Ideologie, Kritik und Bildung

Entwicklungen, Widersprüche und Krisen ideologiekritischer Theoriebildung -- Ein Überblick mit Schwerpunkt

‘Vom häufigen Wiegen wird die Sau nicht fett -- Füttern statt messenÂ’ unter diesem Motto riefen Hamburger Elternvertreter und Gewerkschaftler zum Boykott des internationalen Schülervergleicht

... "PISA" auf (Taz, 4.4.2002 ). Sie gehörten zu den wenigen kritischen Stimmen, die im Vorfeld des Bildungs-rankings dessen Funktion angesprochen haben, durch nationale wie internationale Schulvergleiche den Wettbewerb der Bildungsstandorte zu forcieren. Dass der Test für bundesdeutsche Standort- und Bildungspolitiker ein solcher Reinfall wurde, der anhaltend hektische Debatten um die "Konkurrenzfähigkeit" des Bildungssystems ausgelöst hat, mag Schadenfreude hervorrufen; die freilich nur begrenzt ausgelebt werden kann, angesichts von Ergebnissen, die vor allem die sozial selektive Struktur von Bildungsprozessen unterstreichen. Die ‘Kopplung von sozialer Lage der Herkunftsfamilie und dem Kompetenzerwerb der nachwachsenden GenerationÂ’ wird im Pisa-Abschlussbericht für das deutsche Bildungssystem als ‘ungewöhnlich straffÂ’ beschrieben (PISA 2001, 41). Resümierend heißt es an anderer Stelle: ‘Die Entwicklung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Leistung scheint ein kumulativer Prozess zu sein, der lange vor der Grundschule beginnt und an Nahtstellen des Bildungssystems verstärkt wird.Â’ (37) Kritische Bildungsforschung hat seit Jahren auf diesen Zusammenhang hingewiesen, hat betont, dass der allgemeine Anstieg institutionalisierter Bildung in seiner strukturellen Wirkung auf soziale Ungleichheit einer restaurativen Modernisierung entspricht (Mayer/Blossfeld 1991; vgl. auch Keim 2000). Die empirischen Ergebnisse der PISA-Studie befördern somit keineswegs neue Erkenntnisse, von sozialem Ausgleich gar von "Chancengleichheit durch Bildung" konnte nie die Rede sein; eine Tatsache, die in der Vergangenheit auf Seiten der (bildungs-) politischen Öffentlichkeit wenig Empörung hervorgerufen hat. Erst die vorherrschend neoliberale Artikulation, von der die Auswertung der PISA-Studie bestimmt ist, die Befürchtung also, dass die soziale Ausdifferenzierung in den Klassenräumen zu einem Standortnachteil im globalen Wettbewerb der "Wissensgesellschaften" zu werden drohe, schreckt derzeit die Bildungspolitiker in Bund und Ländern auf.

Von Bildung ist die Rede, bekanntlich nicht erst seit PISA, als zentrale Zukunftsressource, als Forderung nach lebenslangem Lernen, als Selbst-Management, als Beschäftigung während Arbeitslosigkeit. Das ideologische Versprechen der Bildungsgesellschaft, in dem Bildung zum omnipotenten Stellrad der gesellschaftlichen Modernisierung erhoben wird, ist allgegenwärtig und politisch -- von links wie von rechts -- unhinterfragt. Ausgangspunkt ist stets der Hinweis auf die notwendige Ausrichtung von Bildungsprozessen an einer auf ‘Wissensproduktion basierenden ÖkonomieÂ’. Die Einrichtung von "flexiblen" und "schlanken" Bildungsgängen, die zunehmende Privatisierung und Marktorientierung von Bildungsträgern, von Wettbewerb unter den Bildungseinrichtungen, schließt hier unmittelbar an und folgt so den Vorgaben globalisierter Märkte. Doch der marktwirtschaftliche Zugriff auf die Bildungsinstitutionen stellt sich keinesfalls nur als eine Übernahme von außen dar, die ökonomische Indienstnahme von Schulen und Hochschulen geht vielmehr einher mit einer ideologischen Subjektivierung von Bildungspraxen, die auf eine "Ökonomisierung des Selbst" zielen: Die Bildungsakteure der Zukunft sollen bereits in der Schule, an den Hochschulen, während Phasen der Weiterbildung lernen, sich auf dem Markt zu platzieren und ihren Marktwert zu optimieren. Die Bayerisch-Sächsische Zukunftskommission hat in diesem Zusammenhang das Schlagwort von dem ‘unternehmerisch handelnden MenschenÂ’ (2000, 84) geprägt und fordert Schulen und Hochschulen dazu auf, sich diese Individualitätsform des flexiblen Kapitalismus als pädagogisches Leitbild zu eigen zu machen. Eine qualitativ neue Entgrenzung von Bildung und Ökonomie zeichnet sich hier ab, denn stieß die bisherige ökonomische Indienstnahme von Bildung noch vor den Schultoren an Grenzen, so soll für den "Bildungsunternehmer" der Zukunft diese letzte Grenzziehung gänzlich aufgehoben sein. Doch zugleich erleben wir, dass diese Entwicklung mit der Herausbildung neuer Handlungsfelder einhergeht, die widersprüchlich neu besetzt und angeregt werden. Entspricht die Propagierung "lebenslangen Lernens" der Formierung flexibler Biografien als allzeit verfügbarer Arbeitskraft, so beinhaltet die zeitliche und räumliche Entgrenzung von Lernen auch ein Ausbrechen aus linearen Lern- und Denkstrukturen. Lebensweltliche Lernansätze erfahren eine paradoxe Konjunktur, Schule wird zu einem "Haus des Lernens" (Bildungskomm.-NRW, 1995) erklärt, das auf dialogischen und auf Erfahrung basierenden Lernbeziehungen gründen soll, das zugleich aber in ein Regime der flexiblen Marktzurichtung des Bildungswesens eingebunden ist. Nicht nur der Markt wird in die Schulen und Hochschulen importiert auch die Widersprüche und Konfliktfelder die der Genese von Bildung eigen sind.

Kritisch- marxistische Bildungstheorie thematisiert Bildungsprozesse als reproduktiv eingebunden in die Aufrechterhaltung kapitalistischer Produktionsweise und damit in ihrer produktiven Funktion für die Legitimierung aber auch die Anfechtung von Herrschaft. Ein Verhältnis, das von Hans-Joachim Heydorn als "widersprüchliche Einheit" von Befreiung und Herrschaft skizziert wird, die sich historisch zwischen antizipierender Selbstentdeckung und gesellschaftlicher Destruktion formiert (Heydorn 1970). In diesem dialektischen Spannungsfeld der Fremd- und Selbstvergesellschaftung durch Bildung wird die Bestimmung politischer wie kultureller Handlungsräume zum Ausgangspunkt kritischer Theoriebildung. Die Analyse der Wirkungsweisen des Ideologischen, ihrer -- in diesem Widerspruch ausgetragenen -- kulturellen Praxen wie politischen Artikulationen, schließt sich hier unmittelbar an. Die Kritik des Ideologischen, als herrschaftliche (Fremd-) Vergesellschaftung, ist daher ein originärer Bestandteil kritischer Bildungstheorie, ist Gegenstand und Streitpunkt kritischer Bildungsforschung. Die gegenwärtige Neuordnung des Bildungswesens unterstreicht die Notwendigkeit ideologiekritischer Eingriffe, stellt aber auch eine Herausforderung für die Neuformulierung kritischer Bildungstheorie dar, wo der Zusammenhang von Fremd- und Selbstvergesellschaftung durch Bildung eine vorantreibende Zuspitzung erfährt: Bildungspraxen sehen sich einerseits verschärften Struktureffekten ausgesetzt, einer marktwirtschaftlichen Zurichtung, die auf die weitere soziale Polarisierung in den Klassenräumen hinausläuft; zugleich steht die Flexibilisierung des Sozialen, der Lebensweisen und der Lehr- und Lernkulturen für die Indienstnahme aber auch Anerkennung der Handlungsfähigkeit von Bildungsakteuren. Ideologiekritik steht notwendig vor der Aufgabe, diese widersprüchliche Einheit an den Ausgang ihrer Begriffsbildung zu stellen und damit die historische Entfaltung von Bildung und Herrschaft in ihrer je spezifischen Gesellschaftlichkeit zu durchdenken. Der folgende Überblick über ideologietheoretische Diskussionen und Konzepte innerhalb kritisch pädagogischer und bildungssoziologischer Ansätze, ist als erster Schritt angelegt, um die neue Qualität des Ideologischen in den Bildungsgesellschaften der Gegenwart zu erfassen. Dieser Überblick ist freilich nicht beliebig, er beansprucht vielmehr die Herausbildung und Fortentwicklung einer ideologiekritischen Theoriebildung aufzuzeigen, die sich in erster Linie als Werkzeug für soziale Emanzipation und Selbstermächtigung versteht, anstatt vom Elfenbeinturm der Wissenschaften aus über richtiges oder falsches Bewusstsein zu befinden. Mein Beitrag soll den Schwerpunkt vorwiegend auf angelsächsische und US-amerikanische Ansätze der kritischen Bildungstheorie und Pädagogik zu legen, hier insbesondere den ideologiekritischen Arbeiten von Henry Giroux.

Strukturkorrespondenz, Reproduktion und Bildung

Eine ideologiekritische Diskussion der Reproduktionsfunktion des Bildungswesens in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften wurde grundlegend in den Arbeiten der "New Sociology of EducationÂ’ (NSE) geleistet. Basil Bernstein (1975, dt. 1977), Pierre Bourdieu (1971 gemeinsam mit Jean-Claude Passeron; 1973; 2001) sowie Michael Young (1971) zeigen die sozio-kulturellen Mechanismen herrschaftlicher Reproduktion auf, die den Prozessen institutioneller Bildung eingeschrieben sind und sich in hegemonialen Sprachcodes (Bernstein) oder dem "heimlichen Lehrplan" (Young) manifestieren. Samuel Bowles und Herbert Gintis (1976, dt. 1978) formulierten, basierend auf einer historischen Studie des US-amerikanischen Bildungssystems, die These von der soziokulturellen Strukturkorrespondenz von Produktion und Bildung. Das Korrespondenzprinzip betont die Dynamik einer sich historisch reformulierenden Strukturangleichung zwischen den Sozialbeziehungen der Schule und den psycho-sozialen Anforderungen der Lohnarbeitsweisen. Die hierarchischen Lehr- und Lernbeziehungen der Bildungsinstitutionen sind ein "Spiegelbild" des vorgegebenen Autoritätsaufbaus fordistischer Lohnarbeit. Die entfremdete Arbeit am Arbeitsplatz entspricht der Entfremdung der Lernenden von Lehrplaninhalt ebenso, wie der Motivation für die Schularbeit über das Zensurensystem und andere extrinsische Belohnungsmuster (Bowles/Gintis, 163). Auch Bourdieu stellt die ideologische Bedeutung von Bildung in modernen Industriegesellschaften in den Mittelpunkt seiner bildungssoziologischen Überlegungen. So besteht eine wesentliche Funktion der Bildungsinstitutionen nach Bourdieu darin, soziale Ungleichheit zu "verschleiernÂ’, da diese den individuellen gesellschaftlichen Erfolg darstellen als gebunden an die "fairen" Methoden der meritokratischen Tests, der errungenen Diplome und Zeugnisse.
‘iÂ’Denn unter all den Lösungen, die im Laufe der Geschichte für das Problem der Übermittlung der Macht und der Privilegien gefunden worden sind, gibt es zweifellos keine einzige, die besser verschleiert ist und daher solchen Gesellschaften, die dazu neigen, die offenkundigsten Formen der traditionellen Übermittlung der Macht und der Privilegien zu verweigern, gerechter wird als diejenige, die das Unterrichtssystem garantiert, indem es dazu beiträgt, die Struktur der Klassenverhältnisse zu reproduzieren, und indem es hinter dem Mantel Neutralität verbirgt, dass es diese Funktion erfüllt. (Bourdieu dt. 1973, 93)Â’/iÂ’

Die Arbeiten der NSE sind vor allem eine kritische Zurückweisung all jener Konzepte, die ein expandierendes Bildungswesen zum Motor des sozialen Ausgleichs und der individuellen Mobilität erklären. Sie richten sich gegen die ‘Illusion der Chancengleichheit durch BildungÂ’ (Bourdieu/Passeron), die in den sechziger Jahren von den sozialdemokratischen und liberalen Bildungsreformbewegungen in den westlichen Industrienationen ausging. An die Stelle einer strukturellen und gesellschaftlichen Interpretation von sozialer Ungleichheit und Diskriminierung, stellt die Bildungsgesellschaft das Deutungsmuster des individuellen Versagens im "egalitären" und "fairen" Bildungssystem. Den ideologie- und reproduktionstheoretischen Arbeiten der NSE kommt hier das Verdienst zu, die sozio-kulturelle Bedeutung von institutioneller Bildung für die Aufrechterhaltung von Klassengesellschaft, von vertikaler -- rassistischer wie patriarchaler -- Vergesellschaftung, aufgezeigt und politisiert zu haben. Die Grenzen und die erkenntnistheoretischen Unzulänglichkeiten der Arbeiten der NSE sind häufig kritisiert worden, dabei steht vor allem die vorherrschende strukturtheoretische Lesart im Mittelpunkt der Kritik, die wenig Raum für die Einbeziehung von handlungstheoretischen Deutungen lässt und damit die konkreten Wirkungsweisen und Formierungsprozesse des Ideologischen in eine "Black-Box" der Reproduktion verwandelt (vgl. kritisch: Willis 1990; Apple 1979; Livingstone 1983). Das weitgehend mechanische Bild der Reproduktion und der ideologischen Formierung verstellt hier den analytischen Blick auf die Widersprüche, die Brüche und Diskontinuitäten, die der herrschaftlichen Vergesellschaftung durch Bildung nicht weniger eigen sind und die den Ausgang darstellen, für die aktive wie passive Einbindung in den Reproduktionsprozess. Henry Giroux weißt auf diesen Zusammenhang hin, betont zudem, dass die reduktionistische Perspektive der NSE letztlich die herrschaftlichen Strukturen bestätigt, wo sie die gegenhegemonialen Kräfte und ihre potenziell aufhebende Kraft ausblendet.
‘i’[...] each approach has failed to develop a theory of schooling that dialectically links structure and human agency. [...] Unknowingly, these perspectives not only helped reproduce the very mechanisms of domination they attacked, they have also ignored those ideological and cultural spaces that speakes to resistance and the promise of a transformative critical pedagogy. (1983, 75f)’/i’

Ideologie, Widerstand und Selbstermächtigung --Henry Giroux und die Critical Pedagogy

Eine ideologiekritische, die Handlungsdimensionen von Bildungsprozessen erkennende Erweiterung der reproduktionstheoretischen Deutungen ist im Anschluss an die NSE zu Beginn der achtziger Jahren von den US-amerikanischen TheoretikerInnen der "Critical Pedagogy" geleistet worden. Henry Giroux (1981; 1983), Michael Apple (1979; 1982), Stanley Aronowitz (1985) oder Jean Anyon (1980) stellen sich in die herrschaftskritische Tradition von Bourdieu, Bernstein oder Bowles/Gintis, ohne ihrerseits die strukturtheoretischen Verkürzungen des Reproduktionsansatzes zu übernehmen. In dieser Gründungsphase besteht der gemeinsame Anspruch, kritische Bildungstheorie in Ideologiekritik zu überführen, die Schulen als gesellschaftliche Hegemonieproduzenten thematisiert und Strategien des politischen und kulturellen Widerstandes entwickelt. Anstatt die passivierende Allmacht der ideologischen Apparate zu postulieren, gilt es pädagogische und ideologiekritische Praxen zu entwickeln, die auf die Unterstützung kritischer Handlungsfähigkeit und politischer Interventionsfähigkeit der Schüler und Schülerinnen zielen. Die Critical Pedagogy orientieren sich in dieser Zeit wesentlich an dem marxistischen Forschungszusammenhang des Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) und dessen ideologietheoretischen Diskussionen sowie ethnographischen Jugend(sub)kultur Studien (Willis 1977, dt.1982; McRobbie 1978; CCCS 1977; 1981). In Anlehnung an das CCCS kommt damit ein Ideologiebegriff zum Tragen, der die Wirkungsweisen des Ideologischen, als im Schulalltag gelebte Erfahrung und Praxis in den Mittelpunkt stellt. Anders als noch in den Arbeiten der NSE wird Ideologie damit nicht mehr als ausschließlich an das Bewusstsein gebunden konzipiert; vielmehr wird das Ideologische als eine gelebte Erkenntnisform gesehen, die sich in materiellen Alltagspraxen artikuliert, in denen Erfahrungen verarbeitet werden und Orientierung zur Lebensbewältigung gewonnen wird. Statische und von oben nach unten gedachte Deutungsweisen von Ideologie, als notwendig "falsches" oder "verschleiertes Bewusstsein", schließen sich hier aus; stattdessen wird das Ideologische zum hegemonialen Kampffeld um die Organisation, Vereinheitlichung und Ausrichtung des Alltagsverstandes, werden Schulen und Hochschulen als umstrittener Ort der ideologischen Vergesellschaftung angesehen. Vor allem die ethnographische Studie Learning to Labour von Paul Willis (1977), in deren Mittelpunkt der Schulalltag englischer Arbeiterjungen und die Eingliederung der Jugendlichen in die Lohnarbeit steht, wird zu einem Schlüsseltext für die Critical Pedagogy. Willis beschreibt anschaulich die zahlreichen Strategien der Auflehnung, der Verweigerung und des Widerstandes im Schulalltag, die das Bild vom passivierten Schüler widerlegen. Zugleich verdeutlicht seine Studie, dass die in rassistischen und sexistischen Praxen artikulierte Auflehnung in einer "Selbstverurteilung von Unten" mündet, die letztendlich die eigene subalterne Stellung reproduziert und zur "Anpassung im Widerstand" wird. Nicht der Zwang, die Autorität oder die willkürliche Disziplin des Schulalltages weist die Schüler an den ihnen zugewiesenen Platz in der Gesellschaft, vielmehr ist es der gegen diese Autoritäten entwickelte Widerstand der Gegenschulkultur, der die notwendige kulturelle Identität und Selbstbejahung stiftet -- etwa durch eine sexistische Aufwertung der Trennung von Kopf- und Handarbeit -- und die es im Anschluss an den Schulbesuch ermöglicht, den subalternen Fabrikalltag anzunehmen und zu ertragen.

Grundlegend hat Henry Giroux in seinem Buch Theory and Resistance in Education (1983) diesen Anstoß von Willis aufgenommen und in eine insbesondere an Antonio Gramsci orientierte Ideologiekritik schulischer Vergesellschaftung überführt. Ausgehend von einer Diskussion marxistisch- strukturalistischer (Althusser), sowie kulturalistischer Paradigmen (E.P.Thompson) versucht Giroux Kurzschlüsse in die eine oder andere Richtung zu überwinden, indem er die Prozesse ideologischer Subjektformierung als gelebte Erfahrung fasst, denen Effekte der Fremd- wie der Selbstbestimmung eigen sind:
##As both the medium and the outcome of lived experience, ideology functions not only to limit human action but also enable it. That is, ideology both promotes human agency and at the same time exerts force over individiuals and groups. (145)Â’/iÂ’
Giroux überwindet hier die lähmende Gegenüberstellung von Struktur und Handlung, von Bewusstsein und Unbewusstsein und überführt damit die für kritische PädagogInnen so entscheidende Frage nach den Möglichkeiten kritisch-emanzipatorischer Handlungsfähigkeit der Subjekte unter den Bedingungen ihrer herrschaftlichen Fremd-Vergesellschaftung in eine Analyse der Konstituierungsprozesse von Subjektivität. Zwar findet sich in Theory and Resistance in Education keine detaillierte Untersuchung dieser Prozesse, ebenso wenig eine bereits ausgefeilte Subjekttheorie; der erkenntnistheoretische Beitrag GirouxÂ’s basiert vielmehr auf der Öffnung des reproduktionstheoretischen Paradigmas für eine ideologiekritische Deutungsweise, die Bewusstseinsprozesse anerkennt als historisches "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", das widersprüchlich durchdrungen ist von kritischen wie konformistischen Elementen, von widerständigen wie angepassten Praxen.

Grundlegend für diese Lesart ist vor allem der Rückgriff auf Antonio Gramsci und dessen Beschreibung des "widersprüchlichen Alltagsverstandes", auf die Giroux nachdrücklich verweist: ‘Gramsci, in particular, provides a brilliant insight into the location and effects of ideology in the sphere of common sense he labeled contradictory consciousness.Â’ (151) Für Gramsci findet sowohl die Hegemoniekompetenz bürgerlicher Gesellschaften -- ihre soziokulturelle Erneuerungsfähigkeit in politischen wie ökonomischen Krisen -- als auch der emanzipatorische, gegen-hegemoniale Kampf um Selbstvergesellschaftung seinen Ausgangspunkt im Alltagsverstand. Gramsci beschreibt den Alltagsverstand als die "spontane Philosophie" der Massen, in der sich die ‘Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zueigen sein wirdÂ’ (#nachweis#) wiederfinden. Für eine auf Selbstbestimmung und emanzipatorische Vergesellschaftung zielende politische Praxis ist es darum entscheidend, die eigene Weltauffassung
‘iÂ’einheitlich und kohärent zu machen und bis zu einem Punkt anzuheben, zu dem das fortgeschrittenste Denken der Welt gelangt ist. [...] Der Anfang der kritischen Ausarbeitung ist das Bewusstsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein "Erkenne dich selbst" als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses (Gramsci, 1376).Â’/iÂ’

Giroux überführt diesen Beitrag Gramscis in eine kritische Pädagogik, die dazu aufruft, die eigenen Erfahrungen, die eigenen Geschichten -- die Schülerinnen und Schüler in den Klassenraum einbringen -- zum Gegenstand der selbstkritischen Reflexion werden zu lassen. Die aktive und partizipierende Eingebundenheit der Lernenden in die Struktur ideologischer Anrufungen, vermittelt in Alltagspraxen, die über den Schulalltag hinausreichen, wird so zum Gegenstand kritischen Lernens. Ideologiekritik selbst wird damit zur Unterrichtspraxis, nicht im Sinne einer Aufklärung über "richtiges" und "falsches Bewusstsein", vielmehr als Praxis der Selbstaufklärung und kritischer Selbstbestimmung:
‘i’[...] an essential aspect of radical pedagogy is the need for students to critically interrogate their inner histories and experiences. It is crucial for them to be able to understand how their own experiences are reinforced, contradicted, and suppressed as a result of the ideologies mediated in the material and intellectual practices that characterize daily classroom life. (##150) ‘/i’
Dieser Zugang erlaubt es Giroux, den Ort und die Richtung einer pädagogisch motivierten Ideologiekritik neu zu bestimmen: Die Kritik des Ideologischen ist nicht mehr exklusive Praxis professioneller Intellektueller (Lehrer), denen die Aufgabe zufällt die ideologisch Entmündigten (Schüler) aufzuklären und mit konformistischen oder auch radikal-revolutionären Erklärungsmodellen zu versorgen; an die Stelle des Lernens als "Fütterungsvorgang" tritt ein "dialogisches Lernen" (Freire, 1973) das die Lernenden befähigen soll, sich als Akteur im Geschichtsprozess zu erkennen, sich zum Widerstand zu ermächtigen. Lehren wird damit zur Provokation und zur Problematisierung bestehender Gewissheiten, nicht das Abfragen von Antworten vielmehr das Aufwerfen von Fragen, der Anstoß zur Selbstbestimmung steht im Mittelpunkt einer solchen ideologiekritisch motivierten pädagogischen Praxis.

Doch Ideologiekritik kann sich nicht darauf beschränken, quasi als eine Spielart der Wissenssoziologie, alles in Frage zu stellen und dabei nichts zu kritisieren. Die angestrebte dialogische Dekonstruktion des Selbst als "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" wird erst dann auch zur Infragestellung ideologischer (Fremd-) Vergesellschaftung, wenn sie eingebunden ist, in ein ‘Konzept von Kampf und KritikÂ’ (##144). Giroux betont, dass die ideologiekritische Offenlegung des Zusammenspiels von Herrschaft einerseits und der kulturellen Produktion von Bedeutung und Sinn andererseits, zwar von keinem "funktionalen Klasseninteresse" aus zu bestimmen ist, dennoch ist eine solche Offenlegung erst durch die Erkenntnis der Dynamik sozialer Klassenantagonismen leistbar. Das heißt, obgleich der Hinweis auf die relative Autonomie des Ideologischen zentral ist -- die Kritik des Ideologischen bleibt notwendig interessengebunden und damit nur aus einem "außerideologischen Wahrheitsanspruch" heraus zu leisten. Denn Ideologiekritik kommt zugleich die Aufgabe zu
‘i’[To] identify the contents of the ideologies in question and judge the truth or falsity [...] That is, if the notions of ideology and ideology critique are really to serve emancipatory class interests, ultimately they cannot be seperated from the question of thruth claims. (Giroux #jahr#, 144f)’/i’
Diese Einordnung ist entscheidend, denn nur die Formulierung eines solchen Wahrheitsanspruchs, der sich in universellen Werten wie Gerechtigkeit, Solidarität oder Freiheit ausdrückt, verleiht Ideologiekritik auch eine aktive Qualität, erlaubt die Anbindung an soziales Handeln, ermöglicht die Integration in emanzipatorische soziale Kämpfe und folglich die Überführung in eine transformative und radikale Pädagogik. Deutlich wir dies anhand von GirouxÂ’s Entwürfen zu einer "Pädagogik des Widerstandes" (##107ff). Widerstand, in Unterscheidung zu oppositionellen Handeln, beginnt für Giroux dort, wo dieser zum einen eine ‘entwickelte Hoffnung, ein Element der Transzendenz, für den radikalen AufbruchÂ’ (108) ausdrückt, zum anderen wo Widerstand eine ‘aufdeckende FunktionÂ’ erlangt und so erst ‘die theoretischen Möglichkeiten bereitstellt, für Selbstreflexion und den Kampf für Selbstemanzipation und soziale EmanzipationÂ’ (109). Dieses "transzendente" Element der Utopie ist notwendig, eine außerhalb der herrschenden ideologischen Ordnung gesetzte "WahrheitÂ’, die freilich, wie Marx es in den Thesen über Feuerbach formuliert, keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage ist, dass heißt, sie bleibt stets an historisch spezifische Kämpfe um Befreiung gebunden.

Fassen wir kurz zusammen: GirouxÂ’s Konzept einer dialektischen Überwindung der Defizite klassischer Reproduktionsansätze der NSE, die ideologische Vergesellschaftungseffekte als einen weitgehend schematischen, von oben nach unten gedachten Prozess denken, basiert auf der Erkenntnis des Alltagsverstandes als Ort der aktiven und widersprüchlichen Aneignung ideologischer Anrufungen. Hegemonietheoretisch angewendet und auf Lehr- und Lernpraxen überführt, wird pädagogisch motivierte Ideologiekritik damit zur dialogischen, von unten nach oben verlaufenden Praxis der Selbstermächtigung durch Selbstverortung im gesellschaftlichen Ganzen. Zur ideologiekritischen und widerständigen Praxis wird eine solche "Pädagogik von unten" jedoch erst dort, wo sie sich als Bestandteil politischer und kultureller Kämpfe um Befreiung versteht und hieraus ein utopisches Selbstverständnis gewinnt, das notwendig ein antizipierendes Verständnis beinhaltet, das immer auch an außer-ideologisch gesetzte und universelle "Wahrheiten" gebunden ist. Hier ist das Spannungsfeld auszumachen, in dem eine ideologiekritische Pädagogik und Bildungstheorie, wie sie Giroux in Theory and Resistance in Education noch entwirft, gegenüber post-strukturalistisch semiotisch argumentierenden Ansätzen steht, in denen die mögliche Extorität #?# eines Diskurses als außer-ideologische Praxis verneint wird. Ansätze, die in den neunziger Jahren auch in der nord-amerikanischen Critical-Pedagogy eine zentrale Bedeutung erlangt haben und einen marxistisch inspirierten Ideologiebegriff in die Krise führen.

Die Krise des Ideologiebegriffs als Krise der Kritik

Der Niedergang des Ideologiebegriffs als analytische Kategorie wird von Slavoj Zizek auf dessen inflationäre Ausdehnung zurückgeführt, die zu einer gänzlichen Aufhebung des Außer-Ideologischen geführt hat:
‘i’[One] of the main reasons for progressive abandonment of the notion of ideology: this notion somehow grows "to strong", it begins to embrace everything, inclusive of the very neutral, extra-ideological ground supposed to provide the standard by means of which one can measure ideological distortion. (1994, 16)’/i’
Exemplarisch studieren lässt sich die von Zizek beschriebene Erosion des Ideologiebegriffs, in den Arbeiten von Ernesto Laclau, die sowohl für die britischen Cultural-Studies (Hall, 2000), als auch die nord-amerikanischen Critical-Pedagogy (Giroux 1993; McLaren 1995) orientierend sind. Der "frühe" Laclau (1981) hat zunächst die ideologiekritische Diskussion ausgesprochen produktiv erweitert, wo seine Kategorie der "Artikulation" aufzeigt, dass ideologische Formierungsprozesse durch ein wechselndes und heterogenes Feld ideologischer Diskurse bestimmt sind, die sich in ideologischen Kämpfen lokal und historisch-spezifisch, reartikulieren (vgl. auch Weber 1994). Laclau demonstriert diesen Zusammenhang beispielhaft am Nationalismus, der an keinen Klassenstandpunkt gebunden ist, sich sowohl in bürgerlichen als auch sozialistischen Gesellschaften artikuliert. Doch bestand hier bereits die Gefahr, dass die Wahrnehmung und Kritik historisch gewachsener Strukturen und gesellschaftlicher Interessen durch einen zu weitreichenden Diskursbegriff verloren geht, so führt der radikale Anti-Essenzialismus des "späteren" Laclau (1991 gemeinsam mit Chantal Mouffe) zu dem von Zizek beschriebenen Verlust des außer-ideologischen und damit zur faktischen Aufgabe von Ideologiekritik. Laclau/Mouffe betreiben eine anti-essenzialistische Radikalisierung der Kategorie der Artikulation, die schließlich als diskursive Praxis ‘keine Konstituierungsebene vor oder außerhalb der Verstreuung der artikulierten ElementeÂ’ (146) mehr besitzt. Gesellschaft wird damit zu einem fließenden Feld der Diskursivität, einem Gleiten der Differenzen, so dass die Fixierung von bleibenden Bedeutungen oder -- dekonstruktivistisch gesprochen -- die Benennung eines "transzendentalen Signifikanten", wenn überhaupt, nur partiell möglich ist. Diese poststrukturalistische Lesart zersetzt freilich das erkenntnistheoretische a priori einer marxistisch inspirierten Ideologiekritik, die ja, der eigenen Kritikfähigkeit wegen, notwendig auf die Aufrechterhaltung eines außer-ideologischen und transzendenten Wahrheitsanspruch angewiesen ist.

Dieser Widerspruch zwischen marxistischer Ideologiekritik auf der einen und einer dekonstruktivistisch und diskursanalytisch motivierten Kritik herrschaftlicher Vergesellschaftung auf der anderen Seite, ist in den jüngsten Arbeiten der Critical-Pedagogy virulent geworden. Eine große Anzahl von Arbeiten, die in dem zusehends ausufernden und unübersichtlichen Feld der Critical Pedagogy seit Beginn der neunziger Jahre entstanden sind, argumentiert ideologiekritisch auf der Basis diskursanalytischer und dekonstruktivistischer Methoden (vgl. Peters 1996). Auch Henry Giroux hat einen semiotischen Cultural Study-Ansatz für die Critical-Pedagogy nutzbar gemacht, der kulturelle Texte wie Hollywoodfilme, Disney-Produktionen oder populäre Werbekampagnen auf ihre wissens- und identitätsstiftenden Botschaften für Kinder und Jugendliche hin analysiert (1997; 1998; 1999; 2000). Diese Arbeiten sind Ausdruck einer theoretischen Neuorientierung, die in Border Crossings (1992) ihre Grundlegung findet. Giroux fordert hier nachdrücklich -- unter Bezugnahme auf Laclau -- zu einem ‘epistemologischen BruchÂ’ auf, der die Critical Pedagogy in einen poststrukturalistisch und postmodernistisch motivierten Cultural Study Ansatz überführen soll (1ff). Entsprechend steht für Giroux fortan die Analyse und die Kritik der kulturellen Konstruktion und Organisation des pädagogischen Feldes bei der Produktion von geschlechtlichen, ethnischen und klassenspezifischen Identitäten und Differenzen im Mittelpunkt. Die damit vorangetriebene Neuausrichtung der Critical Pedagogy steht einerseits für die notwendige Öffnung gegenüber einer Vielzahl von sozialen Antagonismen und Differenzen, die sich politisch in den Neuen Sozialen Bewegungen artikulieren, andererseits ist in ihr bereits ein politischer Partikularismus angelegt, in dem Gesellschaft als Ganzes zusehends zu einer Leerstelle wird, in dem der Entwurf universeller Utopien unter den Generalverdacht des Essenzialismus steht. Giroux ist sich dieses Widerspruchs durchaus bewusst, sein in Border Crossings ausformulierter Ansatz eines ‘widerständigen PostmodernismusÂ’, der eine Politik der Differenz und der Dekonstruktion mit der Forderung nach einer radikalen Demokratisierung von Gesellschaft verbindet (39-89; vgl. auch GirouxÂ’s Beitrag in diesem Heft) ist letztendlich auch die intellektuelle Verhandlung dieses Widerspruchs. Doch festzuhalten ist, dass der Begriff des Ideologischen für Giroux fortan in den Hintergrund tritt und seine zentrale analytische Stellung verliert, die er insbesondere in Theory and Resistance in Education eingenommen hat. Damit geht aber auch eine analytische Kategorie verloren, deren heuristischer Wert es letztlich ist, Herrschaftskritik zugleich an einen Entwurf des "Außer-ideologischen" binden zu können und damit die Utopie egalitärer Selbstvergesellschaftung aufrechtzuerhalten.

Die gesellschaftspolitische Leerstelle, die der poststrukturalistische Rückzug vom Feld der Ideologiekritik hinterlassen hat, wird von verschiedenen Critical Pedagogy VertreterInnen "der ersten Stunde" grundlegend problematisiert (Anyon 1994; Apple 1997; Misgeld, dt. 1994; Apple/Whitty 2002; McLaren/Farahmandpur 2002). Gemeinsamer Ausgangspunkt dieser Kritiken ist zunächst die Diskussion der neoliberalen und neokonservativen Umstrukturierung des Bildungswesens in den USA. Dabei wird vor allem die Ökonomisierung pädagogischer Praxen, die forcierte Verwandlung von Wissenformen in Ware als eine strukturelle Kraft der sozialen Hierarchisierung angesehen, die durch poststrukturalistische Kritiken nicht erfasst wird. Michael Apple und Georg Whitty (2002) stellen zunächst nachdrücklich den Fortschritt zahlreicher poststrukturalistischer Positionen heraus, etwa gegenüber reduktionistischen Lesarten der Korrespondenz von Produktion und Bildung (Bowles/Gintis). Sie verweisen hier insbesondere auf die Erkenntnis des Lokalen, d.h. der konkreten Analyse der Prozesse schulischer Vergesellschaftung als kulturell vermittelt, ebenso auf die Abwehr von essenzialistischen Erzählungen, in denen sämtliche gesellschaftliche Hierarchieverhältnisse aus einem Alles determinierenden Klassenantagonismus abgeleitet werden. Ihre Kritik an dekonstruktivistischen und identitätstheoretischen Ansätzen ist jedoch nicht weniger nachdrücklich und zielt neben der dort vorherrschenden Zurückweisung struktureller Analysen des Kapitalverhältnisses und dessen Auswirkungen auf den Schulalltag vor allem auf den Verlust eines ‘kollektiven GedächtnissesÂ’, in dessen Mittelpunkt das Bewusstsein um die Sicherung und die Verteidigung universeller Gleichheits- und Gerechtigkeitsansprüche steht. An die Stelle eines solchen gesellschaftlichen Entwurfes, ist das Verständnis von Gesellschaft als ein Ensemble inkommensurabler Sprachspiele und Diskurse getreten, das wenig Raum lässt für kollektive Entwürfe und Verteidigungskämpfe, bzw. entsprechende Bemühungen quasi unter philosophische Quarantäne gestellt hat.

Apple und Whitty weisen zurecht auf die Schwäche einer (akademischen) Linken hin, die auf dem Unvermögen basiert, einen alternativen Gesellschaftsentwurf aufrecht zu erhalten, der in der Lage wäre, auf die neoliberale Ideologie des Marktes als universelles Instrument der sozialen Regulierung eine hegemoniefähige moralisch-politische Antwort zu geben. Der Verlust eines "kollektiven Gedächtnisses" ist daher zweifellos auch als Verlust ideologiekritischer Kompetenz zu werten. Für die Critical Pedagogy stellt sich damit die Frage, ob ihr Aufbruch zu einer die lokalen Orte schulischer Vergesellschaftung und die Handlungsweisen der pädagogischen Akteure anerkennenden Ideologiekritik hier an einem Umschlagpunkt angelangt ist, der nicht nur die Kohärenz des Ansatzes als solchen in Frage stellt, vielmehr auch dessen gesellschaftliche Kritik- und Interventionsfähigkeit. Henry Giroux hat in "Theory and Resistance in Education" vorgeführt, dass Ideologiekritik als pädagogische Praxis der emanzipativen Selbstermächtigung unter den Bedingungen ideologischer Fremdvergesellschaftung auf die Bestimmung des "Außer-Ideologischen" angewiesen ist. Es gibt gute Gründe, nicht hinter diese Erkenntnis der "frühen" Critical Pedagogy zurückzutreten. Die bildungspolitische Gegenwart einer ideologisch aufgeladenen Indienstnahme von Bildungsprozessen, die in den allgegenwärtigen Modernisierungsparolen wie "lebenslanges Lernen", "Autonomie" oder "Eigenverantwortung" zum Ausdruck kommt, bestätigt diese Annahme. Denn die Etablierung dieser Kategorien als mobilisierende Metaphern des neoliberalen Aufbruchs gründet nicht zuletzt auf ihrer Enthebung aus den gesellschaftskritischen Kontexten der sozialen Bewegungen der siebziger Jahre. Wenn neoliberale Bildungskonzepte sich die Forderung nach Partizipation und Selbstbestimmung so erfolgreich zu eigen machen, sie in eine Politik der sozialen Ausgrenzung und Spaltung überführen können, dann nicht zuletzt, weil auch hier zu Lande das "kollektive GedächtnisÂ’, das ein Leben außerhalb der Logik des Marktes zu antizipieren vermag, verloren gegangen ist. Die Reartikulation eines radikal-demokratischen Projektes, in dem das "uneingelöste Versprechen der Freiheit durch Bildung" (Heydorn) als humanistische Utopie verteidigt und politisiert wird, ist daher zentrale Aufgabe auch und gerade von Ideologiekritik. Ihre gesellschaftliche Relevanz erlangt die Kritik des Ideologischen freilich erst dort, wo sie als provozierende Hinterfragung des Alltagsbewusstseins den Anstoß zur gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit leistet, d.h. in pädagogische Praxis überführt wird, in der die Illusionen und Anrufungen einer marktförmigen Bildungsgesellschaft aufgegriffen, verhandelt und in die Krise geführt werden. Ideologiekritik ist damit untrennbar an eine dialogische Praxis der Selbstaufklärung gebunden, die eine radikale Öffnung von Lernstätten voraussetzt, in der Lernen an und in den Lebenssituationen des Einzelnen, die kritische (Selbst-) Verortung im gesellschaftlichen Ganzen erlaubt. Ob die gegenwärtigen Krisen und Brüche im Lehr- und Lernsystem institutioneller Bildung und die widersprüchliche Anerkennung der Subjekte und ihrer Handlungsfähigkeit im flexiblen Kapitalismus der Gegenwart über ihre repressiven Effekte hinaus auch Ausgang einer radikalen Kritik bestehender sozialer Spaltung sein kann, ist eine Frage, die sich letztlich nur aus der politischen Praxis heraus erschließen wird. Kritische Pädagogik und Bildungstheorie ist aufgerufen, die notwendigen theoretischen Werkzeuge für eine solche Praxis bereitzustellen, die Kritik des Ideologischen bleibt dabei ein unverzichtbares Werkzeug.

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erschienen in DAS ARGUMENT 246