Schrödern und Stoibern

in (11.09.2002)

Das deutsche TV-Publikum, schon ziemlich enttäuscht von der ersten, hat jetzt die zweite und letzte Runde im virtuellen Kampf um das Kanzleramt vor sich. ...

... Die beiden Kandidaten dürfen noch einmal vorführen, was ihnen ihre Marketingberater eintrainiert haben, und diesmal sollen sie vermutlich mehr "Identity" vorspielen, denn beim ersten Mal ging es maskenhaft zu. Und damit der zuschauerdemokratische Anschein gewahrt ist, dürfen danach Bürgerinnen und Bürger, soweit sie dem demoskopischen Zugriff nicht entkommen konnten, ihre Wertungen eingeben: Welcher der beiden Konkurrenten konnte sich besser in Pose setzen? Um das Spiel ein bißchen spannend zu machen, erheben die Meinungsforscher die Publikumseindrücke zweimal: zunächst direkt nach der Vorführung und dann noch einmal, nachdem die Kommentatoren in den Massenmedien ihr Urteil abgegeben haben.
Daß Gerhard Schröder oder Edmund Stoiber bei der zweiten Fernsehrunde einer staunenden Öffentlichkeit offenbaren werden, vor welchen Richtungsentscheidungen die deutsche Politik steht, ist nicht zu erwarten. Die Inszenierung des Wahlkampfes hat ja gerade den Zweck, eine Debatte darüber zu vermeiden und stattdessen die darstellerischen Fähigkeiten der Rivalen zum Thema zu machen. Von dieser Personalisierung erhoffen sich die Fernsehunternehmen höhere Einschaltquoten, die großen Zeitungen Auflagengewinn, die Demoskopiefirmen ein gutes Geschäft und die politischen Beraterstäbe - im Erfolgsfall - neue Aufträge.
"Welchem Kanzler gibt der Wähler seine Stimme?" - so heißt die aufgeherrschte Frage. Verdrängt wird damit die Absicht des Grundgesetzes, das für den 22. September eine Kanzlerwahl gar nicht vorsieht. Die WählerInnen, so will es unsere Verfassung, sollen an diesem Tag über die Zusammensetzung des Parlaments entscheiden, Vertreter des Volkes berufen, zugleich einer Partei im Wettstreit politischer Alternativen ihre Stimme geben. Davon ist inzwischen bei den CDU/CSU/SPD-Wahlkämpfern gar keine Rede mehr, was den Schluß zuläßt: Es handelt sich bei dem Polittheater, zu dem die WählerInnen als Statisten verpflichtet werden sollen, nicht so sehr um ein Duell zwischen den beiden Kanzleranwärtern, sondern vielmehr um deren gemeinsames Attentat auf eine Verfassungsnorm der Bundesrepublik Deutschland, um eine besondere Art der Großen Koalition.

erschienen in Ossietzky 18-2002