Thesen zur Erneuerung sozialistischer Theorie

Ohne sozialistische Theorie keine sozialistische Praxis

Sozialistische Politik (und Wirtschaft erst recht nicht!) ist ohne sozialistische Theorie nicht einmal denkbar, geschweige denn machbar.

Die letzten Ausgaben der SPW zeigen einerseits ein zunehmendes Bewusstsein für die Notwendigkeit theoretischer Reflexionen und einige Angebote ("Kollege Proteus"), andererseits aber auch die selbstkritische Einsicht in folgenreiche Defizite auf diesem Gebiet. Der "Verfall der konzeptionellen Arbeit", den Horst Arenz in SPW 4/01 beklagt, ist weitgehend bedingt durch die Defizite linker und sozialistischer Theorie. Daher ist die Forderung uneingeschränkt zu unterstützen, "im Jahre 2001 wieder einen neuen sozialistischen Diskurs" zu begründen. Es wäre allerdings noch kein "neuer sozialistischer Diskurs" oder gar eine Renaissance sozialistischer Theorie, wenn künftig die Zahl der in der SPW veröffentlichten Theorie-Beiträge um 50 bis 500% gesteigert würde. Denn eine praxisrelevante theoretische Erneuerung kann sich nicht aus der individualistischen Publikation isolierter Beiträge ergeben, sondern nur aus einem intensiven, zielgerichteten und auch kontroversen Diskussionsprozess. Damit dieser einen gemeinsamen Lernprozess und Erkenntnisfortschritt anzuleiten vermag, darf er nicht für personalpolitische Fraktionskämpfe instrumentalisiert werden. Ein praxisrelevanter theoretischer Minimalkonsens kann nur entstehen, wenn zunächst die Divergenzen offen benannt werden, die erst im Verlauf der Kontroversen zu einer Konvergenz führen. In diesem Sinne sind die "Thesen zur Jahrestagung am 03. 11. 2001: Flexibler Kapitalismus - Moderner Sozialismus" nicht als Ergebnisse, sondern als Anstöße für praxisorientierte Sozialismusdebatten zu verstehen, "die seit bald zehn Jahren ... nahezu zum Erliegen gekommen (sind)". (Manuskript, S. 2) Neben zahlreichen konsensfähigen und diskussionswürdigen Aussagen enthalten diese Thesen aber einen in die Irre führenden Grundirrtum, nämlich die objektivistisch-deterministische Illusion: "Jede historische Zeit bringt ihre Sozialismen hervor und dies wird auch für das 21. Jahrhundert gelten." (Ebd., S.4) Noch nie hat eine "historische Zeit" irgendeinen Sozialismus, weder als Idee noch als soziale Wirklichkeit, "hervorgebracht". Allerdings haben kritische linke Intellektuelle im 19. Jahrhundert, in der geistigen Tradition des Humanismus und der Aufklärung, in einem kreativen Diskurs Ideen für eine gerechte Gesellschaft des Sozialismus "hervorgebracht". Und am Ende des 20. Jahrhunderts hat die Mehrheit der linken Intellektuellen diese Ideen lautstark oder klammheimlich verworfen. Als sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der sozialistische Diskurs der Intellektuellen mit der sich organisierenden Arbeiterbewegung verband, wurde diese geistige Bewegung in Westeuropa zu einem praktisch-politischen Machtfaktor, der den westeuropäischen Sozialstaat "hervorbrachte". Sein Abbau durch die neoliberale "Reformpolitik" ist nur aufzuhalten, wenn der Sozialismus durch einen "neuen sozialistischen Diskurs" wieder zu einem geistigen und politischen Machtfaktor in unserer Gesellschaft wird. Um Anstöße für einen praxisorientierten neuen sozialistischen Diskurs zu geben, möchte ich kritische Anmerkungen zu einigen Theorie-Beiträgen in der SPW zur Diskussion stellen.

Zur Kritik am "Kollegen Proteus"

Im Beitrag von Lars Neumann und Thomas Westphal in SPW 4/01 ist eine Ausgangsthese durchaus zutreffend: Die orthodox-marxistische Klassentheorie - und damit auch das dazu gehörende Menschenbild - ist falsch. Die darin enthaltenen kollektivistischen Elemente machen diesen Ansatz ungeeignet, um angesichts zunehmender Individualisierung für einen modernen Sozialismus zu werben. Ist aber der Ausweg in einem "sozialistischen Individualismus" zu finden? Kann ein "moderner Sozialismus" mehrheitsfähig und damit durchsetzungsfähig werden, wenn es gelingt, anknüpfend an Althusser, Lacan und Ernesto Laclau, ein neues "ideologisches Anrufungssystem" zu entwickeln, mit dem der "proteische Mensch" überzeugt werden kann?! Die Feststellung, dass der proteische Diskurs bisher über "keine spezifische Anrufungsstruktur" verfügt (S. 24), ist nur in dem Sinne zutreffend, dass mit seiner Hilfe keine Überzeugungsarbeit für einen "modernen Sozislismus" zu leisten ist. Denn es gibt durchaus ein "ideologisches Anrufungssystem", mit dem der proteische Mensch erfolgreich angesprochen und überzeugt wird, nämlich das z. Zt. einzige real existiertende "ideologische Anrufungssystem": der Neoliberalismus. Wie ist diese These zu begründen? Zutreffend ist es, dass im postmodernen Diskurs die "proteische Persönlichkeit" (auch ohne diesen Begriff) eine zentrale Rolle spielt. Sie "wird im Widerspruch zu den Werten, Symbolen und dem Bewusstsein der alten Welt, bzw. der Moderne konstruiert". Sie ist "das Gegenstück" zur "linearen Persönlichkeit aus dem Industriezeitalter". "Der Diskurs der proteischen Persönlichkeit ist der Versuch der Durchsetzung neuer Werte, die in den letzten Jahren in den USA und in Westeuropa entstanden sind, gegen den traditionellen Wertekanon, der insgesamt mit der Moderne bzw. dem Industriezeitalter seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert existiert. " (S. 24) Der im proteischen Diskurs bekämpfte "traditionelle Wertekanon" ist das Paradigma der Aufklärung, der kritischen und emanzipatorischen Vernunft, des Sozialismus, des Anspruchs, Geschichte nicht nur passiv als Naturprozess - oder Willen Gottes - passiv zu erdulden, sondern aktiv zu gestalten. Dazu bedarf es "linearer Persönlichkeiten". Denn "linear" heisst hier, geschichtsbewusst denken und leben, Vergangenheit und Zukunft als offenen Entwicklungsprozess anzusehen, der zu beeinflussen war, ist und sein wird. Warum sind "die traditionellen Institutionen: Kirche, Parteien, Verbände, Gewerkschaften, Industriefabriken" die ideologische Gegenmacht zum proteischen Diskurs? Was bedeutet es, dass die "Anrufungsstruktur" dieses Diskurses "dem popular-demokratischen Widerspruch zwischen Volk und Machtblock" entspricht? "Wobei das Volk die einzelnen Persönlichkeiten die sich nach dem proteischen Bewusstsein entfalten wollen symbolisiert, und der Machtblock durch die traditionellen Institutionen, die die Menschen an ihrer Entfaltung hindern, symbolisiert wird." (S.24) Dieses neoliberale Plädoyer für Deregulierung könnte Westerwelle kaum überzeugender formulieren. Und wenn "Industriefabriken" und Gewerkschaften gleichermaßen zum Hauptfeind des proteischen Menschen werden, dann nur deshalb, weil in den "Industriefabriken" die Gewerkschaften noch zu viel Einfluss haben und den proteischen Menschen an seiner Entfaltung hindern. Die Beschreibung des proteischen Menschen durch Jeremy Rifkin legt nahe, dass es sich dabei um eine Neuschöpfung der Postmoderne handelt: "Das relativ kohärente und vereinheitlichte Gefühl des Selbst, das einer traditionellen Kultur innewohnt, wird von vielfältigen und miteinander konkurrierenden Potenzialen abgelöst. Es entsteht ein Zustand, in dem man in sich ständig ändernden, verkettenden und widerstreitenden Strömungen des Lebens schwimmt." (S. 23) Diese Charakterisierung rechtfertigt es durchaus, dass man diesen "neuen Menschen" nach dem uralten Meeresgreis Proteus in der griechischen Sage benennt, der beliebig in vielerlei Gestalt auftreten kann und ein unstetes, unzuverlässiges und wandelbares Wesen ohne klare Identität verkörpert. Und so uralt wie der greise Namensgeber ist auch dieser "Neue Mensch", bekannt unter unterschiedlichsten Bezeichnungen, wie "Mann ohne Eigenschaften" (Robert Musil), "außengeleiteter Mensch" (Von David Riesman vom "innengeleiteten" und vom "autonomen Menschen" unterschieden), der entfremdete Mensch oder schlicht der Opportunist bzw. Wendehals. Neu ist es allerdings, dass ein in der "traditionellen Kultur" immer kritisch beurteilter Typus im Begriff des "proteischen Menschen" zum erstrebenswerten Vorbild verklärt wird. Was allerdings verständlich ist, weil der Casino-Kapitalismus "proteische Menschen" braucht und produziert. Das mag nicht die bewusste Absicht von Rifkin sein. Aber in seinem neuen Buch Acces hat er die Konsequenzen aus einer kritischen Aussage von Lester Thurow (The Future of Capitalism) gezogen: "Amerikas Kapitalisten haben ihren Arbeitern den Klassenkrieg erklärt - und sie haben ihn gewonnen." Mit dieser "Tatsache" hat sich Rifkin abgefunden. Er philosophiert darüber, wie sich der Mensch am besten im Kapitalismus ohne Alternative einrichten und dem Anpassungszwang etwas Positives abgewinnen kann, nämlich, indem er seine Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit "nutzt". Der moderne Kapitalismus ohne Alternative braucht den "proteischen Menschen", der sich jederzeit den objektiven ökonomischen Anforderungen unterwirft. Der moderne Sozialismus als Alternative dagegen braucht einen anderen Menschen: "Kurzum: Auch und gerade die Linke braucht den allseits gebildeten, verantwortlichen und autonomen, handlungsfähigen Menschen, der gesellschaftsbezogen in einer sich individualisierenden Welt politisch sich engagiert, wenn das Leitbild einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, die die gemeinsame Sache selbst regeln, auf der Agenda stehen soll." (Horst Peter in SPW 4/01, S. 2) Zur unwandelbaren Identität dieses autonomen Menschen gehört durchaus die Fähigkeit, flexibel, reflektiert und kreativ auf den Wandel der Gesellschaft zu reagieren, allerdings ohne Aufgabe des Anspruchs, als autonomes Subjekt diesen Wandel wertorientiert und aktiv handelnd mitzugestalten. Im Konzept des "proteischen Menschen" dagegen ist der siegreiche Kapitalismus das handelnde Subjekt, dessen wandelnden Anforderungen sich der Mensch als ohnmächtiges Objekt anzupassen hat. Das Ergebnis ist nicht sozialistischer Individulalismus, sondern kapitalistischer Kollektivismus.

Ohne sozialistische Tradition kein moderner Sozialismus

Jener kapitalistische Kollektivismus kann durchaus das "Ende der Geschichte" besiegeln, wenn es nicht gelingt, "im Jahre 2001 wieder einen neuen sozialistischen Diskurs (zu begründen)". Und dieser Diskurs kann nur erfolgreich werden, wenn er die "alte Diskurswelt der Periode von 1917 bis 1989" und die Tradion der Aufklärung und des Sozialismus einbezieht. Dagegen ist die Forderung nach einem neuen Diskurs, der "aus der alten Diskurswelt der Periode von 1917 bis 1989 heraustritt", im Jahre 2001 gegenstandslos, da diese Forderung seit über einem Jahrzehnt uneingeschränkt verwirklicht ist. In den seitdem vorherrschenden intellektuellen Diskursen hat sich die neoliberale Deutung durchgesetzt, dass es zwischen 1917 und 1989 neben den fruchtbaren "bürgerlichen Diskursen" nur noch die furchtbare totalitäre stalinistische Ideologie gab, der die gesamte Linke verfallen war. Erfolgreich verdrängt wurde die historische Wahrheit, dass es vor 1989 auch den bis in die 70er Jahre sogar hegemonialen Diskurs des Demokratischen Sozialismus gab. Verständlich ist der Wunsch der neoliberalen Ideologen, diesen Abschnitt im historischen Gedächtnis zu löschen. Denn der demokratisch-sozialistische Diskurs hatte die Welt mehr verändert als alle anderen Interpretationen der Welt durch die Philosophen. In jener Zeit, vor allem nach 1945, wurde im Zeichen sozialdemokratischer intellektueller Hegemonie in Westeuropa der Sozialstaat, auch "rheinischer Kapitalismus" genannt, auf- und ausgebaut, den die Neoliberalen durch den neoamerikanischen Kapitalismus ersetzen wollen. In dem 1992 erschienenen Buch "Kapitalismus contra Kapitalismus" stellte Michel Albert verwundert fest, dass das neoamerikanische Modell überall den "rheinischen Kapitalismus" zurückdränge, obwohl letzterer nicht nur im sozialen, sondern auch im ökonomischen Bereich erfolgreicher und effizienter war. Eine Ursache für die Überlegenheit des ineffizienteren über das effizientere Modell sieht er darin, dass "die grundsätzlichen Gedanken und Werte, die ihm (dem rheinischen Kapitalismus) vorangehen, weitgehend ignoriert oder bestritten werden". (S.179) Doch warum werden die dem Sozialstaat zugrunde liegenden "grundsätzlichen Gedanken und Werte" ignoriert? Die Autoren des "Kollegen Proteus" sehen nach dem Basis-Überbau-Schema die Ursache dafür in der veränderten ökonomischen Basis: "Durch die drastischen Veränderungen in den Produktionsverhältnissen des flexiblen Kapitalismus werden in der Tat alle früheren Werte und Traditionen verdampfen." Doch in Wirklichkeit wurden "alle früheren Werte und Traditionen" der demokratisch-sozialistischen Arbeiterbewegung nicht vom flexiblen Kapitalismus "verdampft", sondern von den sozialistischen Intellektuellen. Sie haben ohne intellektuelle Gegenwehr die neoliberale Interpretation hingenommen: Das Ende des Sowjetkommunismus hat das Scheitern des Sozialismus jedweder Art und den Endsieg des Kapitalismus über alle ideologisch denkbaren Alternativen bewiesen. Im Schutz der erfolgreich verbreiteten Lüge, 1989 sei das Ende aller Ideologien und Utopien gekommen, haben die neoliberalen Machteliten in Wissenschaft, Publizistik und Politik das mächtigste Ideologie-Gebäude der Neuzeit errichtet. Die Ideologie der "Individualisierung" verschleiert dabei die kollektivistische Gleichschaltung des Denkens zum "Einheitsdenken" (Pensée unique). Der proteische Mensch ist nicht gekennzeichnet durch eine stärkere Individualität und autonome Persönlichkeit, er muss sich vielmehr funktional den sich ständig wandelnden Anforderungen der Ökonomie anpassen. Während im Marxismus-Leninismus zur Entmündigung der autonomen Persönlichkeit noch "außerökonomischer Zwang" notwendig war, ist physischer Zwang jetzt überflüssig. Denn noch wirksamer für die kollektivistische Gleichschaltung ist "der schweigende Totalitarismus der Gesellschaft", wie es Dahrendorf als kritischer Soziologe einmal nannte. Eine Ursache für das klammheimliche Verschwinden des demokratisch-sozialistischen Paradigmas aus den intellektuellen Diskursen liegt in folgendem Paradoxon: Der Sozialismus war im Bereich der Theorie vorwiegend durch ein marxistisch-ökonomistisches Konzept (Sozialismus = Sozialisierung plus Planwirtschaft) geprägt, dem keine Praxis entsprach, sondern ein Praxis-Defizit. Doch diese marxistische Sozialismus-Theorie war eine motivierende Kraft, die jene reformsozialistische Praxis verstärkte, durch die der europäische Sozialstaat auf- und ausgebaut wurde. Diese reformsozialistische Praxis ist inzwischen so ohnmächtig, weil sie schon immer unter einem Theorie-Defizit litt und weil die marxistische Theorie, die als motivierender Stachel im Fleisch der reformistischen Pragmatiker wirkte, verschwunden ist. Das Verschwinden der marxistischen Theorie hängt auch mit "proteischen" Einflüssen zusammen: Zahlreiche marxistische Intellektuelle hatten auch an den offensichtlichen Irrtümern des Marxismus festgehalten, weil es den Anforderungen in ihrem linksakademischen Milieu entsprach. Und diese Irrtümer erleichterten es ihnen, nach 1989 auch die heute noch begründeten und gültigen Einsichten von Marx über Bord zu werfen, was im flexibel gewendeten linksakademischen Milieu opportun geworden war. Die plötzliche Angst der Marxisten vor Marx erleichterte es dem postmodernen und neoliberalen Diskurs, die Traditionen der Aufklärung, der kritischen und emanzipatorischen Vernunft und des Sozialismus völlig aus dem vorherrschenden "Zeit-Ungeist" auszugrenzen. Wenn die neoliberale Alleinherrschaft nicht durch erneuerte sozialistische Theorie überwunden wird, können mittel- und langfristig linke Politikkonzepte nicht mehrheits- und durchsetzungsfähig werden. Erfolgreich kann ein "neuer sozialistischer Diskurs" aber nur werden, wenn er die "alte Diskurswelt der Periode von 1917 bis 1989" und die gesamte Tradition der Aufklärung und des Sozialismus einbezieht. Denn aus dem postmodernen Denken sind Auswege in Richtung moderner Sozialismus nicht einmal denkbar. Es ist nicht nur vormodernes, sondern auch vor-historisches Denken.

Linke Theorie gegen rechte Ideologie

Ein Denken vorwärts in Richtung moderner Sozialismus wird erst wieder möglich nach einer "Rückkehr" zur Tradition der Aufklärung, der kritischen und emanzipatorischen Vernunft. Ein erster Schritt in Richtung eines "neuen sozialistischen Diskurses" in der Tradition der Aufklärung wäre eine Klärung und Präzisierung der Begriffe. Zunächst müssten die Begriffe Theorie und Ideologie, die im gegenwärtigen Diskurs, auch in der SPW, als austauschbare Synonyme verwendet werden, wieder klar und deutlich als Gegensatzpaar unterschieden werden. Denn in der Tradition der Aufklärung, und auch des kritischen Marxismus, ist Ideologie falsches Bewusstsein, das die realen gesellschaftlichen Verhältnisse verschleiert, verzerrt und verfälscht darstellt, und zwar zum Nutzen und Vorteil bestimmter Interessengruppen. Wenn nicht zwischen Theorie - als Annäherung an eine objektive Interpretation der gesellschaftlichen Strukturen - und Ideologie, der verschleiernden und verfälschenden Interpretation der Gesellschaft, unterschieden wird, dann wird Ideologiekritik, also Kritik und Revision des falschen Bewusstseins, unmöglich. Im neoliberalen Denken ist diese Unterscheidung überflüssig, weil jede Abweichung vom einzig wahren und objektiven neoliberalen Weltbild a priori als Ideologie gilt. Nach dem "Ende aller Ideologien" kommen aber solche "Abweichungen von der Wahrheit", also Revisionismus, kaum noch vor. Ebenso war die Unterscheidung im dogmatischen Marxismus und Marxismus-Leninismus nötig, weil die marxistische Ideologie a priori als wahr, und damit als nicht zu kritisieren und zu revidieren, aufgefasst wurde, die bürgerliche Ideologie dagegen apriori als falsches Bewusstsein. In der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule ist die Unterscheidung ebenfalls unmöglich, da es ja im Falschen sowieso nichts Wahres geben kann. In einem "neuen sozialistischen Diskurs" in der Tradition der Aufklärung ist die Unterscheidung zwischen Theorie und Ideologie wiederherzustellen, und damit das erkenntnistheoretische Postulat: Es gibt eine objektive soziale Realität; kritische Vernunft kann durch empirische Analyse und theoretische Reflexion die Strukturen dieser Realität erkennen, eine empirisch fundierte Gesellschaftstheorie entwickeln und Ideologien rational kritisieren und widerlegen. Im "neuen sozialistischen Diskurs" kann die marxistische Tradition vor allem als Anleitung für eine fundierte Kapitalismuskritik einbezogen werden. (Vergl. dazu die Beiträge von Mathias Brodkorb und Michael R. Krätke in SPW 5/01). Die normative Grundlage dieser Kritik hat Marx bereits in seiner "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" formuliert: Radikale Kritik und Theorie muss im Dienst eines praktisch-humanistischen Zieles stehen, abgeleitet aus "dem kategorischen Imperativ, alle Verhälnisse U M Z U W E R F E N, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächliches Wesen ist". (MEW, Bd. 1, S. 385) Dieser "kategorische Imperativ" enthält einerseits die auch heute noch gültige normative Grundlage für praxisorientierte Kapitalismuskritik, andererseits aber zugleich eine folgenreiche Formulierung, die zu einer Ursache für das Praxis-Defizit des marxistischen Sozialismus-Konzeptes in Westeuropa wurde. Die Formulierung, "alle Verhältnisse U M Z U W E R F E N", führte zu dem fatalen Grundirrtum, der Sozialismus sei eine "Destruktionsaufgabe". Wenn die herrschenden Verhältnisse, Institutionen und Strukturen "UMGEWORFEN" oder beseitigt werden, dann ist das humanistische Ziel des Sozialismus erreicht. Diese Auffassung, der Sozialismus sei eine Destruktionsaufgabe und die sozialistischen Theoretiker könnten sich daher mit der radikalen Kritik alles Bestehenden begnügen, ist Folge eines ideologischen Bewusstseins, einer verzerrten und falschen Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dagegen ergibt sich aus einer realistischen Analyse der Gesellschaft, dass der Sozialismus eine Konstruktionsaufgabe ist. Nicht in einer revolutionären Umwälzung, nur in einer langfristig angelegten Reformstrategie können schrittweise "Verhältnisse KONSTRUIERT oder aufgebaut und geschaffen werden, in denen der Mensch nicht mehr ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Nur wenn der "kategorische Imperativ" von Marx in diesem konstruktiven Sinne umformuliert wird, kann aus dem "neuen sozialistischen Diskurs" eine erneuerte sozialistische Theorie hervorgehen, die "fähig ist, die Massen zu ergreifen". (MEW a. a. O.) Damit dies möglich wird, muss der Diskurs an das Sozialismuskonzept des kritischen Marxisten Eduard Bernstein anknüpfen, von Thomas Meyer als "Bernsteins konstruktiver Sozialismus" charakterisiert. (Die "Befürchtung" von Andrea Nahles, die SPD werde im neuen Grundsatzprogramm "den Bernstein nehmen", (SPW 5/00) ist übrigens völlig unbegründet. Es ist nicht einmal zu hoffen, dass die Demokratische Linke wenigstens einen Diskussionsbeitrag einbringt, der so radikal kapitalismuskritsch und demokratisch-sozialistisch ist wie die Position Bernsteins.) Der praxisorientiert umformulierte "kategorische Imperativ" von Marx könnte die noch allgemein anerkannten Grundwerte des Demokratischen Sozialismus - "Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität" - als normative Grundlage für künftige Kapitalismuskritik präzisieren und zuspitzen. Aber auch die radikalste Kritik der bestehenden Verhältnisse (davon gibt es übrigens jede Menge!) dürfte weitgehend wirkungslos bleiben, wenn nur jeweils isolierte Teilbereiche einer vernichtenden Kritik unterzogen werden. Denn gesellschaftspolitisch wirksam kann die radikale Kritik an Teilbereichen der Gesellschaft nur werden, wenn sie eingebettet wird in eine erneurte kritische Theorie des Kapitalismus. Der "neue sozialistische Diskurs" muss auch aufzeigen, dass sich modische Neudefinitionen wie "Informationsgesellschaft", "Wissensgesellschaft", "Erlebnisgesellschaft" , "Kommunikationsgesellschaft" etc. etc., immer nur auf Teilaspekte beziehen. Zur Ideologie, zur falschen Interpretation, werden diese Begriffe für Teilbereiche der Gesellschaft, wenn sie zum Hauptmerkmal und Strukturprinzip der Gesellschaft verabsolutiert werden und den real existierenden Kapitalismus aus dem Bewusstsein verdrängen. Und wenn es keinen Kapitalismus mehr gibt, was zahlreiche modische Begriffe nahelegen, wäre ein "sozialistischer Diskurs" gegenstandslos. Aber auch eine noch so fundierte und anspruchsvolle erneuerte kritische Theorie des Kapitalismus reicht nicht aus, wenn ihr nicht eine erneuerte Theorie des konstruktiven Demokratischen Sozialismus gegenübersteht. Das ist durchaus kein zu weites Feld!

Hervorhebungen:

"Die Treue zu unseren Prinzipien ist kein Hindernis, sondern eine Voraussetzung für die Modernisierung." (Lionel Jospin) Im Konzept des "proteischen Menschen" ist der siegreiche Kapitalismus das handelnde Subjekt. Das Ergebnis ist nicht sozialistischer Individulalismus, sondern kapitalistischer Kollektivismus. Der Sozialismus war im Bereich der Theorie vorwiegend durch ein marxistisch-ökonomistisches Konzept (Sozialismus = Sozialisierung plus Planwirtschaft) geprägt, dem keine Praxis entsprach, sondern ein Praxis-Defizit Im "neuen sozialistischen Diskurs" kann die marxistische Tradition vor allem als Anleitung für eine fundierte Kapitalismuskritik einbezogen werden. Ein praxisrelevanter theoretischer Minimalkonsens kann nur entstehen, wenn zunächst die Divergenzen offen benannt werden, die erst im Verlauf der Kontroversen zu einer Konvergenz führen.