Schröder stürzen? stützen? schützen?

in (26.12.2002)

Das hatte die alte Bundesrepublik nie erlebt: Gutbürgerliche Politiker, Standesvertreter und Intellektuelle, unterstützt von der Bild- und vielen anderen Zeitungen, rufen den Aufstand ...

... gegen den Staat aus propagieren Steuerboykott, Arbeitsverweigerung und andere Formen "zivilen Ungehorsams", und sogar vom Barrikadenbau ist die Rede - fast wie in Venezuela, wo, was kein Geheimnis ist, auch die USA gern das Ihrige dazu beitragen wollen, den gewählten Präsidenten Hugo Chavez zu stürzen.
In den deutschen Massenmedien häufen sich Kommentierungen, die genüßlich tatsächlichen oder angeblichen "Altachtundsechzigern", die nun in der Berliner Republik Regierungsämter und -würden innehaben, ins Stammbuch schreiben, jetzt seien "konservative Revolutionäre" am Werk, und die verstünden sich besser auf ein solches Geschäft als linke Revoluzzer. Im Internet präsentieren sich immer neue Initiativen, die virtuell den Sturz der rot-grünen Bundesregierung herbeiführen wollen. Die parlamentarischen Spitzen der Unionsparteien rechtfertigen ihre eigenen demagogischen Vorhaben mit dem frommen Argument, nur so lasse sich der sonst überbordende Volkszorn kanalisieren. Die Zielrichtung all dieser Aktivitäten ist klar: Vordergründig geht es darum, Stimmung gegen das Kabinett Schröder zu machen, um vielleicht doch innerhalb dieser Wahlperiode einen Wechsel zu Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün oder zur Großen Koalition zustandezubringen.
In der Substanz aber will dieser Aufstand durchaus mehr; er will die Gewerkschaften vor sich hertreiben und den Sozialdemokraten die letzten Hemmungen austreiben - bei der steuerpolitischen Umverteilung von unten nach oben, bei der weiteren Privatisierung bisher öffentlicher Leistungen und Dienste, bei der Überführung der sozialen Sicherungssysteme in Kapitaleigentum. Die "Bankrottlegende", also die realitätswidrige Behauptung, die Bundesrepublik befinde sich kurz vor dem weltwirtschaftlichen Abgrund, bereitet den Stimmungsboden für diesen aggressiven gesellschaftspolitischen Vorstoß.
Die Angreifer verheimlichen ihre Absichten nicht. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt will "das Tarifdiktat der Gewerkschaften" abschaffen, Andreas Georgi von der Dresdner Bank behauptet: "Der Kündigungsschutz stranguliert die deutsche Wirtschaft", und Rolf Breuer von der Deutschen Bank möchte die Mitbestimmung der Arbeitnehmer beseitigt wissen, sie sei "nicht mehr zeitgemäß".
Selbstverständlich meinen es so manche Wirtschaftsrepräsentanten, die im Fernsehen jetzt den völligen Rückzug des Staates aus der Ökonomie fordern, damit nicht ernst. Zwar wollen sie, sofern dies noch geschieht, keine Steuern mehr entrichten - aber Staatsaufträge wünschen sie sich schon, und außerdem setzen sie darauf, daß die staatlichen Organe ihnen, im eigenen Land und in aller Welt, alle denkbaren Unruhen oder Widersacher vom Leibe halten. Schließlich sind unsere neoliberalen Revolutionäre ja keine libertären Anarchisten.
Sollen wir nun Gerhard Schröder, um die Geschichte zu personalisieren, bedauern, daß er so unter Druck gerät? Gilt es, die Menschen hinter Rot-Grün zusammenzuscharen? Das wäre exakt die falsche Reaktion. Die derzeitige Regierungskoalition in Berlin selbst war es, die mit ihrer Ideologie und ihrer Praxis einen Rutsch in den Kapitalismus pur ausgelöst hat. Die Aufständischen wollen ihn jetzt beschleunigen.
Druck bringt man am besten zum Halt, indem man Gegendruck erzeugt. Die Bundesrepublik braucht eine entschiedene Opposition, in einer den zur Zeit so lauthals auftretenden Umstürzlern entgegengesetzten Richtung, eine Bewegung für die Umverteilung von oben nach unten, für gemeinwirtschaftliche Leistungen und Dienste, für kollektive und solidarische Systeme sozialer Sicherung. Eigentlich eine Aufgabe für die Gewerkschaften

aus: Ossietzky 25-02