Ein richtiges Signal

Unter den Augen der Weltöffentlichkeit bereite Washington einen neuen Feldzug gegen den Irak vor - und im deutschen Wahlkampf komme das Thema nicht vor! ...

... Obwohl die Bundesrepublik zu den engsten Verbündeten der Vereinigten Staaten zählt und obwohl sie, wie im Golfkrieg von 1991, auch diesmal als Drehkreuz der amerikanischen Mittelostoperationen zu dienen hätte. Etwa so hörte man es vor dem 5. August 2002. Dann eröffnete Gerhard Schröder inHannoverdie "heißePhase" des Wahlkampfs. Die überraschte Öffentlichkeit erfuhr, die SPD-Führung habe beschlossen, eine deutsche Beteiligung an Kriegshandlungen gegen Bagdadabzulehnen. Weil dieNATOunmittelbar nach der Bundestagswahl am 23. September (beim Treffen der Verteidigungsminister in Warschau) über das weitere Vorgehen im Nahen Osten berate, hätten die Wähler einen Anspruch darauf zu wissen, welche Position die Sozialdemokraten einnähmen. Seine Regierung habe ihre Bereitschaft zur Solidarität mit Amerika nach dem 11. September unter Beweis gestellt. "Aber dieses Land wird unter meiner Führung Abenteuern nicht zur Verfügung stehen." Zwar solle der Druck auf Bagdad aufrechterhalten werden, die UN-Inspektoren wieder ins Land zu lassen. "Aber Spielen mit Krieg und militärischem Vorgehen - da kann ich nur vor warnen. Das ist mit uns nicht zu machen." Deutschland würde sich auch nicht an der Finanzierung eines solchen Krieges beteiligen, wie das unter seinem Vorgänger Kohl - mit 18 Milliarden DM - geschehen sei. Die Zeit der "Scheckbuchdiplomatie" sei vorbei. Generalsekretär Müntefering teilte mit, das Präsidium der SPD habe eine Beteiligung der Bundesrepublik an einem Krieg zur Entmachtung Saddam Husseins unabhängig davon abgelehnt, ob der UN-Sicherheitsrat ihn autorisiere. "Wir lassen uns nicht in Kriegsabenteuer verwickeln. Wir machen einen deutschen Weg und lassen uns nicht vereinnahmen."1 Ungewohnte Töne, ziemlich schrill artikuliert. Der Wahlgegner reagierte unsicher, Kandidat Stoiber hielt sich vorsichtig bedeckt, während Schäuble, im Einklang mit der Mehrheit der Leitartikler, politische Korrektheit anmahnte. Und natürlich hieß es jetzt, hier werde ein Thema "in den Wahlkampf gezogen", das viel zu ernst dazu sei, coram publico kontrovers diskutiert zu werden. Wenn Schröder glaubt, seine Regierung habe es - nach Kosovo, Mazedonien, Afghanistan - nicht nötig, atlantische Bündnistreue um jeden Preis zu demonstrieren, kann man ihm folgen. Die einen loben, die anderen verurteilen es - aber kaum jemand bestreitet, dass Schröder/Fischer gleich zu Beginn ihrer Amtszeit eine Schwelle überschritten haben, vor der alle Bonner Vorgänger zurückgeschreckt waren: Krieg. Beteiligung deutscher Soldaten an einem Kampfeinsatz der NATO, und nicht an irgendeinem, sondern gleich zur Premiere an einem völkerrechtlich so zweifelhaften Unternehmen wie dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Gerhard Schröder, der erste Kanzler der Berliner Republik, berief sich 1999 auf die raison dÂ’être der Bonner, um die Unvermeidlichkeit des deutschen Kriegseintritts an der Seite der USA zu begründen: Kern deutscher Staatsräson sei das Bündnis mit den Vereinigten Staaten, hatten Unionskanzler von Adenauer bis Kohl formuliert. Was "Adenauers Enkel" bekanntlich nicht hinderte, sich weiter gehenden Ver- wicklungen in den Golfkrieg von 1991 zu entziehen, durch "Scheckbuchdiplomatie", wie ihm nun Nachfolger Schröder vorhält. Der Bezug auf die "Staatsräson" der Bundesrepublik war im Kern richtig - erst recht, wenn ein in europäischatlantischen Dingen nicht immer ganz sattelfest erscheinender, periodisch mit "deutschen Wegen" und nationalen Profilierungsversuchen liebäugelnder Gerhard Schröder zu Protokoll gibt, dass er ihr folgen will. Der Kompass stimmt, aber man muss mit ihm umgehen können. Zustimmung, im Prinzip, verdient auch des SPD-Kanzlers oft kritisierte (und oft falsch zitierte) erste Reaktion auf den 11. September, noch am Abend des Schreckenstages: die Erklärung "uneingeschränkter Solidarität" mit einem Amerika, das sich einem mörderischen Überfall aus heiterem Himmel gegenübersah. Uneingeschränkt, nicht bedingungslos, wie man dem Kanzler unterschob. "Bedingungslos" ist im deutschen Diskurs seit 1945, seit dem unconditional surrender gegenüber den Siegermächten, einschlägig besetzt! In einem Land, dem es bislang schwer fällt, Bündnistreue und Gefolgschaftstreue auseinander zu halten, ist der kleine Unterschied groß. Deutsche Politik in Fragen von Krieg und Frieden - da gibt es bisher wenig Erfahrungen mit partnerschaftlichem Umgang, rationalem Diskurs unter Gleichen. Zwischen 1871 und 1949 war Deutschland entweder Siegermacht und diktierte, oder besetzt und kuschte.

Amerika ernst nehmen

Ohne die Vereinigten Staaten hätte es die Neugründung Deutschlands im Westen nicht gegeben. Die Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik lässt sich ohne Amerika ebenso wenig denken wie das außenpolitisch reibungslose Zustandekommen der neuen. Kein Zweifel, wir Deutschen stehen in der Schuld der Amerikaner. Eben deshalb ist ein "in die Souveränität entlassenes" Deutschland es sowohl den Partnern wie sich selbst schuldig, verantwortlich Position zu beziehen. Einwände offen und rechtzeitig vorzubringen, eigene Einsichten und Interessen klar zu artikulieren, gegebenenfalls Abenteuer auch Abenteuer zu nennen, statt alles abzunicken, mitzumachen, auch was man für falsch hält, und sich dann hintenherum durch folgenloses Genörgel oder augenzwinkernde Überheblichkeiten an den Amerikanern schadlos zu halten (so seien sie eben, diese halbzivilisierten Cowboys) - in der Offenheit für Kritik und Selbstkritik äußert sich Bündnistreue unter Partnern, die einander ernst nehmen. Am 5. August, und seither mehrfach bekräftigt,habenGerhardSchröderund Joschka Fischer die "Staatsräson" dieser Republik angemessen praktiziert. Der Vorwurf, die Krieg-Frieden-Frage sei zu ernst, um imWahlkampf thematisiert zu werden, verurteilt sich selbst. Die Wähler haben einen Anspruch darauf, ernst genommen zu werden. Stoibers Reaktion zeigt, dass er die Brisanz des Themas spürt und fürchtet, der Vorstoß des Konkurrenten könne diesem unverhofft Meinungsmehrheiten verschaffen, möglicherweise wahlentscheidende Mehrheiten, die der Kandidat durchaus nicht gegen sich aufbringen möchte. Stoiber hat erkannt, dass Schröders Vorstoß keineswegs "nur" auf linke Ränder, sondern in die Mitte der Gesellschaft hinein zielt und wirkt. Wohin die Vereinigten Staaten unter Bush, Rumsfeld, Wolfowitz etc. steuern - wenn man den Selbstverwirklichungstrip dieser Herren "steuern" nennen kann -, darüber stellen sich Leute, die ihren Kopf gebrauchen, heute in allen politischen Lagern besorgte Fragen, in anderen Ländern der EU genauso wie bei uns, selbst in Tony Blairs Großbritannien. Ebenso wie darüber, wie man vier Jahre Bush überstehen und den schlimmsten Irrtümern einer extremistischen Administration steuern kann, bis die Amerikaner Ge- legenheit haben, eine verantwortlichere Führung zu wählen. George W. Bush ist schließlich nicht Amerika. Manche meinen, es sei UN-feindlich, gar UN-widrig, wenn die Bundesrepublik ankündigt, einen neuen Irakkrieg, auch wenn er sich auf ein Mandat vom East River berufen könnte, nicht mitmachen zu wollen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Vereinten Nationen befinden sich doch in der Irakfrage seit Jahren sozusagen in amerikanischer Geiselhaft (unter britischer Mitwirkung), seit Washington und London in kühner Auslegung von Sicherheitsratsbeschlüssen, die bei Voraussicht solcher Folgen wohl kaum zu Stande gekommen wären, den Golfkrieg bilateral und auf kleiner Flamme in Gang halten, mit "Flugverbotszonen" als Vorwand fortwährender Luftangriffe, Missbrauch der UNSCOM zu Spionagezwecken (so kürzlich auch der langjährige UNSCOM-Chef Rolf Ekéus)2, Torpedierung aller Versuche, das mörderische Sanktionsregime, das die irakische Gesellschaft stranguliert, zu beenden, gleichgültig, ob solche Versuche vom UN-Generalsekretär oder von den anderen Sicherheitsratsmitgliedern ausgehen. Alle Welt wartet doch darauf, dass dieser Teufelskreis endlich durchbrochen wird.

Kein "deutscher Weg"

Allerdings: Wenn die demonstrative Weigerung des Bundeskanzlers, an einem neuen Krieg gegen Bagdad mitzuwirken, tatsächlich mehr sein soll als ein Wahlkampfclou, gibt es auf einem "deutschen Weg" kein Weiterkommen, sondern nur auf dem europäischen. Joschka Fischer hat den Kanzler in diesem Punkt zu Recht korrigiert. Und wer sich dem Wahlvolk durch die Bereit- schaft empfiehlt, öffentlich auszusprechen, was zwischen Athen und Helsinki fast alle Verantwortlichen denken, bewiese Konsequenz, wenn er jetzt auf allen politischen Ebenen, bilateral und multilateral, primär auf der europäischen, zur Kordination der Gegenstimmen und Gegenkräfte gegen eine militärische "Lösung" der Irakfrage beitrüge. Und alle Hebel nutzte, die der deutschen Politik zugänglich sind. Die Teilnahme deutscher Truppen, aber auch die indirekte Beteiligung an einem Krieg durch seine (Mit-)Finanzierung hat der Kanzler bereits ausgeschlossen. Unerwähnt blieb, kaum zufällig, die logistische Rolle der Bundesrepublik und die Präsenz deutscher Spürpanzer in Kuwait. Wird Berlin, um die Hannoveraner Botschaft des Kanzlers zu unterstreichen, letztere abziehen? Wird dieBundesregierungderVorbereitung und Nutzung amerikanischer Militärbasen und Nachschubeinrichtungen in der Bundesrepublik zur KriegführunggegendenIrak entgegenwirken? Kaum, wenn sich nicht aus der Gesellschaft heraus über die spürbare Ablehnung eines weiteren Krieges hinaus politischer Druck entwickelt. Man sollte den Kanzler und seinen Außenminister beim Wort nehmen. Das Signal von Hannover war richtig. Der Mut - in diesem Fall rechtzeitig -, Nein zu sagen, verdient Respekt. Wie weit die Einsicht trägt? Wir werden sehen. Nicht weit genug, soviel steht fest, wenn die angeschnittenen Fragen auf eine einzige reduziert werden, die notorische Frage nach dem richtigen Kreuz am 22. September. Ohne den politischen Willen einer aufgeklärten Öffentlichkeit, mit Amerika wirklich auf partnerschaftlicher Basis zu verkehren, kann keine Bundesregierung "in gleicher Augenhöhe" mit Washington verhandeln. Also auch kaum verhindern, dass die Bundesrepublik als Drehscheibe und Nachschublager militärischer Abenteuer missbraucht werden kann. 1 Nach dem Bericht der "Frankfurter Allgemeinen Zeiutung vom 6.8.2002, S. 1 f. 2 Dass Ekéus, der die Kommission von 1991 bis 1997 leitete, nicht etwa anfällig dafür ist, sich Illusionen über den Charakter des irakischen Regimes zu machen, veranschaulicht Todd Gitlins Porträtskizze "Rolf Ekéus ist besorgt", in: "Blätter", 3/1996, S. 270 f. erschienen in Blätter für deutsche und internationale Politik 09-2002