Heißer Oktober

Kommentare und Berichte

Dieser Oktober wird heiß. All die Widersprüche, die schon den deutschen Wahlkampf durcheinander gewirbelt haben, müssen jetzt unter weiter verschärftem Realitätsdruck bearbeitet werden. ...

... Kampagnenbedingte Simplifizierungen gehören schleunigst entsorgt, "Kollateralschäden" (der immerhin dabei herausgesprungenen Klar- und Wahrheiten) müssen repariert und politische Eseleien richtiggestellt werden. Die unglückselige Herta Däubler-Gmelin beispielsweise sollte, welche Rolle auch immer ihr in der Politik verbleibt, den Mut zur Selbstkritik aufbringen und sich vorbehaltlos entschuldigen. Im Übrigen verdankt die Republik ihr eine überfällige Klarstellung wider Willen: Der "deutsche Weg" hat keine Leitplanken (so treffend ein Kommentator des MDR). Wie die Ministerin aus der Kurve flog, hat vielleicht auf andere Sonderwegsanfällige immunisierende Wirkung.
Doch heiß wird dieser Herbst natürlich nicht nur im deutschen Maßstab. Die Koordinaten der Weltpolitik drohen, wie bereits nach 9/11, ein weiteres Mal zu verrutschen. (Ob der Begriff Drohung hier zu eindimensional, zu defensiv und Status-quo-orientiert ist, weil die Krise sich positiv wenden lässt, müssen die Reaktionen der herausgeforderten Akteure, darunter der deutschen, noch zeigen.)
Kern der Dynamik: Die Vereinigten Staaten erzwingen ihrer Sicht der Irakproblematik den Spitzenplatz auf der Weltagenda.
Nach Monaten vergeblicher Massage der Verbündeten von Riad bis Brüssel, von Kairo bis Berlin und herausfordernden Ankündigungen, im Zweifel auch gegen die Weltmeinung auf Krieg setzen zu wollen (Cheneys Brandrede beispielsweise), schlug der Präsident selbst den Weg zur UNO ein. Einen Tag nach dem 9/11-Jahresgedächtnis trat der "mächtigste Mann der Welt" vor das UN-Plenum, um die versammelte Staatengemeinschaft in die Schranken zu fordern. Die Vereinigten Staaten, erklärte er unverblümt, würden so oder so tun, was sie für richtig halten, aber der UNO bleibe noch eine Chance. Sie müsse jetzt wählen: Washingtons Entscheidungen absegnen oder, von Bush offen mit der gescheiterten Vorgängerin, dem Völkerbund der Zwischenkriegszeit, verglichen, dessen Weg teilen. Die Alternative lässt sich schroffer kaum formulieren: Mitmachen - oder in die Bedeutungslosigkeit absinken.
Aber herausgefordert sind nicht nur die Vereinten Nationen. Gleiches gilt für die EU, genauer gesagt: für Paris und Berlin, denn Brüssels Stimme hört derzeit niemand, und aus London, Rom oder Madrid erwartet das Weiße Haus keine Schwierigkeiten. Paris wiegt wie London als Ständiges Sicherheitsratsmitglied, also als potentielle Vetomacht, in dieser Situation mehr, als die wirtschaftlichen und militärischen Kennziffern des Landes hergeben. Berlin seinerseits hat, da der erstrebte ständige Sicherheitsratssitz nach wie vor aussteht, mit der Kriegsdienstverweigerung des Bundeskanzlers im Fall Irak eine Art selbst gebasteltes Vetorecht ausgeübt, dieses damit aber zugleich auch schon verbraucht - sofern es Schröder und Fischer nicht gelingt, zumindest ihren UN-Spielraum zurückzugewinnen, nachdem das Thema an den East River zurückgekehrt ist. Von seiner Wahlkampftauglichkeit abgesehen: auch außenpolitisch kam Schröders Signal durchaus nicht zu früh (zu sagen rechtzeitig wäre zu viel des Lobs), und der Kanzler kann sich schmeicheln, mit seinem präventiven Ersatz-"Veto" gegen unilateral-amerikanische preventive self-defense beigetragen zu haben, Bush von der Ratsamkeit des Wegs (zurück) in die UNO zu überzeugen.
Nun, es bedurfte nicht erst der Irakkriegspläne, um die transatlantischen Verständigungsschwierigkeiten in bis dato unbekannte Dimensionen zu steigern. Es ist ja nicht etwa nur der zuspitzende und deshalb die Debatte beflügelnde Robert Kagan (vgl. S.1194 ff.), der sich fragt, ob Amerikaner und Europäer noch über ein gemeinsames Weltbild verfügen oder ob sie heute unterschiedliche, voneinander getrennte Welten bewohnen. Inwieweit die amerikanische Welt, wie Kagan meint, die reale und die der Europäer ein - unter dem amerikanischen Schutzdach der Nachkriegsjahrzehnte ins Kraut geschossenes - Phantasiegebilde sei, steht hier nicht zur Debatte. Zustimmen muss man Kagan wohl, wenn er Selbstgerechtigkeit und geschwundene Zuhörbereitschaft auf beiden Seiten zu den Ursachen der transatlantischen Entfremdung zählt, und wenn er (wie Jedediah Purdy nachdrücklich in der "Zeit" vom 15. August 2002) dafür plädiert, dass Europäer wie Amerikaner lieber versuchen sollten, gemeinsame Werte wiederzuentdecken, als sich gegeneinander zu profilieren (eine Versuchung, die den Koloss USA weniger heimsucht als eine ihrer selbst noch nicht sichere EU).
Mit oder ohne die - zum Teil durchaus beunruhigenden - Deutschtümeleien und das Amerika-Bashing im hiesigen Wahlkampfgetümmel sind die deutsch-amerikanischen Beziehungen unter Bush junior auf einem Tiefstand angelangt. Die Eigentümlichkeiten der neuen Administration haben ihren Anteil daran, aber deutscher Dünkel desgleichen. Von partners in leadership wie unter Bush senior 1989 wird wohl so schnell nicht wieder die Rede sein, wobei die Fairness verlangt zu erinnern, dass Washington diese Formel schon seinerzeit rasch wieder aus dem Verkehr zog. Auch Madeleine Albright hat ihrem Protegé Joschka niemals angetragen, Berlin möge an der Seite Washingtons die Welt regieren. Wie dem auch sei: Die Administrationen wechseln, in Washington wie an Rhein oder Spree, aber das Bündnis mit Amerika - man entschuldige das westintegrationistische ceterum censeo - bleibt "Kern deutscher Staatsräson", solange da, wo Bundesrepublik draufsteht, tatsächlich Bundesrepublik drin sein soll. Konflikte zwischen Berlin und Washington müssen bereinigt oder ausgetragen werden, aber unter Einhaltung diplomatischer Minimalstandards. Ärgerlich, aber aktenkundig: Es waren nicht die Amerikaner, die zuerst gegen diese Elementarregel verstießen.
Schlimmer noch: Dünkel und - Verzeihung! - Dummheit im Umgang mit Partnern, die Deutschland in einem jahrzehntelangen, längst nicht abgeschlossenen Prozess zur Rückkehr in die Staatengemeinschaft verhalfen, belasten ja nicht nur das Verhältnis zu Amerika, zweimal Geburtshelfer dieser zweimal geborenen Republik. Ähnlich geht es seit Jahren im Verhältnis mit Paris zu, der anderen Schlüsselmacht deutscher Westeinbindung und des europäischen partners in leadership von Adenauer-De Gaulle über Brandt-Pompidou bis Schmidt-Giscard oder Kohl-Mitterrand. Gleichgültig ob die Vernachlässigung der deutsch-französischen Beziehungen eher Schröderscher Insensibilität für die konstitutive Bedeutung derselben oder einer entsprechenden Allgemeindisposition der Berliner Republik anzukreiden sein mag: Gerade auf diesem Feld herrscht dringender Korrekturbedarf. Kein "europäischer Weg" ohne Konzertation zwischen Berlin und Paris, das die Deutschen zumal in seiner UNO-Sicherheitsratsrolle stützen sollten, wenn schon London an gemeinschaftlicher Einflussnahme der Europäer auf dieser Ebene kein Interesse zeigt oder sie zumindest der Pflege einer - noch so verschlissenen - special relationship mit Washington nachordnet.
Kurzum: Die Bundesrepublik muss sich positionieren, die deutsche Öffentlichkeit ist gefordert. Ein Kenner wie William Pfaff geht in der eingetretenen Konstellation so weit, das Beispiel De Gaulles heraufzubeschwören, der 1966 Frankreichs militärische Integration in die NATO aufkündigte und diese zwang, ihr Hauptquartier aus dem französischen Fontainebleau nach Belgien zu verlegen sowie ihre Stützpunkte und anderen Einrichtungen in Frankreich zu schließen. "Die selbe Option steht Deutschland offen, wenn es tatsächlich das Vertrauen in die Vereinigten Staaten verloren hat oder glaubt, diese hielten sich nicht länger an Artikel 1 des NATO-Vertrags, der alle Partner verpflichtet, sich ,jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist'. Deutschland wäre dann möglicherweise isoliert, aber auch die Vereinigten Staaten wären in einer wichtigen Frage isoliert. Doch würde Deutschland auf diese Weise sein Außenpolitik-Problem noch verschärfen. Statt keine Außenpolitik zu haben, hätte es plötzlich eine erschreckend dramatische, die voller Ungewissheiten steckt." ("International Herald Tribune", 21./22.9.2002) Dass auch die Europäische Union gegenwärtig keine eigene Außenpolitik habe, die Deutschlands Problem ersatzweise lösen könnte, gehöre zu den Handicaps der Europäer in der Auseinandersetzung mit Washington.
Ohne mich?
Pfaff meint, die von Schröder wie Stoiber demonstrierte Distanz zu George W. Bushs Irakkriegsplänen habe den, seit 1945 andauernden "Wunsch der deutschen Öffentlichkeit reflektiert, überhaupt keine Außenpolitik zu haben und am allerwenigsten eine Kriegspolitik". Manche Wahlkampfbeobachter verzeichneten eine "Ohne mich"Stimmung der Deutschen. "Ohne mich" lautete bekanntlich in den ersten Jahren der Westrepublik der informelle Einheitsslogan der "Wiederbewaffnungs"-und Bündnisgegner quer durchs politische Spektrum, Ausdruck einer durchaus gemischten, teils ehrenwerten, teils ressentimentgeladenen Motivlage im öffentlichen Bewusstsein der Nachkriegsdeutschen, zwischen ehrlichem Bemühen, aus der Niederlage zu lernen, und Ablehnung der Sieger, Verhaftung in antiwestlichen Traditionen. Mit dem Voranschreiten der atlantischen und westeuropäischen Integration der neuen Republik und dem Einschwenken der SPD auf diesen Kurs verstummte das "Ohne mich". Wie immer man den Anteil der seinerzeitigen Opposition an der Konsolidierung der Neugründung im Westen nachträglich bewerten mag: Die Option, zum "Ohne mich" zurückzukehren, haben die Deutschen nicht. Es bleibt ihnen, gleich von welcher Mehrheit und um wie viel hundert Kilometer östlich von Brüssel regiert, keine andere Wahl, als die Widersprüche der weltpolitischen Situation zur Kenntnis zu nehmen, sie auszuhalten und sich nach vorn zu orientieren: auf europäische Antworten, auf den Mut, sich der amerikanischen Herausforderung zu stellen, ohne die Fundamente der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte zu gefährden, auf die geduldige Ausschöpfung, die hartnäckige Ausweitung aller Möglichkeiten des UNO-Systems.
Denn mit der Rehabilitierung des Krieges als Mittel der Politik, zumal der ökonomisch wie militärisch potentesten Akteure der reichen Welt gegenüber der benachteiligten, stellt sich "das einzig überlebende Modell menschlichen Fortschritts" (George W. Bush) selbst das denkbar kläglichste Zeugnis aus. Und die Erfindung eines Staatenrechts auf "präventive Selbstverteidigung" Tausende Kilometer jenseits der eigenen Grenzen ist klassischer Orwell: double speak pur.
Karl D. Bredthauer
Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2002