"Dieser Krieg ist die Büchse der Pandora"

Interview mit Micha Brumlik über Golfkriege, USA und Friedensbewegung

1991 waren Sie ein scharfer Kritiker der Friedensbewegung. Heute kritisieren Sie die USA. Was hat sich verändert? Ihre Position oder die Weltlage?
Brumlik: Ich glaube, dass ich mir vergleichsweise treu geblieben bin, da es mir damals wie heute in erster Linie um die Prinzipien einer universalistischen Moral gegangen ist, so wie sie im modernen Völkerrecht umgesetzt werden. 1991 war der Fall völlig klar: Der Irak hat einen eindeutigen Völkerrechtsbruch begangen. Er hat ein fremdes Land annektiert, und es war absehbar, dass Embargo und Boykott zu überhaupt nichts führen würden. Und nachdem mehrere Aufforderungen an den Irak ergangen waren, sich aus Kuweit zurückzuziehen, blieb der Weltgemeinschaft nichts anderes übrig, als diesen Völkerrechtsbruch gewaltsam rückgängig zu machen.
Sie sehen im heutigen Irak also nicht die gleiche Bedrohung wie 1990?
Damals ging es nicht um eine Bedrohung, sondern um einen Angriff auf ein anderes Land. Heute reden wir über verschiedene Wahrscheinlichkeiten, wie groß das Risiko ist, dass irgendwann vom Irak Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden. Damals ging es um einen klaren Fall, um ein bereits begangenes Verbrechen.
Sie haben damals aber auch die Befürchtung geäußert, mit dem Irak werde, falls man ihn gewähren lässt, eine "unverantwortliche, kleine Atommacht" entstehen. Insofern ging es Ihnen damals schon um Bedrohung.
Ja, das habe ich damals anders gesehen. Heute teile ich die Ansicht einer Reihe von Staaten, dass nach 1991 der Irak noch nie so gut unter Kontrolle gewesen ist, wie das heute der Fall ist.
Ist das heutige Waffeninspektionsregime nicht gerade deswegen relativ erfolgreich, weil die militärische Bedrohung vorhanden ist?
Wir wissen nicht, was Alternativen wie die Lockerung des Handelsembargos gebracht hätten. Wir wissen, dass der militärische Druck tatsächlich die Bereitschaft erbracht hat, sich kontrollieren zu lassen, und um mehr sollte es ja auch nie gehen. Was völkerrechtlich aber nicht sein darf, ist ein von außen erzwungener, militärischer Regimewechsel.
Ist das Völkerrecht nicht ohnehin Auslegungssache und ein Instrument der mächtigen Staaten?
Jedes Recht ist immer auch Ausdruck politischer Macht, und es kann nur durch diese durchgesetzt werden. Sicherlich ist das Völkerrecht in einem geringeren Ausmaße demokratisch legitimiert, als etwa das Recht in demokratischen Nationalstaaten. Aber auch das Völkerrecht, wie es in der Charta der Vereinten Nationen seit 1948 entwickelt wurde und das seither gewachsen ist, ist mehr als nur Ausdruck blanker Interessenpolitik. Ich sehe im Moment kein besseres Völkerrechtssystem als das vorhandene. Ich glaube nicht, dass ein menschenrechtlicher Anspruch, der von den USA ohne weitgehende Konsultationspflichten nach eigenem Gutdünken mal so und mal so umgesetzt wird, besser wäre, was die Ordnung der Weltgesellschaft angeht.
Nun könnte Ihrer Argumentation aber schnell der Boden entzogen werden, wenn es den USA und Großbritannien gelingt, eine UN-Resolution durchzusetzen, die feststellt, dass der Irak den Abrüstungs-Verpflichtungen aus Resolution 1441 nicht nachgekommen ist, und die das Mandat der UN den angreifenden Mächten überträgt.
Dann bleibt aber immer noch die Frage, ob das, was da in einem formalen Sinne zulässig ist, nicht erstens politisch gesehen durch unzulässigen Druck erzielt worden ist, und zweitens moralisch gesehen unverhältnismäßig ist. Das muss man dann moralisch diskutieren, da führt in der Tat die völkerrechtliche Argumentationsform nicht weiter.
1991 haben Sie die deutsche Friedensbewegung massiv kritisiert, weil sie die Bedrohung Israels durch den Irak nicht hinreichend zur Kenntnis nahm und weil sie auch die Lieferung von Patriot-Raketen an Israel ablehnte. Gilt diese Kritik auch heute noch?
Davon gibt es überhaupt nichts zurückzunehmen. Damals hat mich nicht zuletzt bei der Partei der Grünen außerordentlich irritiert, dass man auf der einen Seite Krokodilstränen über die ermordeten Juden Europas vergoss und auf der anderen Seite nicht einmal bereit war, dem Export reiner Defensivwaffen zuzustimmen. Die Ablehnung der Patriot-Lieferung war damals politisch falsch, zumal 1991 anders als heute im Falle der Türkei nicht davon auszugehen war, dass Israel Kriegspartei werden würde.
Das Verhalten der Friedensbewegung gegenüber Israel stellt sich doch heute nicht viel anders dar. Und auch die Unterkomplexität der Parolen, die sie damals kritisiert haben, wie z.B. "Kein Blut für Öl", existiert munter fort. Warum sind Sie vom Kritiker zum Intellektuellen geworden, der sich in die erste Reihe dieser Anti-Kriegs-Bewegung stellt?
Damals ging es um einen Völkerrechtsbruch. Heute scheint mir das Energieversorgungsproblem im Vordergrund zu stehen. Es sind ja vor allem Stimmen aus den USA selbst, die darauf hinweisen. Es kommt freilich darauf an, sich das nicht zu simpel vorzustellen. Die USA decken nach wie vor mehr als 70% ihres Verbrauchs aus Erdölquellen, die nicht im arabischen Raum liegen. Es gibt aber ernstzunehmende Wissenschaftler, die behaupten, dass es nun um die strategische Kontrolle des Ölpreises geht. All das wissen wir noch nicht so genau. Ich halte es aber weder für naiv noch für töricht, darauf hinzuweisen, dass bei alledem hegemoniale Interessen zur Rohstoffsicherung in irgendeiner Weise eine Rolle spielen.
Sie haben 1991 festgestellt, die deutsche Linke sei konstitutionell gegen die Vereinigten Staaten und gegen eine universalistische Politik eingestellt. Heute hört man wieder Parolen wie "Bush = Hitler" oder "USA = internationale Völkermordzentrale". Wie schätzen Sie die Stimmung in der Friedensbewegung und in der Bundesregierung gegenüber den USA ein?
Von meinen damaligen Vorwürfen habe ich nichts zurückzunehmen. In der deutschen Regierung kann ich aber mit Ausnahme der sich bereits vor den Wahlen unmöglich gemacht habenden Herta Däubler-Gmelin keinen Anti-Amerikanismus erkennen. Bei den vielen Demonstrationen, nicht zuletzt bei der beeindruckenden Kundgebung in Berlin, hat es zwar vereinzelt solche Parolen und Plakate gegeben. Die überwiegende Mehrheit derer, die da auf die Straße gegangen sind, hat damit aber nichts im Sinne gehabt. Hier haben Leute wie Lea Rosh und Michael Wolffsohn ein Nachweisproblem, die der Friedensbewegung Antiamerikanismus nachsagen, ohne es belegen zu können.
Unter Bezug auf den konservativen US-Politologen Robert Kagan haben Sie versucht nachzuweisen, die amerikanische Außenpolitik sei auf die Ideen von Thomas Hobbes und die europäische auf Immanuel Kant zurückzuführen. Läuft das nicht auf einen Kulturkampf von "Amerika gegen Europa" und auf einen Kampf zwischen "Macht und Geist" hinaus? Ist es nicht typisch deutsch zu glauben, die amerikanische Außenpolitik bestehe aus Macht und Interessen, während die deutsche - vor allem, wenn der Außenminister Fischer heißt - eine universale Vernunft oder eine interessenlose Gerechtigkeit vertrete?
Nein, das sind ja Deutungen, die von US-amerikanischen Intellektuellen wie Kagan stammen. Auch die außenpolitische Beraterin von Donald Rumsfeld, Ruth Wedgewood, hat das so gesagt. Das ist gegenwärtig das Selbstverständnis der außenpolitischen Berater der US-Regierung. 1991 war das aber ganz anders. Die von George Bush Sr. angepeilte Neue Weltordnung war nicht in diesem schlichten Sinne eine US-amerikanische Hegemonie, die nach Gutdünken festlegt, was Recht und Moral ist, und die sich das in der New Security Strategy auch noch geradezu zur Doktrin erhoben hat.
Sie plädieren für einen deutschen bzw. europäischen "Neo-Neutralismus", der explizit zum "amerikanischen Neo-Imperialismus" auf Distanz geht. Woher beziehen Sie Ihre Hoffnung, dass deutsche und europäische Außenpolitik weniger imperialistisch ist als US-amerikanische?
Es gibt unterschiedliche Formen von Imperialismus. Selbstverständlich sind nationale Wettbewerbsstaaten wie Frankreich und Deutschland gleichermaßen daran interessiert, andere Weltgegenden unter ihren Einfluss zu bekommen. Nur geschieht das mit anderen Mitteln. In der gegenwärtigen Lage macht es einen wesentlichen Unterschied aus, ob man seine Interessen ökonomisch oder mit der brutal force des Militärs durchzusetzen versucht. Die Ökonomie mag langfristig nicht unproblematische Folgen haben. Aber kurzfristig ist sie doch weniger leidvoll und eher für Revisionen offen als die Führung von Kriegen.
Welche Rolle spielt der "11. September" für den angekündigten Krieg gegen den Irak?
Der 11. September hat für die US-Gesellschaft einen tiefen, traumatischen Schock bedeutet. Ich in bin allemal bereit, weiten Kreisen der US-Gesellschaft zuzugestehen, dass sie ernsthaft Ängste vor Terrorismus haben. Aber man muss doch prüfen, ob die darauf folgende Politik tatsächlich konsistent ist. Nach allem was uns bekannt ist, hat die Bush-Administration bereits etwa eine Woche nach dem 11.9. beschlossen, den Irak anzugreifen. Obwohl es nach wie vor nicht den geringsten Beweis dafür gibt, dass es hier Verbindungen irgendwelcher Art gibt. Man muss doch im Bereich der internationalen Politik fragen dürfen, ob das sinnvoll und angemessen ist. Bushs Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice hat in einem Interview vor einigen Wochen gesagt, dass man sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 unklar darüber war, wie es weitergehen würde, wie die Weltkarte aussehen würde. Mit dem 11.9. war nun plötzlich alles klar. Die rechtskonservative US-Administration hat sich diese Katastrophe für ihre durchaus weiter gehenden Ziele zunutze gemacht.
Das Regime von Saddam Hussein wird in den USA nicht nur als Bedrohung von Geschäftsinteressen wahrgenommen, sondern auch des zivilisatorischen Modells, das die USA vertritt.
Warum regen sich die USA erst jetzt über den Irak auf? Ich könnte viele Beispiele von blutrünstigen Diktatoren und Kriegen nennen, von denen man sich in den USA überhaupt nicht bedroht gefühlt hat. Niemand hat in den USA Alarm geschlagen, als im ersten Golfkrieg der Irak den Iran angegriffen hat.
Diese Politik wird doch jetzt in den USA selber als großer Fehler kritisiert.
Ja, aber dann müsste man davon ausgehen, dass ausgerechnet die gegenwärtige Administration eine besonders lernfähige und aufgeschlossene Regierung ist. Das sehe ich aber nicht.
Von vielen Konservativen, aber auch von manchen Linken sowie von US-amerikanischen und israelischen Intellektuellen wird die deutsche und französische Haltung gegenüber dem Irak mit der Appeasement-Politik der 1930er Jahre verglichen. Was halten Sie von solchen Analogien?
Überhaupt nichts. Die gegenwärtige Lage lässt sich nicht mit der von 1938 oder 1944/ 45 vergleichen. 1938 bestand eine bedrohliche Lage. Das aufstrebende und aggressive deutsche Reich, dessen militärische Kräfte kaum bekannt waren, sollte durch eine Politik des Appeasement eingehegt werden. Heute haben wir es hingegen mit einem Zwerg zu tun, der militärisch und ökonomisch am Boden liegt und nur noch über einige wenige hochgefährliche Waffen verfügt. Im Vergleich zum damaligen Großbritannien - oder um eine heutige regionale Mittelmacht zu nennen: zu Israel - ist der Irak militärisch unbedeutend. Deswegen ist es demagogisch, diesen Vergleich immer wieder zu bringen.
Mit dem Appeasement-Vergleich geht es aber doch weniger um die Annahme, der Irak könne eine ganze Region beherrschen, wie damals Deutschland Kontinentaleuropa. Man befürchtet vielmehr, ein Regime, das bisher schon zweimal Massenvernichtungswaffen eingesetzt hat, könne dies wieder tun. Bei Israel würde eine einzige Atombombe reichen.
Ja, aber der israelische Generalsstabchef Bugi YaÂ’alon hat in der israelischen Presse immer wieder gesagt, es bestehe für Israel derzeit keine besonders große Gefahr. Ich kann mich nicht erinnern, dass Israel in den letzten Jahren mit besonderer Besorgnis auf den Irak geschaut hat.
Von manchen Exil-Oppositionellen und einer Minderheit der deutschen Linken wird die Hoffnung formuliert, dass ein von den USA herbeigeführter Sturz des Baath-Regimes eine Demokratisierungswelle im ganzen Nahen Osten auslösen könnte. Auch George W. Bush hat sich Ende Februar ähnlich geäußert.
Ich halte die Demokratisierung für unwahrscheinlich, weil ich es für mindestens ebenso wahrscheinlich halte, dass der islamistische Widerstand dadurch verstärkt wird. Wenn die Pläne der USA umgesetzt werden, im Irak über Jahre hinweg ohne Beteiligung der irakischen Opposition ein Protektorat zu unterhalten, dann kommt es zu Zuständen, gegen die die gegenwärtige afghanische Nachkriegssituation noch vergleichsweise harmlos ist. Dieser Krieg ist die Büchse der Pandora, denn dann muss man entschlossen weiter machen. Die nächsten Kandidaten stehen ja schon fest: Syrien und der Iran. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die von der militärischen Durchsetzung der Menschenrechte entflammten Intellektuellen ernsthaft der Meinung sind, dass wir jetzt in einen fünfzehn- oder zwanzigjährigen Krieg eintreten sollen, um dem Nahen Osten den US-amerikanischen Typ der Demokratie aufzunötigen. Ich glaube nicht, dass das gut gehen würde.
Aber sogar wenn man das annimmt, sollte man sich fragen, ob ein neuer Imperialismus die Strategie der Wahl ist, um in einer globalisierten Welt zu Gerechtigkeit und Sicherheit zu kommen. Dan Diner sprach neulich ironisch vom "demokratischen Bolschewismus". Auch der Bolschewismus Stalinscher Prägung ist ja eine messianische Ideologie gewesen, die sich nicht auf einen Staat begrenzt hat. Sie hatte den Anspruch, in einer Reihe permanenter Umstürze und Revolutionen vergleichsweise kurzfristig der Welt zu einer neuen Ordnung zu verhelfen.
Das Interview führten Jörg Später und Christian Stock, beide Mitarbeiter des iz3w.

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