wollte. Auch die Bewohner und Passanten waren und sind terrorisiert durch den Namen, der nach dem 11. September 2001 sehr seltsam klingt, und sie fühlten sich provoziert von einem nie regelgerecht genehmigten architektonischen Design, das einen Palast aus dem 19. Jahrhundert buchstäblich in einen schwarzen Rahmen versetzte mit Hilfe von schwarzen Vorhängewänden, worauf abends mit rotem Licht die Symbole des Terrors, roter Stern und Pfeilkreuz, projiziert wurden. Ausstellungskonzept und Inhalt waren und sind Gegenstand endloser Streitigkeiten von Historikern, Politikern und Betroffenen. Die schon 2001 beginnenden Spannungen um die Neueinrichtung haben die Wandlung der Muster der Vergangenheitsbewältigung in Ungarn sicherlich weitgehend bedingt.
Ein anderes kulturelles Deutungsmuster bzw. ein Tabu-Bruch kam aus der Literatur. Die ungarische Literatur, die schon in früheren Jahrhunderten häufig als Trägerin des Zeitgeistes, in verschiedenen Diktaturen oder Nicht-Demokratien teilweise als Politikersatz funktionierte, hat schon vor den Wahlen ein paradigmatisches Werk hervorgebracht, das den neuen Zeitgeist, die schonungslose Aufklärung der kommunistischen Vergangenheit gegen jeweilige Tabus symbolisiert. Der dem deutschen Leser bekannte, mehrfach ins Deutsche übersetzte ungarische Autor Péter Eszterházy, Träger verschiedener deutscher Literaturpreise, u.a. auch Gast des Wissenschaftskollegs zu Berlin, und ein geborener Graf Eszterházy, hat ein Buch über seine Familie und seinen Vater geschrieben.11 Nach der Veröffentlichung dieses Romans hat Eszterházy eine Forschungserlaubnis bei der ungarischen Gauck-Behörde erhalten, wo er entdecken mußte, daß sein Vater nach 1956 lange Jahre als Agent der ungarischen Geheimpolizei bzw. des ausländischen Nachrichtendiensts tätig war - ein Vorgang, der ihm als Sohn bis zur erlaubten Aktenöffnung verborgen geblieben war. Eszterházy hat ein neues Buch geschrieben, anhand der Akte über seinen Vater und über seine eigenen Erlebnisse nach der Begegnung mit diesen Materialien.12 Diese beiden Bücher - das erste neu verlegt, das zweite als Neuerscheinung - haben die ungarische Öffentlichkeit auf die Medgyessy-Affäre und auf die zweite, gründlichere Aktenöffnung vorbereitet.
Eine Eszterházys Erfahrung in gewisser Weise ähnliche "moralische Panik" für die Öffentlichkeit bewirkte der Rücktritt des Präsidenten von FIDESZ nach den Wahlen, nachdem er erfahren mußte, daß sein Vater ebenfalls inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen war. Das alles im Jahre 2002, Jahrzehnte nach den jeweiligen väterlichen Spitzel-Aktivitäten, mehr als ein Jahrzehnt nach der Wende - doch in der ungarischen Öffentlichkeit explodieren die "Zeitbomben" gerade jetzt, nach den eigentlich reibungslos und regelgerecht durchgeführten Wahlen. Nach solchen Sensibilisierungen werden die Aktivitäten des Medgyessy-Untersuchungsausschusses aus allen Lagern mit höchstem politischen und öffentlichen Interesse verfolgt, und die Frage der Vergangenheitsbewältigung wird mit allen ihren moralisch-politischen Dilemmata in Ungarn in vorher ungekannter Weise an die Öffentlichkeit getragen.
Ist es nicht die Wut des unerwartet unterlegenen bürgerlichen Lagers, die die Kettenreaktion der Explosionen ausgelöst hat? Ist es ein später Wunsch nach Aufklärung oder eine späte Rache der Vergangenheit? Ist es manipuliert, und wenn ja, von wem? Solche Fragen stellen sich dem teilnehmenden Beobachter und dem Leser.
Zur Geschichte des ungarischen Staatssicherheitsdienstes und seiner Hinterlassenschaft
Wie sah die Realität einer ungarischen Stasi aus, die bis hinein in das politische und intellektuelle Leben Ungarns im Jahre 2002 ihre Spuren hinterließ? Die Repression gegenüber Dissidenz und Opposition war im Kádár-Regime vom gesamten Staatsapparat bzw. seinen Machtorganen ausgeübt worden, aber eines der wichtigsten Instrumente der politischen Kontrolle und Unterdrückung im Kádár-Regime war mit Sicherheit die "Staatssicherheit".13 Wie oben erwähnt, wurde die Stasi in Ungarn nach 1956 neu organisiert und hatte ihre frühere Macht aus der stalinistischen Periode weitgehend eingebüßt; in verwandelter Form hat sie aber ihre Funktion im System der Unterdrückung aufrechterhalten. Innerhalb der sektoralen Arbeitsteilung der kommunistischen Machtapparate war die Repression gegenüber den "inneren Feinden", Dissidenz und Opposition, in den ehemaligen kommunistischen Staaten weitgehend integriert und von wechselnder Intensität, wurde aber doch in erheblichem Maße von Moskau aus gesteuert.
Ungarns Stasi hatte ihre Funktionsweise und ihr Arbeitsgebiet im Laufe der De-Stalinisierung weitgehend reduziert. Von den 1956 gespeicherten 1,5 Millionen persönlicher Daten waren 1989 ungefähr 150.000 erhalten geblieben. Dies ist nicht nur der Aktenvernichtung, sondern auch der veränderten, weitgehend reduzierten Aufgabenstellung zuzurechnen. Die Stasi in Ungarn hat also nicht, wie die in der DDR, eine gesamtgesellschaftliche Nachrichtenbeschaffung betrieben und Kontrolle über die ganze Gesellschaft ausgeübt, sondern fungierte als ein an gewissen Zielgruppen orientiertes Sicherheitsorgan der Parteiführung. Die rechtliche Kontrolle innerhalb des Innenministeriums war nach Aussagen ehemaliger Offiziere gesichert; es sei aber hingefügt, daß die Normen, wie der gesamte Apparat, ohne öffentlichen Zugang, in strikter Geheimhaltung funktionierten, womit jegliche effektive juristische Kontrolle in Frage gestellt war.
Die Zugangsmöglichkeiten zu persönlichen Akten oder zu Archivmaterial von Forschungsinteresse sind nach 1997 weitaus geringer als in der ehemaligen DDR, aber verglichen mit anderen Ostblockländern ist die Lage in Ungarn irgendwo in der Mitte zwischen fortgesetzter Geheimhaltung und Öffnung nach dem "Modell Deutschland".14 Die Diskussion um diesen Faktor der jüngsten Vergangenheit ist vorhanden, hat aber einen bescheideneren Stellenwert als in Deutschland - dies war zumindest bis zum Sommer 2002 der Fall. Einer der Gründe mag sein, daß die Stasi-Aktivität geringer war als in der DDR, so daß sich der Kreis der Betroffenen auf ein schmaleres Segment der Gesellschaft reduzierte und das Ausmaß des Unrechts, obwohl nicht meßbar, vielleicht doch kleiner war.
Im "Kampf um die Vergangenheit" hat die Problematik des Volksaufstands von 1956 und der darauf folgenden Repressionswelle eine so herausragende Bedeutung, daß sie die Fragen der Dissidenz und Opposition der 70er und der 80er Jahre weitgehend in den Schatten stellte - bis zum erwähnten Durchbruch in den Wahlen von 2002. Das seit 1997 funktionierende "Történeti Hivatal" (Historisches Amt), in etwa ein funktionelles Äquivalent zur "Gauck-Behörde", hat einen viel geringeren Zulauf als das entsprechende deutsche Organ, und die Möglichkeiten der Akteneinsicht haben - besonders seitens der Betroffenen, der ehemaligen Dissidenten - viel Kritik hervorgerufen und Mängel in der Aktivität des Amtes zutage gefördert.15 Das alles verändert sich jetzt wahrscheinlich schnell, weil die von der politisch-intellektuellen Öffentlichkeit und in den größten elektronischen Medien geführten Diskussionen eine Veränderung bewirken können. Die Stimmung und die Zugangsmöglichkeiten haben sich durch die Ereignisse von 2002 schlagartig verändert: Alle Archive, einschließlich denen der Spionageabwehr und des Nachrichtendienstes, werden in früher unvorstellbarem Ausmaß für Betroffene und Forscher zugänglich, und ein erweiterter Kreis führender Persönlichkeiten aus Politik und Öffentlichkeit muß damit rechnen, daß seine Vergangenheit bzw. Stasi-Kooperation als belastendes Material öffentlich gemacht wird.
Die Entwicklung der ungarischen Stasi läßt sich charakterisieren als eine von totaler Repression, Kontrolle und Abwehr hin zu zielgerichteter, selektiver Kontrolle, repressiver Toleranz und reaktiven Maßnahmen. Die Sicherheitsorgane gegen den "inneren Feind" stehen bis zum Ende des Regimes unter Geheimhaltung; Spitzelmethoden und die Kontrollfunktion mit etwa 10.000 inoffiziellen Mitarbeitern und einigen hundert Hauptamtlichen werden beibehalten. Das Ende der ungarischen Stasi kam zu Beginn des Jahres 1990 mit dem sog. "Duna-gate"- Skandal16, als ein Verräter der Organisation den oppositionellen Parteien zuspielte, daß die Stasi die politischen Gegner der bisherigen Staatspartei weiterhin als Zielobjekte der Nachrichtenbeschaffung und Beeinflussung definiert, während der Wahlkampf vor den ersten freien Wahlen schon beginnt. Die darauf folgende politische Auseinandersetzung und Diskussion hatte zur Folge, daß der letzte kommunistische Innenminister István Horváth, der im Sommer 2002 auch vor dem Medgyessy-Untersuchungsausschuß aussagen mußte, abtrat und die "Abteilung gegen innere Feinde" restlos und ohne direkten Nachfolger aufgelöst wurde. Die später von der ersten frei gewählten Regierung ins Leben gerufenen neuen Sicherheitsorgane haben aber die Archive geerbt, und Materialien von vor 1989 sind nur mit Genehmigung der Nachfolgeorganisationen für Forscher und Betroffene zugänglich. Bis 2002 konnten sich die Nachrichtendienste und die Spionageabwehr bzw. die damit verbundenen Armee-Einheiten praktisch gegen individuelle Betroffenenansprüche und Forschungsanträge weitgehend wehren. Solche Barrieren waren in Deutschland von vornherein nicht vorhanden, wo Stasi und Geheimdienste mit dem Staat DDR untergingen und eine Rechtsnachfolge in diesem Sinne nicht existiert.17
Nach den Memoiren einiger ehemaliger Offiziere und nach erhaltenen Archivmaterialien war die Arbeit der ungarischen Stasi in der Übergangsperiode 1988/89 von verschiedenen äußeren Einflüssen weitgehend beeinträchtigt. Ungarn hat schon früh mit der Westintegration geliebäugelt, sich daher langsam von der "sozialistischen Brüderlichkeit" zurückgezogen und mehr Freiheit innerhalb des Blocks beansprucht, was die Verbindungen zu Moskau und insbesondere die Koordination mit eher als "Hardliner" zu betrachtenden Staaten, wie z.B. der DDR, beeinträchtigte. Ein Beispiel dafür ist die ungarische Politik gegenüber den ostdeutschen Flüchtlingen im Jahre 1989, als sich Sicherheitsorgane und Staatsapparat klar nach Westen orientierten. Zur außenpolitischen Problematik kam die Spaltung der Parteielite und führung in "Softliner" (Reformer) und "Hardliner" (Konservative) hinzu. Auch innerhalb der Sicherheitsorgane gab es diesen Konflikt, und obwohl die Memoiren des ehemaligen Stasi-Abteilungchefs József Horváth versuchen, aus Ungarns Stasi einen Vorreiter der Reformen zu machen, mußte der allgemeine politische Konflikt dieser zwei Linien der Partei auch hier seine Wirkungen haben.
In meinem Forschungsprojekt, in dem ich die Materialen des "Historischen Amtes" 1988/89 in Hinblick auf die Strategie gegenüber inoffiziellen Demonstrationen durchforschte, war - auch anhand der Berichte über andere Forschungsprojekte - klar festzustellen, daß in dieser Zeit ein Umorientierungsprojekt innerhalb der Sicherheitsorgane lief, das versuchte, "nationale Sicherheit" und "rechtsstaatliche Kontrolle" nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern auch als neue Leitlinien ihrer Arbeit zu definieren.18 Es war die Aufgabe gestellt worden, innerhalb der allgemeinen Reformstrategie für Verfassung und Staat eine neu definierte Rolle der Sicherheitsorgane festzulegen. Dieses Projekt war von den "Softliner"-Gruppen der politischen Führung initiiert worden; seine vermeintlichen Ergebnisse wurden aber vom schnellen Tempo der Demokratisierung überholt, und der daraus folgende Konflikt hat zur oben erwähnten Auflösung der ungarischen Stasi geführt.
Die darauf folgende Situation ist aber erst nach einer langen Pause von mehreren Jahren eingetreten, in denen jeglicher Versuch gescheitert war, einen geregelten Zugang zu den Akten zu schaffen. Letztendlich war es von 1989 bis 1997 weder den Betroffenen noch Forschern möglich, auf eine geregelte und öffentlich kontrollierte Weise zur Akteneinsicht zu kommen. Nach der Einrichtung des Historischen Amtes vergrößerten sich die Möglichkeiten der Forschung, und erste Ergebnisse wurden auch zugänglich gemacht.19 Jetzt - nach der "moralischen Panik" um das Museum "Haus des Terrors", um den Vater des Autors Péter Eszterházy, die Politiker Medgyessy, Vater/Sohn Zoltán Pokorni und andere, um die veränderte Rechts- und Interessenlage - wird es anders.
Es wäre verkürzt, hier irgendein Fazit zu ziehen, nicht wegen der Fülle der Publikationen (diese sind nämlich noch recht überschaubar), sondern wegen der weiteren Entwicklung der Übergabe der Archivmaterialien des Historischen Amtes sowie aufgrund mehrerer laufender Forschungsprojekte bzw. Skandale, Prozesse und Enthüllungen. Es ist aber vielleicht schon jetzt zu bestätigen, daß die ungarische Stasi ein viel weniger bedeutender Akteur des Regimes war als die der DDR20 und daß sie auch in der Wendezeit eine weniger aktive Rolle gespielt hat - sowohl als Akteur mit eigenen Strategien wie auch als Objekt der Konflikte seitens der neuen alternativen Gruppen.
Anmerkungen
1 Tibor Huszár: Kádár János. Budapest: Kossuth-Verlag 2001; László Varga (Hg.): Kádár János bírái elõtt. Budapest: Osiris 2001.
2 Sándor Révész: Aczél és korunk. Budapest 1997.
3 Christof Erhart: Transformation in Ungarn und der DDR. Opladen 1998.
4 Ervin Csizmadia: A magyar demokratikus ellenzék.T-Twins. Budapest 1995, Bd. 1-3.
5 György Dalos: Archipel Gulasch. Bremen: Temmen 1986.
6 Beszélõ összkiadás. Vol. 1-3. Budapest: AB-Beszélõ 1992.
7 R.L. Tökés (Ed.): Opposition in Eastern Europe. London: Macmillan 1979; Ch. Hungary, 142-187.
8 P. Kende, A. Smolar: Die Rolle oppositioneller Gruppen am Vorabend der Demokratisierung in Polen und Ungarn (1987-1989). Papiere des Forschungsprojekts "Krisen in den Systemen Sowjetischen Typs", Studie Nr. 17-18. Köln: Index Verlag 1989.
9 Ein bekannter Journalist des rechten Lagers hat diese Stimmung in einem Band schnell dokumentiert: Tibor Franka: Szabad választás, törvényes csalás [Freie Wahl, gesetzlicher Betrug]. Zsófialiget Kkt. 2002.
10 Eine umfangreiche Dokumentationsreihe zum Runden Tisch in Ungarn: András Bozóki (szerk.): A rendszerváltás forgatókönyve. Bd. 1-7, Magvetõ-Új Mandátum 1999-2001.
11 Péter Eszterházy: Harmonia Caelestis. Budapest: Magvetõ 20018.
12 Péter Eszterházy: Javított kiadás.Melléeklet a Harmonia Caelestishez [Eine korrigierte Ausgabe. Beilage zur Harmonia Caelestis]. Budapest: Magvetõ 2001 (dt.: Peter Esterhazy: Harmonia Caelestis. Berlin: Berlin Verlag 2001).
13 Tibor Huszár, János Szabó (Hg.): Restauráció vagy kiigazítás. A kádári represszió intézményesülése. Budapest 1999; György Gyarmati (Hg.): A Történeti Hivatal Évkönyve 1999. Budapest 1999; Gábor Kiszely: Állambiztonság 1956-1989. Budapest: Korona 2001; Frigyes Kahler (Hg.): III/III. történelmi olvasókönyv. Budapest: Kairosz 2001.
14 Dagmar Unverhau (Hg.): Lustration, Akteneröffnung, demokratischer Umbruch in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Münster u.a.: LIT-Verlag 1999; Attila Schauschnitz: Vergangenheitsbewältigung in Ungarn. Dossier und Analyse, in: Helmut König, Michael Kohlstruck, Andreas Wöll (Hg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Leviathan, Sonderheft 18/1988, 233-261.
15 László Varga: Vom Erbe des kommunistischen Staatssicherheitsdienstes in Ungarn, in: Unverhau (Hg.), a.a.O., 161-176; Ferenc Köszeg: Zum Charakter des politischen Umbruchs in Ungarn, in: Unverhau (Hg.), a.a.O., 151-159; János Kenedi: "Stasi-Operett" Magyarországon, in: B. András Hegedûs (Hg.): Az egykori állambiztonsági szervek és azok irataiÂ… Budapest: 1956-os Intézet 1998, 39-63.
16 Die ehemaligen Mitarbeiter der Abteilung III/III: Bekämpfung der Inneren Feinde-Stasi-Einheit haben nach der Auflösung folgende Memoiren veröffentlicht: Attila Gergely: A hatalom árnyékában. Budapest: Kapu 1997; József Horváth: A lehallgatástól a kihallgatásig. Budapest 1991; A "kísértet" fogságában. Budapest 1991; A III/III. fõnöke voltam. Budapest 1998.
17 Ágnes Zsidai: Die Flügellahme Eule der Minerva, in: Unverhau (Hg.), a.a.O., 187-205.
18 Máté Szabó: From a Police State to a demonstration democracy, in: Vladimíra Dvoráková (Ed.): Success or Failure? Ten Years After. Praha: Friedrich-Ebert-Stiftung 1999, 165-198. Ähnliche Ergebnisse bei: Béla Révész: Politikai ellenzék, állambiztonsági funkcióváltás 1989, in: Rozgonyi Ibolya (Hg.): A demokrácia 10 éve, Nyíregyháza1999, 84-90.
19 Gyarmati (Hg.), a.a.O.; György Markó: Der Umgang mit den in das Historische Amt gelangten Akten und ihre Bearbeitung, in: Unverhau (Hg.), a.a.O., 177-185.
20 Vgl. z.B: Michael Richter: Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR. Köln: Böhlau 1996.
Prof. Dr. Máté Szabó, Eötvös-Loránd-Universität Budapest

aus: Berliner Debatte INITIAL 14 (2003) 1, S. 75-83