"Wir sind alle MigrantInnen"

Immigration, Multikulturalismus und Post-Politik nach dem "11. September"

in (15.07.2002)

"Warum hat das World Trade Center zwei Türme?" fragte Jean Baudrillard vor ein paar Jahren (1). Die Zwillingstürme des WTC waren perfekte Quader, deren Oberflächen sich gegenseitig spiegelten, ...

... als wollten sie die Bedeutungslosigkeit von Differenz und Gegensatz in der postmodernen Welt zur Schau stellen. Indem es Differenz ausschaltete, welche die Grundlage von Politik ist, wurde das WTC zum Symbol der Post-Politik - eines obszönen politischen Systems, so Baudrillard, in dem "es keine geschichtliche Kontinuität und keine dialektischen Gegensätze mehr gibt", ein "Simulacrum", in dem die Realität verschwindet, wo Handlungen ohne Konsequenzen verschwimmen zu neutralen, bedeutungslosen "Nullsummen-Zeichen" (2). Aber Post-Politik ist keine Ordnung des Friedens. Der Ausschluss des Politischen; die Folgenlosigkeit von Information; die Implosion des Sozialen zur bloßen Simulation: all dies provoziert nackte Gewalt. Terror ist nicht das Produkt antagonistischer Kräfte, die einen wirklichen Gegensatz darstellen würden. Der Terror ist, laut Baudrillard, das Produkt "teilnahmsloser, zielloser Kräfte"; aber er gewinnt an Bedeutung, weil er jenseits der Politik, in der Post-Politik, die einzig vorstellbare Form von Gewalt ist (3). So gesehen ist es nur logisch, dass es der Terrorismus war, der das WTC zerstört hat.
Einerseits. Denn auch für Objekte wie das WTC gilt die Ermahnung der Psychoanalyse, "man lebt nur zweimal" - der physische Tod ist nur der erste; erst der zweite, der "symbolische Tod", entfernt jemand oder etwas vollständig aus der symbolischen Ordnung des Sozialen (4).
Das WTC nach seiner Zerstörung ist ein weit stärkeres Symbol der Macht als je zuvor. Es lebt weiter als ein Geist, ein Zombie, ein Fetisch. Gleichzeitig nimmt der Akt seiner Zerstörung im allgemeinen Bewusstsein Züge religiöser Verklärung an.
Der Diskurs, der nach dem 11. September alle anderen aus dem Feld geschlagen hat, war "Sicherheit". Sicherheitspolitik ist aber auch die dominante Form von Politik überhaupt in der Post-Politik (5). Die Sprache der Sicherheitspolitik ist, wie die des Terrorismus, die der Abschreckung: "Wenn Sie nicht bis zum ..." Sicherheitspolitik definiert, was es heute heißt, ein politisches Subjekt zu sein. Unter ihrem Leitbild wird Politik zum permanenten Ausnahmezustand und Demokratie ihre Geisel. Entsprechend leicht läßt sich die Macht dazu provozieren, selbst in terroristischer Weise zu handeln. Das Politische wird neutralisiert, die zivile Gesellschaft eingeschüchtert und attackiert (6). Die Kategorien von Sicherheit und Furcht sind auch mit einer bestimmten Lebensweise verbunden. Die Post-Politik wird durch die Anschläge vom 11. September also nicht geschwächt, ganz im Gegenteil: sie wird von Terrorismus und Sicherheitspolitik gleichermaßen inszeniert und verstärkt.

Die Regime der Rechtfertigung

Was bedeutet dieser Prozess, was bedeutet das "untote WTC" für den Bereich der Einwanderung? Was wird aus dem "Multikulturalismus" nach dem 11. September?
Ich möchte mich dafür auf das Konzept der "Rechtfertigungs-Regime" beziehen, das Boltanski und Thévenot entwickelt haben (7). Nach Boltanski und Thévenot gibt es unterschiedliche Rechtfertigungs-Regime, die nebeneinander bestehen und in der öffentlichen Debatte mobilisiert werden können. Macht bedarf der Rechtfertigung, und diese Rechtfertigung kann durch Kritik bestritten werden. Auch diese Kritik bezieht sich dabei jedoch auf ein bestimmtes Begründungssystem, auf ein Rechtfertigungs-Regime, so wie die Macht auch (8).
Rechtfertigungs-Regime sind nicht normativ in dem Sinne, wie etwa bei Habermas die Ergebnisse der kommunikativen Vernunft es sind. Sie etablieren unterschiedliche Register von Bewertungen, sie bringen in die öffentliche Debatte ihre Sichtweise dessen ein, was sie großartig und was sie scheußlich finden. Sie betreiben Marketing für ihren Bewertungs-Kanon. Die unterschiedlichen Rechtfertigungs-Systeme können einander nicht "überzeugen" oder einen gemeinsamen Konsens finden; Konsens kann es nur innerhalb eines Rechtfertigungs-Regimes geben, zwischen den Regimen gibt es immer nur Kompromisse.
Boltanski und Thévenot unterscheiden sechs verschiedene Rechtfertigungs-Regime: das industrielle Regime, das Regime des Marktes, das Regime der Zivilgesellschaft, das Regime der öffentlichen Meinung, das Regime der Inspiration und das Heimat-Regime (9). Dies ähnelt auf den ersten Blick den Vorstellungen einer "ausdifferenzierten" Moderne wie bei Bourdieu oder Luhmann. Aber für Boltanski und Thévenot gründen sich die Regime "nicht auf unterschiedliche Gruppen, sondern auf unterschiedliche Situationen" (10). Ihr Hauptinteresse gilt auch nicht dem, was sich innerhalb der verschiedenen Regime abspielt, sondern was passiert, wenn sie aufeinander treffen: ihre Konflikte und ihre Kompromiss-Bildungen, die sie miteinander eingehen.

Be inspired!

Für das Regime der Inspiration sind positive Werte: Inspiration, Einzigartigkeit, Originalität, Kreativität, Bewegung. Es geht darum, sich aus eingefahrenen Gewohnheiten und Haltungen zu befreien, den eigenen Horizont zu überschreiten. Mobilität gilt, ähnlich wie in der ästhetischen Moderne, als Instrument der Kritik an statischen Zuständen. Begriffe wie Nomadentum, Rhizom, Exil, Hybridität, Reise, Taktik, Dekonstruktion, Begehren usw. werden mit Widerstandsformen in Verbindung gebracht, oder mit Versuchen sich der Macht zu entziehen. In diesem Sinne schrieben Deleuze und Guattari: "Macht Rhizome, keine Wurzeln, pflanzt nichts an! Bleibt in Bewegung! Haltet euch an das Kurzfristige!" Innerhalb dieses Regimes von Rechtfertigung verbürgt Migration Emanzipation, Befreiung von den Wurzeln.
Dem industriellen Regime, mit seinen technologischen Gegenständen und wissenschaftlichen Methoden, gelten dagegen Effizienz und Produktivität als das Erstrebenswerte; sie garantieren das Funktionieren von sozialen Prozessen und die technische Befriedigung von Bedürfnissen. Es ist die Welt des industriellen Kapitalismus, wo professionalisiertes Wissen bewundert wird und "unproduktive" Menschen verachtet werden. Fortschritt, Planung und Organisation stehen ganz oben auf der Werte-Skala. Aus der Sicht dieses Regimes waren MigrantInnen früher einmal nützlich, sie leisteten einen wertvollen Beitrag; mit den Prozessen der De-Industrialisierung sind sie jedoch zu einer Last geworden, zum Inbegriff der Ineffektivität, schlechter Performance, unzureichender Funktionalität. Innerhalb des industriellen Regimes hängen Rechtfertigung wie Kritik demselben Ideal eines utopischen sozialen Ingenieurwesens an: die Teile müssen verbunden werden, "Integration" ist der Wert schlechthin. Man streitet über die geeigneten Sozialtechnologien dafür; das Ziel selbst ist jedoch jeder Kritik enthoben, und die unmittelbaren problematischen Folgen der "Integrationspolitik", einmal als Nebenwirkungen definiert, zählen ebenso wenig.
Im Regime des Marktes gilt die Verehrung dem Wettstreit, dem Reichtum und der Risiko-Bereitschaft. Kurzfristige Projekte gelten mehr als langfristige. Wer "klein" ist, ist ein Verlierer, seine Produkte verkaufen sich offensichtlich nicht gut. Aus der Sicht dieses Regimes sind MigrantInnen nur dann von Interesse, wenn sie UnternehmerInnen sind. Sie werden gefeiert; alle anderen, auch wenn sie erwerbstätig sind, gelten als unprodukive Kostgänger mit "deformiertem Konsumverhalten" (11).

Sehnsucht nach dem Territorium

Das Regime der öffentlichen Meinung feiert dagegen das Gesehen-Werden von anderen. In der Öffentlichkeit stehen, Publicity haben, Einfluss, Attraktivät, Verführung sind die herausgehobenen Werte. Was es um jeden Preis zu vermeiden gilt, ist vergessen zu werden, oder nur als blasser Schemen wahrgenommen zu werden. Die öffentliche Meinung hinter sich zu haben, ist großartig.
Dieses Rechtfertigungs-Regime ist von außerordentlicher Bedeutung für populistische Positionen in der Migrations-Debatte. Man fragt nicht danach, was richtig ist, sondern was die öffentliche Meinung oder "die Bevölkerung" dazu sagt. In den meisten Fällen führt der Rückgriff auf "die Menschen im Lande" zur Rechtfertigung repressiver oder auch rassistischer Positionen und Praktiken. Entsprechend gilt man dann als "Experte", wenn man das sagt, was alle bereits zu "wissen" glauben.
Innerhalb des Heimat-Regimes zählt an erster Stelle das Vertrauen zwischen den Mitgliedern eines Kollektivs, einer Tradition, einer Community oder einer Hierarchie. Respekt vor Tradition und Überlieferung ist gut; Individualismus ist schlecht. Infolgedessen bedeutet das Eindringen eines "Fremden" in eine derartige Welt immer eine Bedrohung; kultureller Kontakt mit MigrantInnen macht unglücklich. Fremdheit ist gleichbedeutend mit Infektion und mit unerwünschter globaler Abhängigkeit. Ähnlich wie im Kommunitarismus geht es darum, ein Territorium zu verteidigen, ein Erbe, eine Nation, eine Tradition, gegen die Bedrohung von außen, gegen die entgrenzte, entfesselte Flut des globalen Kapitals und der globalen Migration. In den heutigen Gebietskriegen, die sich weltweit abspielen, wird "Territorialisierung" (nicht nur im räumlichen, auch im sozialen und kulturellen Sinn) zur magischen Antwort auf alle Unsicherheiten, die erhöhte Mobilität mit sich bringt. Die "Heimat" wird zum Bunker gegen die Schrecken der räumlichen Entgrenzung.
Für das Regime der Zivilgesellschaft dagegen gelten Allgemeinwille und Gleichheit als das Erstrebenswerte. Im Mittelpunkt stehen nicht Individuen, sondern Kollektive und repräsentative Strukturen. Unterordnung unter den Willen der Allgemeinheit, auch in Form von Wahl und Delegation, ist gut; Fraktionierung, Korporatismus und Individualismus sind schlecht. In Bezug auf Migration betont das Regime der Zivilgesellschaft die Bedeutung allgemeiner Grundlagen, einer gemeinsamen Plattform für die Koexistenz von Differenzen. Diese Plattform kann jedoch keine kulturelle sein. Kulturalismus und Kommunitarismus gelten als gefährlich, weil sie kulturelle Differenz als unterschiedliche Kulturen mißverstehen. Kulturelle Werte allein können niemals die "allgemeine Grundlage" herstellen; es bedarf des Politischen. Deshalb seien MigrantInnen nicht zuallererst als Repräsentanten unterschiedlicher Kulturen anzusehen, sondern als politische Wesen. An der Migrations-Debatte wird als bedrohlich wahrgenommen, dass sie die Kategorie des Politischen selbst bedroht und auflöst - etwa in Form des vorherrschenden Multikulturalismus, der Großbritannien als "eine Community aus Communities" begreift.

Neo-Rassismus als Kompromiss-Bildung

Die unterschiedlichen Rechtfertigungs-Regime stehen notwendiger Weise in Konflikt miteinander. Aus der Sicht des Regimes der Inspiration etwa sind alle anderen Rechtfertigungs-Regime mit dem Makel behaftet, Stabilität als positiv zu bewerten. Am stärksten gilt das für das Heimat-Regime, für das jede Art von Wurzeln gut ist und jede Art von Mobilität schlecht. Aus der Sicht des Heimat-Regimes dagegen entbehrt das Regime der Inspiration jedes Sinns für Ordnung, jedes Respekts für Hierarchien und Gewohnheiten.
Es finden jedoch auch Kompromiss-Bildungen statt. Der auffälligste Mehr-Regime-Kompromiss im Bereich der Migrations-Debatte ist der zwischen dem industriellen Regime, dem Heimat-Regime und dem Regime der öffentlichen Meinung. Die überwiegende "öffentliche Meinung" in Europa ist kommunitaristisch: sie unterteilt das Soziale in "wir" und "die", und sie erwartet, dass die "Anderen" in effektiver Weise "integriert" werden, und zwar in eine Gesellschaft, die (noch) als eine industrielle Gemeinschaft gedacht wird.
Auch die postmodernen Formen von Rassismus im heutigen Europa lassen sich als Mehr-Regime-Kompromiss verstehen, und zwar zwischen dem Regime der Inspiration und dem Heimat-Regime. Obwohl dieser Rassismus nämlich der eigenen, nicht-antagonistischen, nicht-wandelbaren Gemeinschaft das Wort führt, ist seine Struktur höchst mobil und innovativ. Er ist so mobil, man möchte fast sagen "wurzellos", dass er problemlos von neo-rassistischen Parteien in andere Kontexte fließen kann, einschließlich der großen sozialdemokratischen und konservativen Parteien, der Medien, der Universitäten usw. Man weiß nie, wo Rassismus als nächstes auftaucht; er ist in ständiger Bewegung und mutiert andauernd. Ähnlich wie das, was Deleuze und Guattari "Mikro-Faschismus" nennen, entwickelt er sich in Sprüngen und Brüchen, wie ein Rhizom (12). Die Heimat, die es zu verteidigen gelte und auf die man stolz ist, wird nicht weiter beschrieben; sie bleibt merkwürdig gesichts- und eigenschaftslos. Darin liegt die wirkliche Stärke des heutigen Rassismus: nicht in der imaginären, urtümlichen nationalen Identität, von der er redet, sondern in seiner Beweglichkeit, seinem virus-artigen Charakter - seiner Inspiration.

Das Projekt-Regime

Kompromiss-Bildungen zwischen mehreren Regimes können jedoch auch so stark sein, dass sie einen ganz neuen, eigenen Typ von Rechtfertigungs-Regime begründen; und das ist es, was Boltanski und Chiapello in "The New Spirit of Capitalism" behaupten (13): Dass wir heute Zeuge der Entstehung eines neuen Rechtfertigungs-Systems sind, das sie als das "Projekt-Regime" bezeichnen.
Es entsteht aus einem Kompromiss zwischen den Regimes der Inspiration, der Industrie und des Marktes, geht jedoch an zentralen Punkten über diese hinaus:
- Kreativität und Innovation werden, anders als im Regime der Inspiration, vor allem mit Flexibilität und Anpassung gleichgesetzt. Sie entstehen vor allem durch neue Verbindungen des Vorhandenen, und zwar nicht durch individuelle Würfe, sondern durch "Teilhabe".
- Während Handlungen im Regime des Marktes punktuell und situativ sind, geht es im Projekt-Regime um Netzwerke. Sie entstehen weniger durch Austausch als durch "Zugang", sie binden die Teilnehmer in längerfristige Strukturen ein, und anders als der Markt basieren sie nicht auf Transparenz und allseitig zugänglicher Information.
- Im industriellen Regime wird man darüber zur Person, dass man anerkannte, bürokratisch definierte Funktionen und Identitäten ausübt. In der Welt des Projekt-Regimes dagegen treten die Menschen beständig in neue Verbindungen, die Personalität ist stetig im Wandel.
Das Projekt-Regime ist dasjenige Rechtfertigungs-Regime, das dem heutigen, "flüssigen Kapitalismus" entspricht. Aus der postmodernen Kritik ist eine post-fordistische Normativität geworden, in der nicht linke Radikale, sondern das Management das Sagen hat, das von allen umfassende Flexibilität verlangt und für das Differenz eine kommerzieller Wert ist.
Die Geographie des "flüssigen Kapitalismus" ist nicht die von Territorien, sondern von Strömungen. Macht ist nicht statisch, sondern besteht gerade in Beweglichkeit: Die Schnellen fressen die Langsamen (14). Es ist ein nomadischer Kapitalismus, der sich nicht sozial, sondern ästhetisch rechtfertigt: "Be inspired", wie es in den Anzeigen von Siemens heißt. "Zentralität ist heute definitiv uncool. Das Zentrum ist marginalisiert, und Marginalität ist hip."(15) Der heutige Kapitalismus propagiert bewegliche Formen von Institutionen wie von Konzernen, anpassungsfähig und mobil. Das Nomadische hat deshalb nichts Subversives mehr, sondern ist die autoritäre Norm: Wer sich nicht bewegen kann oder will, verliert.
Innerhalb des Projekt-Regimes sind Netzwerke, Verbindungen, Konnektivität ein Wert an sich. Aktivität zählt, unabhängig von Inhalt und Ziel, auch unabhängig vom präzise messbaren Beitrag zur Produktivität. Man muss immer unterwegs sein zum nächsten Projekt; man entwickelt sich selbst weiter und erhält sich dadurch als Person auf dem Arbeitsmarkt.
Die vielleicht wichtigste Konsequenz ist die, dass Politik und Gesellschaft verschwinden. Die Macht des Netzwerks liegt in der Fähigkeit, zu entkommen. In der "flüssigen Moderne" liegt die Macht bei denen, die mit leichtem Gepäck reisen können. Reflexion und Auseinandersetzung, Verhandlung und Dialog, die Grundelemente von Politik mithin, sind nur Störfaktoren für das Ideal der Geschwindigkeit, des speeds. Geschwindigkeit liegt jenseits von Politik, ist Post-Politik, wie Paul Virilio sagt. Während die Macht im "flow" ist, ist Politik eine Sache der "hoffnungslos Lokalen".
Wie Zizek am Beispiel von Big Brother erklärt, ist 1984 heute kein Schreckgespenst mehr, sondern eine hoffnungslose Sehnsucht: man hat gerade davor Angst, nicht mehr die ganze Zeit beobachtet zu werden, was gleichbedeutend damit ist, als Person zu verschwinden. Während die traditionellen Voraussetzungen von Gesellschaft verschwinden, wie etwa Territorien und zeitliche Dauer, existiert Gesellschaft heute als Phantasie, als Wunschtraum. Und wieder zeigt sich die widersprüchliche Flexibilität des Neo-Rassismus: Einerseits mobilisiert er diese Sehnsucht, als Phantasie von einer stabilen, vertrauten Gesellschaft, die jedoch bedroht werde durch die Mobilität (der MigrantInnen). Andererseits bildet der flexible Kapitalismus einen Mobilitäts-Rassismus aus, der Verachtung mobilisiert für diejenigen, die sich (angeblich oder tatsächlich) nicht ändern, nicht "bewegen" - egal ob sie sich nicht bewegen wollen oder nicht bewegen können: MigrantInnen, die an ihrer kulturellen Differenz festhalten; Menschen in der Dritten Welt, die sich halsstarrig der Integration in die neue Flexibilität verweigern; und genauso die Immobilen und Unflexiblen in der eigenen Gesellschaft.

Was tun gegen die Post-Politik?

Die entscheidende Frage ist die, ob es möglich ist, "Politik wiederzuerfinden". Ist Politik noch möglich im Netzwerk-Zeitalter? Soll Kritik als "soziale Kritik" wiederbelebt werden (Boltanski), als Forderung nach der "Entschleunigung" der Nomaden (Baumann), oder als Bejahung von noch mehr Beschleunigung (Deleuze)?
Festzuhalten bleibt, dass Postmodernismus und Postkolonialismus angesichts des Projekt-Regimes und des "flüssigen Kapitalismus" ihre kritische Funktion verlieren. Multikulturalismus ist die dominante Form der Migrationspolitik und der Neuen Weltordnung geworden, ein Paradebeispiel für Post-Politik. Post-Politik unterdrückt nicht bestimmte Formen von Politik; sie schließt sie von vorneherein aus, bevor sie entstehen. In der Praxis betreibt Post-Politik vorbeugendes Risiko-Management; ihre ExpertInnen und globalen SozialarbeiterInnen sollen dafür sorgen, dass "nicht wirklich etwas passiert". Auf der ideologischen Ebene reduziert Post-Politik "das allgemeine Anliegen, das von einer bestimmten Gruppe erhoben wird, zu einem Problem dieser Gruppe"; politische Kritik wird so zur Forderung nach angemessener, vorbeugender Sozialarbeit umgebogen.(16) Der 11. September ist ein Unfall in dieser Politik; aber die dominanten politischen Reaktionen laufen auf die Forderung nach mehr Post-Politik hinaus, nicht nach weniger - bis hin zu der Feststellung, "die Armut in diesen Ländern" sei ein Problem, dem der globale Kapitalismus sich verstärkt widmen müsse.
Wenn Multikulturalismus tatsächlich "die kulturelle Logik des Spätkapitalismus" schlechthin ist, dann kann dieser mit den typischen Elementen der postmodernen und postkolonialen Kritik nicht getroffen werden. Die Netzwerk-Gesellschaft ist nicht mehr bestimmt von den panoptischen Herrschaftsformen, die Menschen zur Übernahme bestimmter Subjektpositionen zwingen; sie ist bestimmt von der stetigen Bewegung, wo das Subjekt sich zeitlebens nur noch im Werden befindet. Hybridität, Entgrenzung, Mobilität haben keinen revolutionären Beigeschmack mehr, sie sind längst Teil der normativen Anforderung in der Netzwerk-Gesellschaft. Deshalb legen auch Hardt und Negri Wert darauf, die entscheidende Frage sei nicht die Mobilität als Tatsache, sondern das Recht der globalen "Multitude" zu entscheiden "ob, wann und wohin sie sich bewegt".(17)
Der einzig vorstellbare politische Akt, das ultimative politische "Ereignis" in diesem Kontext ist eine neue Form von Universalität - eine, die sich dagegen wendet, dass tatsächlich allen von dieser normativen Struktur das Recht zur Politik abgesprochen wird; dagegen, dass wir alle als Personen behandelt werden die keine politischen Subjekte sind und mit denen man nicht verhandelt. Es ist eine Universalität "ex negativo", deren verbindendes Element darauf beruht, dass man im dominanten System der Post-Politik "nicht vorgesehen" ist. In diesem Sinne "sind wir alle MigrantInnen".

(1) Jean Baudrillard: Selected Writings, London 1988, S.143.
(2) Jean Baudrillard: Simulacra and Simulation, Ann Arbor 1994, S.16 u. 32.
(3) Jean Baudrillard: The Transparency of Evil, London 1993, S.76.
(4) Slavoj Zizek: The Sublime Object of Ideology, London 1989, S.132.
(5) Slavoj Zizek: The Ticklish Subject, London 1999, S.198.
(6) G. Agamben: Heimliche Komplizen. Über Sicherheit und Terror, FAZ 20.9.2001, S.45.
(7) L. Boltanski und L. Thévenot: De la Justification. Les Économies de la Grandeur, Paris 1991; dies.: The Sociology of Critical Capacity, European Journal of Social Theory, 3/2000, S.359-377; dies.: Distant Suffering. Morality, Media and Politics, London 1999.
(8) "Regimes of justification" ließe sich auch als Rechtfertigungs-Systeme übersetzen. Boltanski und Thévenot haben aber keine individuellen oder politischen "Wertsysteme" im Sinn, sondern eher konkurrierende Reiche von Bewertung und Begründung, die in unterschiedlichen sozialen Praktiken und Bereichen ihre Heimat haben und um die Ausweitung auf die gesamte Gesellschaft streiten. Postmodern gedacht, sind es auch keine Ideologien, die sich an einer feststellbaren Realität messen ließen, sondern unterschiedliche soziale Logiken, die sich nicht zur Deckung bringen lassen und deren Differenz nicht durch Argumentation verschwindet.
(9) industry, market, civility, opinion, inspiration, domesticity.
(10) B & T 2000, S.365.
(11) Z. Baumann: Work, Consumerism and the New Poor, Buckingham 1998, S.38.
(12) G. Deleuze und F. Guattari: A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia II, Minneapolis 1987.
(13) Boltanski und Chiapello: The New Spirit of Capitalism, 1999.
(14) Z. Baumann: Liquid Modernity, London 2000, S.188
(15) T. Eagleton: The centre cannot hold, The Guardian, 23.Juni 2001.
(16) S. Zizek: The Ticklish Subject, London 1999, S.198.
(17) M. Hardt und A. Negri: Empire, Cambridge 2000.
Bülent Diken lehrt soziale Theorie und städtische Soziologie an der Universität Lancester; er verfasste u.a. "Strangers, Ambivalence and Social Theory", 1998. Der Beitrag "Immigration, Multiculturalism and Post Politics after 'Nine Eleven'" erschien in Third Text, Nr. 57, Winter 2001-2002. Bearbeitung und Übersetzung: CS.