Zukunft der Arbeit: Eine alternative Agenda für Vollbeschäftigung

Seit dem EU-Gipfel von 2000 ist ›Vollbeschäftigung‹ wieder ein offiziell vertretbares Ziel in der europäischen Politik. Welche Rolle spielt die traditionelle Arbeit in der Vollbeschäftigung n

in: UTOPIE kreativ, H. 137 (März 2002), S. 206-221

 

Seit dem Lissabonner EU-Gipfel von 2000 ist ›Vollbeschäftigung‹ wieder ein offiziell vertretbares Ziel, wenngleich durch die europäischen Regierungen und die EU-Kommission erstens die Frage nach der sozialen und ökologischen Qualität von Arbeitsplätzen ignoriert wird und zweitens jüngste Dokumente dieses Ziel offensichtlich nur noch propagandistisch aufrecht erhalten. 1 Dennoch bleibt es lohnenswert, die Verkündigungen offensiv aufzugreifen und ihnen ebenso wie linken Vorstellungen einer ›Auflösung der Arbeitsgesellschaft‹ das Ziel einer Vollbeschäftigung neuen Typs entgegenzusetzen.

Das "Ende der Arbeit"?

Trotz großer Unterschiede in den jeweiligen Strategien fanden Linke wie Konservative in den achtziger und neunziger Jahren einen gemeinsamen Nenner in der Analyse der Beschäftigungsproblematik: Der Arbeitsgesellschaft gehe die Erwerbsarbeit aus, weil inzwischen Wirtschaftswachstum und Beschäftigung weitgehend entkoppelt seien und der Produktivitätsfortschritt mit Mikroelektronik und Biotechnologie auf breiter Front ›technologisch bedingte Arbeitslosigkeit‹ schaffe. Bei einem Teil der Linken führte diese Analyse zur Ankündigung eines "Kollaps der Moderne" (Robert Kurz), zu den Thesen vom "Ende der Arbeit" (Jeremy Rifkin) oder von einer "80 : 20-Gesellschaft" (Schumann/Martin), wonach der Weiterbetrieb des High-Tech-Turbokapitalismus nur noch ein Fünftel der bisherigen Arbeitskräfte zum Funktionserhalt benötige. So sei die Zukunft jenseits der schrumpfenden oder zusammenbrechenden ›Arbeitsgesellschaft‹ zu gestalten - durch geldlos vermittelte kooperative Produktion (Kurz), die Stärkung der Zivilgesellschaft und des ›Dritten Sektors‹ (Rifkin), eine neue Subsistenzwirtschaft (Maria Mies) oder auch durch die "Neue-Arbeit"-Konzeption (Frithjof Bergmann). Moderatere Kräfte der Linken entwarfen eher vermittelnde Konzepte der Transformation der Arbeitsgesellschaft in eine "Erlebnis- und Kulturgesellschaft" (die Toskana-Fraktion der SPD Ende der achtziger Jahre) oder eine "Tätigkeitsgesellschaft" (kirchliche Kreise und Sozialinitiativen in ihrem Umfeld). (A)

Im konservativen Spektrum (›Kommission für Zukunftsfragen‹ der Freistaaten Bayern und Sachsen) wurde hingegen der Übergang von der "arbeitnehmerzentrierten, kolonnenhaft formierten Industriegesellschaft" zur "unternehmerischen Wissensgesellschaft" propagiert. Im Gegensatz zu den Linken ging es den Konservativen nicht um gemeinschaftliche "Alternativ- oder Subsistenzproduktion", sondern um die beschleunigte Auflösung des Arbeitnehmerstatus durch Förderung einer "Renaissance der Selbständigkeit", um ein neues Leitbild vom "Arbeitnehmer als Unternehmer seiner Arbeitskraft" und um mehr soziale Ungleichheit als notwendiger Motor für höheres Wachstum. Schnittstellen zur Diskussion der Linken ergaben sich bei den Themen ›Bürgergeld/negative Einkommensteuer‹ (bei den Linken hieß das ›Existenzgeld‹ oder ›garantiertes Grundeinkommen") und ›Bürger-und Freiwilligenarbeit‹ (bei den Linken: ›zivilgesellschaftliches Engagement‹). (B)

Auch die Thesen vom ›beschäftigungslosen Wachstum‹ und ›technologischer Arbeitslosigkeit‹ sind in dieser verabsolutierten Pauschalität nicht haltbar. Um einen aktuellen Aspekt notwendiger Relativierung herauszugreifen: Der Beitrag der Computertechnologie zum Wachstum der Faktorproduktivität wird von verschiedenen Forschern für die Periode 1995 bis 1999 mit 0,2 bis 1,17 Prozent zwar nicht als unbeträchtlich oder vernachlässigbar eingeschätzt. Dennoch war das Wachstum der Faktorproduktivität mit Computertechnologie (1995 bis 1999 im Jahresdurchschnitt bei 1,8 Prozent) geringer als zum Beispiel 1950 bis 1965 ohne Computertechnologie (2,7 Prozent). Die französische Caisse des dépots et consignations behauptet in einer Studie zu den USA, daß etwa das Wachstum der Faktorproduktivität mit einem Prozent 1999 ebenfalls geringer ausfiel als zwischen 1983 und 1989 mit 1,4 Prozent - der ersten Phase der Informatisierung der US-Wirtschaft. 2 Insofern scheint es, daß sowohl der Produktivitätsschub durch die Computerisierung als auch seine negativen Auswirkungen auf das wirtschaftliche Beschäftigungsniveau insgesamt (nicht jene in einzelnen Branchen!) häufig überschätzt oder dramatisiert werden.

Zudem lassen sich aus der bloßen Tatsache des Anwachsens der Produktivität noch keine Rückschlüsse auf die Dynamik der Wirtschafts-und Beschäftigungsentwicklung ziehen. Nur im Zusammenhang von Wirtschaftswachstum, Produktivitätsanstieg und quantitativer Entwicklung der erwerbsfähigen Bevölkerung (was nicht nur ein demographisches, sondern auch ein soziales und kulturelles Phänomen ist) können Beziehungen zwischen technologischem Fortschritt und Arbeitslosigkeit zutreffend bestimmt werden.

Selbst in Westdeutschland entstanden zwischen 1982 und 1992 bei eher schwachem Wirtschaftswachstum rund drei Millionen neue Arbeitsplätze. Es gab also Beschäftigungswachstum trotz im Vergleich zu den Wirtschaftswunderjahren geringerem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP). (C)

Allerdings reichte in Deutschland die neu entstehende Beschäftigung nach 1973 nie aus, um die Erwerbslosigkeit dauerhaft zurückzuführen. Das Arbeitsvolumen der Arbeitnehmer in Westdeutschland nahm von 1991 bis 1997 um sieben Prozent ab und stieg erst von 1997 bis 2000 wieder um drei Prozent. Für Gesamtdeutschland lag das Arbeitsvolumen sogar im Jahr 2000 noch um sechs Prozent unter dem von 1991, was die gespaltene Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung in West und Ost seit dem Beitritt der ehemaligen DDR widerspiegelt.

Die über einen langen Zeitraum negative Beschäftigungsentwicklung in Deutschland von 1991/92 bis 1998 ist im internationalen Vergleich eher ein Sonderfall (vgl. Tabelle 1). Trotz gleichfalls moderater BIP-Wachstumsraten erlebten etwa die Niederlande und die USA in den neunziger Jahren ein beständiges Beschäftigungswachstum, und auch in anderen europäischen Staaten konnte der negative Trend umgekehrt werden. Am spektakulärsten ist sicher Irland, das seine Arbeitslosenquote von rund 17 Prozent in 1986 auf 4,1 Prozent in 2001 reduzieren konnte.

Tabelle 1
Veränderungen von Kenndaten des Beschäftigungswachstums im Zeitraum 1983 bis 1995 (Angaben in Prozent)

Land Wachstum der Anzahl
beschäftigter Personen
Wachstum der Bevölkerung
im erwerbsfähigen Alter
Wachstum der
Erwerbsquote
Dänemark 7,5 4,4 5,0
Westdeutschland 8,5 6,4 - 0,4
Großbritannien 9,9 3,4 2,9
Niederlande 22,5 8,9 2,1
USA 23,2 10,7 4,3

Quelle: Heinz Werner: Countries with successful Employment Policy - What is behind their success?, IAB Labour Market Research Topics 33, 1999. (D)

Im Jahr 2001 gibt es eine Reihe von europäischen und außereuropäischen Industriestaaten, die nach Einschätzung der Europäischen Kommission in einer Situation "nahe der Vollbeschäftigung" sind (gemeint sind Arbeitslosenquoten um oder unter fünf Prozent): die Niederlande (2,6 Prozent), Österreich (3,1 Prozent), Portugal (3,7 Prozent), Irland (4,1 Prozent), Luxembourg (2,1 Prozent), Dänemark (4,6 Prozent), Großbritannien (5,3 Prozent), Schweden (5,5 Prozent), USA (4,4 Prozent) und Japan (4,8 Prozent; hier handelt es sich allerdings um einen Anstieg). Viele dieser Staaten hatten noch zu Beginn der neunziger Jahre Arbeitslosenraten von sieben bis zwölf Prozent. Der Abbau der Arbeitslosigkeit wurde mit jeweil sehr unterschiedlichen Strategien und unter sehr unterschiedlichen Bedingungen erreicht - und über die Qualität der neuen Arbeitsplätze und den sozialen und ökologischen Gehalt des Beschäftigungswachstums läßt sich mit gutem Grund streiten (erinnert sei nur an die Stichworte ›Working Poor‹ oder ›Arbeitspflicht‹ - ›Workfare‹); ganz zu schweigen davon, daß ein Teil der ›Jobwunder‹ in den USA, den Niederlanden und Großbritannien den Veränderungen in der statistischen Erfassung geschuldet ist. (E)

An dieser Stelle geht es mir aber zunächst nur um zwei nüchterne Feststellungen: Erstens kann für die Thesen vom ›Ende der Arbeit‹ und vom ›beschäftigungslosen Wachstum‹ die internationale Entwicklung in den neunziger Jahren kaum als Beleg dienen - das ›Ende der Arbeitsgesellschaft‹ wurde wieder einmal zu früh verkündet.

Zweitens gibt es offenbar auch im Zeitalter der Globalisierung Spielräume für die Wirtschafts und Beschäftigungspolitik, die einen Beschäftigungsaufbau ermöglichen. Dies sage ich nicht, um eine ›Modelldiskussion‹ nach dem Motto zu führen: Von den USA, von den Niederlanden oder von Dänemark zu lernen, heißt siegen lernen. Es geht mir vielmehr um die Erkenntnis, daß ein ›policy mix‹ aus Wirtschafts-, Haushalts-, Beschäftigungs-, Sozial- und Strukturpolitik durchaus dazu beitragen kann, neue Beschäftigung zu schaffen und vielleicht sogar die Erwerbslosigkeit zu überwinden.

Bürgerarbeit, Eigenarbeit, Erwerbsarbeit - ein erweiterter Arbeitsbegriff?

Aus kirchlichen, ökologischen und sozialpolitischen Kreisen wird die Frage aufgeworfen, ob ›Arbeit‹ denn umstandslos mit ›Erwerbsarbeit‹ gleichgesetzt werden könne. Schließlich gibt es auch den Bereich der überwiegend unbezahlten Haushalts- und Erziehungsarbeit, der Eigenarbeit (Heimwerken), der ehrenamtlichen Freiwilligen- oder Bürgerarbeit oder der nachbarschaftlichen und verwandtschaftlichen Hilfe. Diese unbezahlten Tätigkeiten seien eben auch Arbeit und müßten gegenüber der Erwerbsarbeit ›aufgewertet‹ werden. ›Gleichwertigkeit‹ der unbezahlten Tätigkeiten durch moralische Aufwertung und Anerkennung? Da werden sich die Erwerbslosen aber freuen! (F)

Gegen eine solche moralische ›Neubewertung‹ der Arbeit formuliert Gerhard Bosch treffend: "Die Arbeit von Erwerbstätigen, die erfahren, daß ihre Tätigkeit nachgefragt wird, ihre Arbeitsprodukte einen Preis haben, ihre Motivation durch gute Arbeitsbedingungen erhöht oder deren Status und Selbstbewusstsein durch Qualifikation und Professionalisierung gestärkt werden, wird gesellschaftlich höher bewertet als die Arbeit, die in Nischen angesiedelt ist, dürftig oder gar nicht entlohnt wird, wobei man zum Teil das Gleiche wie Beschäftigte im öffentlichen Dienst nur zu schlechteren Bedingungen und ohne Qualifikation tun muss." 3

Dieser nüchterne Blick auf die Realitäten beabsichtigt keineswegs, die unbezahlten Tätigkeiten nun im Gegenzug abzuwerten. Carola Möller führt uns anhand einer Studie der Statistiker Dieter Schäfer und Norbert Schwarz über den Wert der unbezahlten Arbeit der privaten Haushalte vor, in welcher Relation erwerbsmäßig organisierte marktwirtschaftliche Produktion und private ›Haushaltsproduktion‹ zueinander stehen: "...der Berechnung liegt der effektive Durchschnittslohn einer Hauswirtschafterin zugrunde. Für 1992 sind dies brutto 25 DM und netto 14,70 DM. In Westdeutschland beträgt demnach die Nettowertschöpfung der Haushalte an der gesamten Nettowertschöpfung (3,3 Billionen DM) 36 Prozent. Dieser Anteil liegt höher als z. B. die Nettowertschöpfung im produzierenden Gewerbe." 4 Der Beitrag der ›unsichtbaren‹, unbezahlten, nicht marktwirtschaftlich organisierten Haushaltsarbeit zu Wohlstand und Reproduktion der Gesellschaft ist also sehr beträchtlich und eine unerläßliche Voraussetzung dafür, daß die erwerbsförmig organisierte Marktwirtschaft überhaupt funktionieren kann. Dieser Tatsache wird in den offiziellen wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Diskussionen kaum Rechnung getragen. (G)

Was folgt daraus für die Forderung nach ›Anerkennung‹ der unbezahlten Arbeit? ›Moralische Anerkennung‹ ist leicht, weil sie nichts kostet - aber etwa ›Lohn für Hausarbeit‹? Dies würde ganz offensichtlich selbst bei einem ›niedrigen Ansatz‹ (Hauswirtschafterinnenlohn) das marktwirtschaftlich organisierte ökonomische System überfordern, wenn nicht zum Einsturz bringen.

Und die ›Aufwertung der Bürgerarbeit‹? Das Konzept der sächsisch-bayerischen Zukunftskommission zu Bürgerarbeit und Bürgergeld behauptet, zivilgesellschaftliches Engagement stärken zu wollen. Grundsätzlich soll Bürgerarbeit unentgeltlich geleistet werden, aber ihre Attraktivität soll durch Zugaben wie Anerkennung von Rentenzeiten oder kostenlose Kindergartenplätze erhöht werden. Nur wer existentiell darauf angewiesen ist, soll als Bürgerarbeiter auch Bürgergeld bekommen - hier in Form einer Umwandlung bisheriger Sozial- oder Arbeitslosenhilfe, was zur Existenzsicherung häufig nicht ausreicht. In ganz und gar ›alternativer‹ Prosa formuliert die Kommission: "In demselben Maße, in dem Bürgerarbeit attraktiv wird, (...) sinkt die Nachfrage nach Erwerbsarbeit." Die "Fixierung auf Erwerbsarbeit als wichtigsten sinnstiftenden Lebensbereich" soll aufgebrochen werden. Letztlich geht es ihr auch darum, mit von "Gemeinwohlunternehmern" organisierter Bürgerarbeit bisher vom Sozialstaat oder von Wohlfahrtsverbänden erbrachte Leistungen billiger zu machen. Damit mutiert die "Aufwertung von Bürgerarbeit und zivilgesellschaftlichem Engagement" zu einem Programm, den Sozialstaat abzubauen und in diesem Bereich bestehende Erwerbsarbeit überflüssig zu machen. Darüber hinaus führt die Vermischung von Erwerbsarbeit und Ehrenamt zur "Bürgerarbeit" letztlich zur Aushöhlung ehrenamtlichen Engagements, das für jedes demokratische Gemeinwesen unverzichtbar ist.

Auch der Vorschlag von Orio Giarini und Patrick Liedtke zur Neubewertung der Arbeit bedient eine ›alternative‹ Rhetorik, indem er die Gleichbewertung von bezahlter und unbezahlter Arbeit fordert. 5 Die Gleichbewertung bezahlter und unbezahlter Arbeit wollen sie über ein ›Drei-Schichten-Modell" der Arbeit herstellen. Die erste Schicht umfaßt staatlich organisierte Arbeit (1.000 Stunden pro Jahr) zu einem eine "bescheidene Existenz" ermöglichenden Mindestlohn, für die auch ältere Menschen bis zu 78 Jahren herangezogen werden sollen. Die Kosten für diese Schicht sollen durch die Umwidmung sämtlicher Ressourcen für Arbeitslose und Sozialausgaben (also auch ein Teil der Renten) aufgebracht werden. Die zweite Schicht ist ein unregulierter privater Sektor mit Arbeitszeiten von einigen wenigen bis zu 100 Wochenstunden. Die dritte Schicht schließlich besteht aus freiwilligen, unbezahlten gemeinnützigen Tätigkeiten. Dem Staat soll jedwede Intervention in die zweite oder dritte Schicht untersagt werden. Menschen im erwerbsfähigen Alter (von 18 bis 78 Jahren) können ihre Zeit in flexiblen Kombinationen auf diese drei Schichten der Arbeit verteilen. Alles in allem ein Konzept, das nur in mehr ›Arbeitsbeschaffung‹ und mehr ›Polarisierung‹ enden kann. (H)

So finde ich in der Debatte um die ›Neubewertung‹ der Arbeit und die ›Gleichbewertung‹ bezahlter und unbezahlter Arbeit vielerorts entweder nur moralische ›Anerkennungspostulate‹ oder geschickt bemäntelte neoliberale Vorschläge zum Abbau des Sozialstaats. Das Erwerbssystem muß so gestaltet sein, daß es eine streßfreie Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit, Eigenarbeit und Freiwilligenarbeit für Frauen und Männer ermöglicht. Folglich geht es primär um eine Umverteilung der Erwerbsarbeit wie der Eigen- beziehungsweise Haushaltsarbeit mit dem Ziel der Beseitigung der Diskriminierung von Frauen. Dies wird nicht ohne Veränderungen der Arbeitsteilung, der Bewertung von Arbeit, der Arbeitsorganisation und der Arbeitsinhalte vonstatten gehen können.

Wachstum für Vollbeschäftigung - Vollbeschäftigung für mehr Wachstum?

Vornehmlich aus Europa vernehme ich seit dem EU-Gipfel von Lissabon die frohe Botschaft, daß Â›Vollbeschäftigung‹ bis 2010 erreichbar sei. Dies könne gelingen, wenn die Wirtschaft in der Europäischen Union bis 2010 im Jahresdurchschnitt um drei Prozent wächst und die EU damit zur "dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Ökonomie der Welt" werde. Bis 2010 soll es also in einer ersten Phase um Vollbeschäftigung durch Wachstum gehen, danach um mehr Wachstum durch Vollbeschäftigung.

›Vollbeschäftigung‹ ist nach dieser Diktion hergestellt, wenn die Beschäftigungsquote (der Anteil der Beschäftigten an der Gesamtzahl der Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 16 und 64 Jahren) in der EU 70 Prozent und die Frauenerwerbsquote 60 Prozent beträgt. Um dieses Ziel zu erreichen, setzt die EU auf einen ›policy mix‹, der die Erzielung von Haushaltsüberschüssen, folglich den Abbau der Staatsschuld (›solide Finanzen‹), die Begrenzung der Inflation bei zwei Prozent, die weitere Liberalisierung und Flexibilisierung der Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte zur Dynamisierung der Wirtschaft und eine Innovationspolitik für mehr High-Tech (Internetökonomie, e-Europe, Förderung der Gen- und Nanotechnologie) kombiniert. Während ›Vollbeschäftigung‹ in den neunziger Jahren allgemein noch als ›unerreichbar‹ und ›utopisch‹ galt, vollzogen die EU und ihre Mitgliedstaaten einen markanten Perspektivenwechsel weg von den düsteren Szenarien vom ›Ende der Arbeitsgesellschaft‹.

Den Hintergrund für eine neue Perspektive der ›Vollbeschäftigung‹ bilden insbesondere Langfristschätzungen über die demographische Entwicklung in Europa. So behauptet das Institute for Prospective Technological Studies, daß die EU lediglich bis 2006 noch mit einem leichten Anstieg des Erwerbspersonenpotentials zu rechnen habe, was die Lage auf den Arbeitsmärkten bis dahin angespannt halten soll. Ab 2008 oder 2010 werde bis mindestens 2030 aufgrund des geringeren Nachstroms junger Erwerbspersonen und der Zunahme der Zahl der Rentnerinnen und Rentner mit einer fortgesetzten Schrumpfung des Arbeitskräfteangebots zu rechnen sein. 6

Aus dieser Analyse folgert das IPTS, daß die EU und ihre Mitgliedstaaten bereits jetzt "aktivierende Politiken" einleiten müßten, um ab 2008 oder 2010 gravierende Engpässe auf den Arbeitsmärkten zu vermeiden. Die Botschaft ist deutlich: Europa geht keineswegs die Arbeit aus - es ist vielmehr zu befürchten, daß ab 2010 zuwenig und für die expandierenden Sektoren zusätzlich nicht hinreichend ausgebildete Arbeitskräfte verfügbar sein werden, um die Wirtschaft auf Wachstumskurs zu halten. (I)

Ich halte es vor diesem Hintergrund für angemessen, von einem neuen Paradigma der EU zu sprechen. Unter der Parole ›Arbeit, Arbeit, Arbeit‹ geht es um eine großangelegte "Aktivierung" bis hin zu dem Punkt, "dass jeder, der sich bewegen kann und staatliche Hilfe beansprucht, seine Kinder allein lassen, aus dem Krankenbett aufstehen, seine Behinderung überwinden und aus dem Ruhestand zurückkommen muss, um zu arbeiten. Noch niemals seit der Abschaffung des Arbeitshauses ist Arbeit so leidenschaftlich und so zielstrebig aufgewertet worden" 7 . Und dies alles aus der Sorge heraus, daß die Wirtschaft angesichts der demographischen Entwicklung andernfalls nicht hinreichend expandieren könne.

Das neue Paradigma enthält - ähnlich wie die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft - eine Reihe von Widersprüchen. Der erste Widerspruch betrifft die gesamtwirtschaftlichen Perspektiven. Angesichts der erlahmten Konjunktur in den USA, der anhaltenden Stagnation in Japan und der gedämpften Wirtschaftsaussichten auch in Europa ist es wohl illusionär, daß bis 2010 in Europa jahresdurchschnittliche Wachstumsraten von drei Prozent erreichbar sind. Ohnehin ist die quantitative gesamtwirtschaftliche Dynamik seit der Krise 1973 strukturell und offensichtlich dauerhaft abgeschwächt. (J)

Der zweite, vielleicht größte Widerspruch betrifft die in Europa und Deutschland sich verfestigenden Strukturen einer ›dualen Wirtschaft‹, denen das Beschäftigungswachstum folgt. Auf der einen Seite gibt es seit 1998 ein leichtes Mehr an Vollzeitbeschäftigung bei Technikern, Ingenieuren, leitenden Angestellten und ›professionals‹ im allgemeinen. Auf der anderen Seite dominiert allerdings ein ungebrochen hohes Wachstum bei befristeten und Teilzeit-Arbeitsverhältnissen, die 1999 etwa 30 Prozent der Gesamtbeschäftigung in der EU ausmachten, bei Frauen gar 45,7 Prozent. Obwohl die Gleichstellung der Frauen als offizielles Ziel im Rahmen der Vollbeschäftigungsstrategie gilt, zementieren die Strukturen der ›dualen Wirtschaft‹ die geschlechts-hierarchische Arbeitsteilung, weil Frauenbeschäftigung überwiegend als Teilzeit- oder geringfügige Beschäftigung wächst. Wenn das Erreichen von ›Vollbeschäftigung‹ nur an einer bestimmten Marke der ›Beschäftigungsquote‹ festgemacht wird, so reicht ein weiteres Wachstum prekärer Beschäftigung, von Teilzeit- und befristeten Arbeitsplätzen, von Leih- und Zeitarbeit etc. aus, um die angestrebte Erwerbsquote zu erfüllen. Hier offenbart sich der fehlende soziale Gehalt der angestrebten ›Vollbeschäftigung‹. Sie akzeptiert eine verschärfte soziale Polarisierung und eine fortschreitende Zerstörung der sozialen Integrität der Lebensverhältnisse. (K)

Verschärfend kommt hinzu, daß die duale Wirtschaftsstruktur nicht nur einfach hingenommen wird, sondern durch eine gezielte Niedriglohnstrategie vertieft werden soll. Den unteren Teil der Arbeitseinkommenspyramide bilden bereits heute nicht nur die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse (ca. 3,7 Millionen in Deutschland), sondern auch sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte mit niedrigen Einkommen (ca. 1,5 Millionen in Deutschland), Teilzeitbeschäftigte mit niedrigen Einkommen, Scheinselbständige, ein Teil der Beschäftigten auf dem Zweiten Arbeitsmarkt (ca. 80.000 in Westdeutschland und 300.000 in Ostdeutschland, zum Beispiel mit ›Sondertarifen‹ für Beschäftigungsgesellschaften) sowie Beschäftigte von Zeitarbeitsfirmen (ca. 180.000 in Deutschland). Nach dem Prinzip ›fördern und fordern‹ werden vor allem Langzeiterwerbslose und Sozialhilfeempfangende durch drohende Kürzungen oder Streichungen der Unterstützungsleistungen dazu veranlaßt, auch schlecht entlohnte und qualifikatorisch perspektivlose Arbeitsangebote anzunehmen. 8 Die Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck und Rolf Heinze von der Benchmarking-Gruppe im Bündnis für Arbeit plädierten für klare Einschnitte: qualifizierte Berufsarbeit, Flächentarif, Kündigungsschutz usw. sollten nur noch für den industriellen Bereich gelten, nicht mehr für den expandierenden Dienstleistungssektor. So könnten Millionen neuer Arbeitsplätze entstehen. Ihr Vorschlag für einen subventionierten Niedriglohnsektor würde die Steuerzahlenden zwischen acht und 16 Milliarden Euro kosten. In Ostdeutschland lassen sich längst die kontraproduktiven Konsequenzen dieser scheinbaren Lösung des Arbeitslosigkeitsproblems feststellen. Das niedrige Lohnniveau führt zur Abwanderung und Abwerbung vor allem von Menschen mit höherer Qualifikation, zur Entwertung vorhandener Qualifikationen, zu weit verbreiteter Demotivierung von Arbeitslosen und zur Beeinträchtigung des gesamten wirtschaftlichen und sozialen Umfelds. (L)

Die Umsetzung der Niedriglohnstrategie wäre nicht nur kontraproduktiv für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern auf längere Sicht würde sie durch den Verlust einer breiten Basis qualifizierter und motivierter Beschäftigter auch die Innovationskraft der Wirtschaft untergraben. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht schwächt die Niedriglohnstrategie die Massenkaufkraft und schmälert die Nachfrage.

Der dritte Widerspruch des neuen Paradigmas betrifft die Flexibilisierung der Erwerbsarbeit und die Erosion des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses. Zwar ist das Deutsche Institut der Wirtschaft (DIW) mit einer jüngsten Untersuchung der These von der ›Erosion der Normalarbeit‹ mit dem Befund entgegengetreten, daß immer noch die große Mehrheit der Erwerbstätigen in Europa vollzeitbeschäftigt arbeitet (das heißt mehr als 30 Stunden pro Woche) 9 , dennoch wird selbst die Vollzeitbeschäftigung von vielfältigen Formen der Flexibilisierung erfaßt und spiegelt eine stark heterogenisierte Erwerbslandschaft wider. Die vorherrschende betriebsbedingte Flexibilisierung betrifft nicht nur die Arbeitszeiten (Gleitzeit, Jahres-und Lebensarbeitszeitkonten, ›Vertauensarbeitszeit‹ etc.), sondern auch die Arbeitsgestaltung (Intensivierung, Zunahme von Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit, weil schnelle Reaktionsfähigkeit auf kurzfristige Marktschwankungen und Kundenwünsche gefordert sind), die Arbeitsorganisation (zum Beispiel Zeitorganisation als neue Arbeitsaufgabe), die Beteiligungs- und Entlohnungsformen, die Art und Dauer von Beschäftigungsverhältnissen (Leih- und Zeitarbeit, befristete Beschäftigung, Arbeit auf Abruf, Projektarbeit, neue Selbständigkeit), die Auflösung des Arbeitsortes (Telearbeit) und die Tendenz zur ›Subjektivierung der Arbeit‹ (Indienstnahme der ›unternehmerischen‹ Fähigkeiten der Beschäftigten, Qualifikationserwerb außerhalb der formalen Erwerbsarbeit, Training sozialer Kompetenz, Einbeziehung subjektiver Ansprüche).

Tabelle 2
Erwerbsformen in der EU 1996
(Anteile an der Gesamtbeschäftigung in Prozent)

  Standardisiert Standardisiert Entstandardisiert Entstandardisiert Selbständig Selbständig
  Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer
Deutschland 49,9 76,8 44,4 14,2 5,7 9,0
EU 14 53,0 64,8 35,2 15,1 11,8 20,1

EU 14 = ohne Schweden

Tabelle 3
Entstandardisierte Erwerbsformen in der EU 1996
(Anteile an der gesamten entstandardisierten abhängigen Beschäftigung in Prozent)

  Befristete
Vollzeit
Befristete
Teilzeit
Unbefristete
Teilzeit
Geringfügige
Beschäftigung
Deutschland Frauen 18,2 46,6 6,6 28,6
Deutschland Männer 71,1 7,0 2,7 19,2
EU 14 Frauen 27,4 39,4 12,3 20,9
EU 14 Männer 69,4 11,4 6,5 12,6


EU 14 = ohne Schweden
geringfügige Beschäftigung = unter 15 Wochenstunden

Flexibilisierung, ›Arbeitsanreicherung‹ und neue Managementkonzepte haben keineswegs zu einer ›Humanisierung der Arbeit‹ geführt, sondern zu einer Kombination von teils erweiterten individuellen Spielräumen der Beschäftigten einerseits und alten und neuen Belastungen andererseits. Die ›alten‹ körperlichen Gesundheitsbelastungen durch Arbeit (Rückenschmerzen, Belastungen von Gelenken und Muskeln, Lärm etc.) blieben zum Beispiel zwischen 1991 und 1996 in Europa weitgehend konstant oder erhöhten sich leicht. Hinzu kam das Ansteigen neuer psychosozialer Belastungen wie Streß durch Arbeitsintensivierung, den Druck kurzer Lieferfristen etc. (M)

Hinzu kommt, daß die neuen Modelle zur Flexibilisierung der Arbeitszeit (›atmende Fabrik‹) eine deutliche Tendenz zeigen, die Geschehnisse im Unternehmen vom Arbeitsmarkt abzukoppeln und so neuen Beschäftigungsaufbau zu vermeiden. Nach einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages aus dem Jahr 2000 wenden in Deutschland inzwischen rund 60 Prozent der Unternehmen eine oder mehrere Modelle flexibler Arbeitszeitgestaltung an. Jahresarbeitszeitkonten sorgen etwa dafür, daß bei guter Auftragslage 48 Stunden und mehr pro Woche gearbeitet wird, bei schlechter Auftragslage hingegen deutlich weniger (bis runter auf 25 Wochenstunden). Dies schafft bestenfalls Beschäftigungssicherheit für die Kernbelegschaften, während eine Ausweitung des Auftragsvolumens größtenteils am Arbeitsmarkt vorbei geht. Die befragten Unternehmen nannten konsequenterweise als Hauptgründe für die Einführung flexibler Arbeitszeiten die Vermeidung teurer Überstunden (60 Prozent) und von Neueinstellungen (28 Prozent). 10 (N)

Auch diese Verhältnisse werfen die Frage nach dem sozialen Gehalt der ›Strategie für Vollbeschäftigung‹ auf. Die negativen Seiten betriebsbedingter Flexibilisierung werden inzwischen durchaus eingestanden. Abhilfe soll eine neue Verbindung von Flexibilität und Sicherheit schaffen - im Eurokauderwelsch "Flexicurity" genannt. So wie die Flexicurity-Debatte derzeit geführt wird, kann sie zwar eine Abmilderung der schlimmsten Zumutungen der Arbeitsflexibilität herbeiführen (zum Beispiel durch soziale Sicherung atypischer Beschäftigungsverhältnisse, Mindestlohnregelungen, ›Übergangsarbeitsmärkte‹, ›beschäftigungssichernde‹ Arbeitszeitflexibilität wie Jahresarbeitszeitkonten usw.). 11 Weil die Ergebnisse der Arbeitsmarktderegulierung allerdings als ›Geschäftsgrundlage‹ akzeptiert werden, verändern die Flexicurity-Konzepte die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung nur wenig und finden sich mit verfestigten Niedriglohnstrukturen weitgehend ab.

Der vierte Widerspruch der Strategie ›Wachstum für Vollbeschäftigung und Vollbeschäftigung für mehr Wachstum‹ betrifft die Haushalts- und Verteilungspolitik. Zwar wird angesichts der bereits vorhandenen Engpässe bei qualifizierten Tätigkeiten und der noch wachsenden Nachfrage im Rahmen des Übergangs zur ›Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft‹ immer lauter nach verstärkter Aus- und Weiterbildung, neuen Qualifikationsprofilen, Verbesserungen des Bildungssystems und von Forschung und Entwicklung sowie nach Konzepten für das ›lebenslange Lernen‹ gerufen. Doch fehlen aufgrund des ›Vorrangs für das Sparen‹ die nötigen Ressourcen auf seiten der öffentlichen Haushalte und die Unternehmen zeigen sich ebenfalls nicht gewillt, die betriebliche Aus- und Weiterbildung im erforderlichen Umfang zu finanzieren. Weil man sich so um die Frage herumdrückt, wer die Kosten für die nötige breit angelegte ›Qualifizierungsoffensive‹ tragen soll, verlegt man sich auf kurzfristige Strategien, die schlimmsten Lücken durch Anwerbung ›der besten Köpfe‹ aus dem Ausland zu füllen. Damit folgt die Politik dem Ruf nach einer ›Globalisierung der Arbeitsmärkte‹, die unter anderem qualifizierte Fachkräfte kostengünstiger beschaffen soll, indem anderswo - insbesondere in ›Entwicklungsländern‹ - getätigte ›Investitionen in Humankapital‹ einfach für den eigenen ›Wirtschaftsstandort‹ requiriert werden. (O)

›Vollbeschäftigung für mehr Wachstum‹ läßt sich zusammenfassend als eine Strategie charakterisieren, die die soziale Seite der Erwerbsarbeit völlig vernachlässigt: sinnhafte, angereicherte und gesundheitsförderliche Tätigkeiten, auskömmliche Einkommen, sozial- und tarifvertragliche Schutzrechte, demokratische Teilhabe am Wirtschaftsgeschehen. Die Qualität der Arbeit, die Gleichstellung von Frauen und die Perspektive einer nachhaltigen Entwicklung werden weitgehend ausgeblendet. Die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und persönlicher Lebensführung hat keine Priorität - kurzum, es ist ›Vollbeschäftigung‹ ohne soziale Gerechtigkeit.

Vollbeschäftigung neuen Typs: Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik als Verteilungspolitik

Eine alternative Agenda für Vollbeschäftigung muß davon ausgehen, daß sich das Problem der Erwerbslosigkeit nicht einfach durch gesteigertes Wirtschaftswachstum lösen läßt. Seit den achtziger Jahren stagniert es im wesentlichen auf niedrigem Niveau.

Ein zukunftsfähiges Leitbild der Vollbeschäftigung muß zudem Abschied nehmen vom bisher geltenden patriarchalischen Modell des ›männlichen Familienernährers‹. Folgende Eckpunkte können eine ›Vollbeschäftigung neuen Typs‹ grob umreißen: Jede arbeitswillige und arbeitsfähige Person muß erstens Zugang zu existenzsichernder, sozial gesicherter Erwerbsarbeit haben, in der sie ihre produktiven Fähigkeiten entwickeln kann. Durch eine ›soziale Grundsicherung‹ wird das soziokulturelle Existenzminimum garantiert, um Armut zu verhindern und die demokratische Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auch für jene zu ermöglichen, die zeitlich begrenzt oder dauerhaft keiner Erwerbsarbeit nachgehen können. Es kann allerdings nicht darum gehen, mit Instrumenten wie der sozialen Grundsicherung das ›Arbeitsangebot zu verknappen‹ und somit die Empfängerinnen und Empfänger dieser Leistung dauerhaft vom Erwerbsarbeitsmarkt auszugrenzen und auf eine ›bescheidene Existenz‹ zu verpflichten. Einer demokratischen Vollbeschäftigungspolitik geht es vielmehr darum, keine strukturellen Asymmetrien zu Lasten der Arbeitsplatzsuchenden und keine oligopolistische Vermachtung des Arbeitsmarkts zugunsten der Unternehmer zuzulassen. Die Entscheidung für Erwerbsarbeit muß deshalb auf der anderen Seite notwendig eine freiwillige sein und darf nicht durch Zwang herbeigeführt werden.

Zweitens muß die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und persönlicher Lebensführung umfassend hergestellt werden. Erwerbsarbeit und Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit sollen künftig gleichmäßig zwischen Frauen und Männern aufgeteilt werden. Drastisch verkürzte Tages-und Wochenarbeitszeiten (zum Beispiel 6-Stunden-Tag und 30-Stunden-Woche) können große Potentiale für eine durchgreifende Umverteilung der Erwerbsarbeit erschließen und eine gerechte Neuverteilung von Erwerbsarbeit und Versorgungsarbeit (Hausarbeit, Kindererziehung, ehrenamtliches Engagement) ermöglichen. Ferner geht es darum, die Spielräume für individuelle Zeitgestaltung der Beschäftigten zu erweitern, die Gleichstellung der Frauen durchzusetzen und sinnvolle Arbeitsinhalte und gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen zu schaffen.

Eine flexible Lebensgestaltung, bei der sich Zeiten der Erwerbstätigkeit mit Phasen von Aus- und Weiterbildung, von Kindererziehung und Pflege, von ehrenamtlichem Engagement oder zeitweiser Selbständigkeit abwechseln, muß drittens durch vollen sozialen Schutz abgesichert werden. Das Steuersystem muß individualisiert und der Sozialschutz auf die soziale Sicherung von Individuen und insbesondere auch von Kindern ausgerichtet werden.

Viertens kann mit Blick auf wachsende ökologische Gefährdungen Beschäftigung nicht mehr einfach durch gesteigertes Wirtschaftswachstum erreicht werden, sondern Erwerbsarbeit muß nachhaltiges, dauerhaft umweltverträgliches Wirtschaften fördern. (P)

Die Durchsetzung der ›Vollbeschäftigung neuen Typs‹ ist damit umfassende Gesellschaftspolitik - die Arbeitsmarktpolitik alleine wäre damit überfordert. Das Berliner Memorandum Beschäftigungspolitik - Die europäische Dimension stellt zu Recht fest: "Somit müssen zukünftig auch die Wirtschafts-, Finanz-, Bildungs-, Forschungs-, Umweltpolitik etc. schwerpunktmäßig nach dem Ziel ausgerichtet werden, einen Beitrag zur Lösung der Beschäftigungsprobleme zu leisten." 12 Wesentliche Rahmenbedingungen für diese Politikbereiche werden heute auf der europäischen Ebene definiert. Deshalb kommt auch eine nationalstaatliche Politik für Vollbeschäftigung nicht umhin, an der europäischen Ebene anzusetzen.

Die EU braucht dringend einen alternativen gesamtwirtschaftlichen ›policy mix‹ und eine Kooperation zwischen der Europäischen Zentralbank sowie der Wirtschafts-, Fiskal- und Lohnpolitik der Mitgliedstaaten. Es kommt darauf an, eine entspanntere Geldpolitik mit einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik, einer binnenwirtschaftsorientierten Strategie für Nachhaltigkeit und einer Haushaltspolitik zu kombinieren sowie die öffentlichen Investitionen, Forschung und Bildung sowie die Entwicklung der Humanressourcen zu stärken.

Das ökonomische Potential der Währungsunion muß für die Verwirklichung einer Beschäftigungs-, Umwelt- und Sozialunion genutzt werden. Europa könnte sich mit einer binnenwirtschaftsorientierten Industrie-, Struktur-, Umwelt- und Beschäftigungspolitik auf einen ökologisch tragfähigen Entwicklungspfad begeben. Im Zentrum steht dabei eine moderne Regionalisierungspolitik zur Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe und des ökologischen Wirtschaftens. Nachhaltige Regionalisierungspolitik zielt auf einen höheren regionalen Beitrag der Versorgung mit Energie, Lebensmitteln, Freizeit, Kultur, Tourismus, Verkehr etc. Sie stellt neue Kooperations- und Finanzierungsbeziehungen zwischen öffentlicher Wirtschaft, Privatunternehmen und einem gestärkten Sektor zwischen Markt und Staat her. (Q)

Die EU könnte die Unternehmens- und Vermögensbesteuerung harmonisieren, mit einem föderalen Finanzausgleich die Handlungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates wiederherstellen und Einkommens- und Entwicklungsunterschiede einebnen. Die Währungsunion bietet sogar das Potential für eine gleichgerichtete, aktive Haushaltspolitik ihrer Mitgliedstaaten als Alternative zur Sparpolitik der neoliberalen Ära. Jeder von der öffentlichen Hand einigermaßen klug investierte Euro zieht wegen der Größe des europäischen Binnenmarkts etwa drei Euro an privaten Investitionen und Konsumentenausgaben nach sich. Die öffentlichen Investitionen wären damit bei einem durchschnittlichen effektiven Steuerniveau von 30 Prozent weitgehend selbstfinanzierend. Eine expansive Haushaltspolitik kann in mittlerer Sicht also ohne neue Verschuldung gestaltet werden. Damit können zum Beispiel Investitionen in Forschung und Bildung finanziert werden, die den erwarteten hohen Fachkräftebedarf vorausschauend abdecken helfen.

Die staatliche Gesamtverschuldung kann mittelfristig durch eine Besteuerung hoher Einkommen, explodierender Unternehmensgewinne und Vermögen gemäß ihrer wachsenden ökonomischen Leistungsfähigkeit zurückgeführt werden. Um Investitionen und die Einkommensentstehung in der Realwirtschaft zu fördern, muß die spekulative Anlage auf den Finanzmärkten durch entsprechende steuerliche Anreize (Tobin-Steuer, Börsenumsatzsteuer) eingeschränkt werden. Die Einkommensumverteilung von den Vermögensbesitzern und den Haushalten mit hohen Einkommen hin zu den Haushalten mit niedrigen Einkommen wirken sich zudem positiv auf die Nachfrage (nach umweltverträglich hergestellten und langlebigen Produkten) aus. Sie sind damit keineswegs ›wirtschaftsfeindlich‹, sondern stabilisieren sowohl die Absatzerwartungen von Industrie und Dienstleistern als auch die Beschäftigung. Ein veränderter makroökonomischer ›policy mix‹ auf europäischer Ebene könnte insgesamt somit günstige Rahmenbedingungen schaffen, um gleichzeitig eine nachhaltige Entwicklung, einen gestärkten sozialen Zusammenhalt, Gleichstellung der Frauen und ›Vollbeschäftigung neuen Typs‹ zu ermöglichen.

Das Projekt Arbeit und Ökologie der Hans-Böckler-Stiftung ist jüngst der Frage einer integrierten Strategie für Nachhaltigkeit, Beschäftigung und sozialer Integration im bundesdeutschen Rahmen nachgegangen. Gegenüber einem ›Status-Quo‹-Szenario wurden ein eher ›wachstumsorientiertes‹ ökonomisch-soziales Szenario und ein ökologisch-soziales Szenario mit Hilfe eines makroökonomischen Modells durchgespielt. Beide Alternativszenarien zeigten in punkto Umweltverträglichkeit und Abbau der Erwerbslosigkeit deutlich positivere Resultate als das ›Status-Quo‹-Szenario.

Das sozial-ökologische Szenario setzte einerseits auf einen Mix aus wirtschafts-, sozial- und beschäftigungspolitischen Maßnahmen: Tobin-Steuer, Energie- und Materialinputsteuer, Einkommensumverteilung, Arbeitzeitverkürzung auf 30 Wochenstunden bis 2020 mit Lohnausgleich, gesicherte und qualifizierte Teilzeitangebote für Frauen und Männer, Gleichstellungsmaßnahmen, Bürgergeld beziehungsweise negative Einkommensteuer nach dem Modell der Friedrich-Ebert-Stiftung, niedrigere Mehrwertsteuer für soziale Dienstleistungen etc. Andererseits fußt dieses Szenario auf umweltpolitischen Zielen und Maßnahmen: CO2-Reduktion um 75 Prozent bis 2050, Stoffstrommanagement zur Verringerung des Rohstoffverbrauchs der Wirtschaft um 90 Prozent, vorsorgende Chemiepolitik, Kontrolle beziehungsweise Auslaufen von Risikotechnologien, Atomausstieg bis 2010, Stop des Verkehrswachstums und der intensivierten Flächennutzung etc. (R)

Das sozial-ökologische Szenario bietet damit einen sinnvollen strategischen Rahmen für eine alternative Agenda auf dem Weg zur Nachhaltigkeit und zur Vollbeschäftigung neuen Typs. Wie die Hans-Böckler- Stiftung bereits selbst feststellt, sind die einzelnen vorgeschlagenen Instrumente innerhalb dieses Gesamtrahmens durchaus zu verändern oder zu ergänzen. Während ich vielen Ziel- und Instrumentenvorschlägen des sozial-ökologischen Szenarios folgen kann, möchte ich deshalb zu einigen Gesichtspunkten Widerspruch anmelden oder weiterreichende Perspektiven diskutieren.

So ist zum Beispiel die Kritik des DIW am Konzept Bürgergeld beziehungsweise negative Einkommensteuer durchaus nachvollziehbar: hohe Kosten (rund 60 Milliarden Euro), Verdrängungseffekte zu Lasten gering qualifizierter Arbeitskräfte, Orientierung auf ›Verknappung des Arbeitsangebots‹ und die sich daraus ergebenden Fallen für die Betroffenen. Die Tobinsteuer ist im sozial-ökologischen Szenario im Gegensatz zu den ursprünglichen Vorschlägen ihres Erfinders sehr niedrig bemessen. Gewichtiger erscheint mir jedoch das langsame Tempo der Arbeitszeitverkürzung. Die letzte Runde der Arbeitszeitverkürzung in Deutschland in der Metall- und Druckindustrie von 1984 bis 1995 brauchte immerhin nur elf Jahre, um die Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden zu senken. Vielen Beobachtern erschien dies schon damals als ein zu langer Zeitraum. Die Beschäftigungseffekte eines entschiedeneren Tempos bei der Arbeitszeitverkürzung dürften deutlich höher liegen, als der recht gemäßigte Szenarioansatz vermuten läßt. (S)

›Der Arbeit wieder ein menschliches Maß geben‹ und ›Kürzer arbeiten, besser leben‹ sind deshalb zentrale Leitmotive für eine neue Vollbeschäftigungspolitik. Die bloße Erhöhung der Teilzeitangebote schafft nicht die Bedingungen für eine reale Gleichstellung der Frauen. Die Alternative lautet: kollektive Arbeitszeitverkürzung. Ein genereller 6- oder 5-Stunden-Tag mit existenzsichernder Entlohnung und voller sozialer Absicherung schafft die Möglichkeit, daß Frauen wie Männer sowohl gleichberechtigt am Erwerbsleben teilnehmen als auch Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeiten zu gleichen Teilen schultern können. Der Ausbau des Angebots an Kindergärten, Ganztagsschulen und Pflegediensten ist erforderlich, um die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und persönlicher Lebensführung umfassend sicherzustellen und so eine gleichberechtigte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zu ermöglichen. Die Öffnungszeiten von öffentlichen Diensten, Bildungs-, Sozial- und Kultureinrichtungen müssen an die veränderten Arbeitszeitmuster angepaßt werden.

Kollektive Arbeitszeitverkürzung bedeutet nicht, daß auf individuelle Arbeitszeitwünsche keine Rücksicht genommen wird. Es gilt, weitergehende individuelle Freistellungsansprüche und ›Wahlarbeitszeiten‹ arbeits- und sozialrechtlich und tarifvertraglich abzusichern: zum Beispiel das Elternfreistellungskonto, das Weiterbildungsjahr oder die Weiterbildungsteilzeit, das Sabbatjahr, Alters- oder Berufseinsteigerteilzeit, freiwillige sozial gesicherte Teilzeit um 20 Wochenstunden etc. Dies beinhaltet auch ein garantiertes Recht auf Rückkehr zur Vollzeiterwerbstätigkeit für alle Teilzeiterwerbstätigen und Freigestellten. Teilzeitarbeit und Freistellungen dienen so auch als Brücke zu einem neuen Normalarbeitsverhältnis.

Vor dem Hintergrund der heutigen betriebsbedingten Flexibilisierungsmodelle hängt der beschäftigungspolitische Erfolg ganz entschieden vom ›Wie‹ der Arbeitszeitverkürzung ab. "Beschäftigungspolitisch macht es einen gewaltigen Unterschied, ob ein Betrieb mit einem Durchschnitt von 35, 40 oder 45 Stunden atmet", bemerkt Gerhard Bosch. 13

Weiterhin gilt es, Leistungsverdichtung in der Arbeit als Folge kürzerer Arbeitszeiten zu verhindern (Rationalisierungsschutzklauseln in Tarifverträgen, humangerechte Arbeitsorganisation, Stärkung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, Zielvereinbarungen mit genügend ›Luft‹ zur Bewältigung unvorhergesehener Entwicklungen). Für besonders belastende Tätigkeiten (zum Beispiel Schicht-und Nachtarbeit, Mehrfachbesetzungssysteme, Springertätigkeiten) mit erhöhten gesundheitlichen Risiken sollten die Arbeitszeiten mit einem Gewichtungsfaktor versehen werden. Für die betroffenen Beschäftigten ergäbe dies weiter verkürzte Arbeitszeiten und erhöhte Zeitausgleich-Zuschläge bei Mehrarbeit. Arbeitszeitverkürzung kann so mit Maßnahmen zur Humanisierung der Erwerbsarbeit verknüpft werden. Zumindest für die unteren und mittleren Erwerbseinskommensgruppen muß ein voller (für die mittleren ein gestaffelter) Lohnausgleich die Arbeitszeitverkürzungen begleiten. (T)

Weitere Unklarheiten im ökologisch-sozialen Szenario der Hans-Böckler- Stiftung entstehen durch das vage Konzept der ›Mischarbeit‹, das Erwerbsarbeit, Versorgungsarbeit und freiwilliges Engagement umfaßt. Dies betrifft zum einen den konstatierten Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft und die daraus erwachsenden Herausforderungen. Betrachtet man die Entwicklung der Erwerbsstrukturen in Deutschland, so ist mittlerweile die deutliche Mehrheit der Tätigkeiten im tertiären oder Dienstleistungssektor zu finden. Ich stimme Martin Baethges Analyse zu, daß in Deutschland "sich diese Tätigkeiten, auch wenn es sich um Dienste handelt, im institutionellen und normativen Rahmen industrieller Produktion vollzogen und entwickelt haben. Das heißt, daß sie keine eigenständigen Muster der Spezialisierung und Arbeitsorganisation, keine eigenständigen Qualifizierungsnormen und Interessenvertretungsorganisationen, keinen eigenen Begriff von Effizienz und Produktivität ausgebildet haben." 14 Letzteres wird zum Beispiel im Bereich der Pflegedienste deutlich, wenn für das Waschen, Kämmen, Rasieren etc. Zeitvorgaben im Stil der tayloristischen Arbeitsorganisation gemacht werden und die für die Qualität und auch ›Effizienz‹ dieser Arbeit nötige emotionale Zuwendung oder das Gespräch aus dem Raster herausfallen.

Der stark von Frauenbeschäftigung geprägte Dienstleistungssektor ist zu großen Teilen nicht in das duale Ausbildungssystem integriert, verfügt kaum über geschützte Berufsbezeichnungen und dadurch definierte Qualifikationsprofile, es fehlt weitgehend jede Brückenfunktion zwischen Erstausbildung und Weiterbildungen und es gibt einen hohen Anteil von vollzeitschulischen Ausbildungsangeboten unterschiedlichster Ausprägung, oft ohne Ausbildungsvergütung und mit beträchtlichen Schulgeldforderungen. Gesellschaftliche Gestaltung der Dienstleistungsarbeit erfordert eine Orientierung auf Qualität, die Überführung der Dienstleistungsausbildungen in Ausbildungsberufe nach Berufsbildungsgesetz und den Abschied von der unbezahlten Aneignung von Qualifikationen, die auf mitgebrachten ›weiblichen Sozialisationseffekten‹ beruhen. Erst so kann ein egalitäres Modell von Geschlecht und Arbeit zum Tragen kommen. (U)

Es scheint durchaus realistisch, den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft auf eine Hochqualifikation beziehungsweise Hochpreisstrategie zu stützen. So war der Bereich qualifizierter Dienstleistungen (Ingenieursleistungen, Untersuchungslabors, EDV-Dienstleistungen, Rechts-, Steuer- und Unternehmensberatung etc.) in den neunziger Jahren der dynamischste Bereich mit hohen Beschäftigungszuwächsen. Betrachte ich die Forderung nach dem Ausbau ›ökoeffizienter Dienstleistungen‹, so stellt sich hier die besondere Herausforderung zur Herausbildung entsprechender Qualifikationsprofile und Managementfähigkeiten, die das für diese Dienstleistungsart charakteristische Zusammenspiel von Dienstleistern und qualifizierten Facharbeitern beziehungsweise Handwerkern ermöglichen. Innovation, Qualifizierung und Qualität der Arbeit lassen sich auch in diesem Bereich nur dann gewährleisten, wenn die Tätigkeiten gut bezahlt sind.

Der Übergang zur ›Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft‹ muß nicht notwendig dazu führen, daß die niedrig Qualifizierten dauerhaft aus der Arbeitsgesellschaft ausgeschlossen werden. Zum einen wird der Anteil gering qualifizierter Arbeitskräfte mit der Zeit abnehmen. Bei den Jugendlichen in der Bundesrepublik liegt er derzeit bei rund zehn Prozent. Diese Quote wird sich auch durch noch so viele Qualifikationsangebote kaum mehr drastisch verringern lassen. Doch auch für Geringqualifizierte gilt: Arbeitsplätze lassen sich angereichert und weniger monoton gestalten, voller tarif- und sozialrechtlicher Schutz und existenzsichernde Einkommen sind unabdingbar. Neue Beschäftigungspotentiale können durch den ökologischen Umbau entstehen: eine Chemiewende in Richtung einer neuen Pflanzenchemie oder die Energiegewinnung aus gasifizierter Biomasse erfordern zum Beispiel Arbeiten, die auch mit niedriger Qualifikation geleistet werden können (Abernten der Pflanzen, Pelletieren von Biomasse etc.). Andere Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen durch den Ausbau der ökologischen Landwirtschaft oder bei Recyclinghöfen sowie in Forstwirtschaft und Naturschutz. Weitere Alternativen bietet der Ausbau eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors. Der Weg in eine ›Dienstbotengesellschaft‹ von schlechtbezahlten Tüteneinpackern, Fahrstuhlbegleitern und Kundenbegrüßern ist weder die beste noch die einzige Alternative.

Demgegenüber bietet das ökologisch-soziale Szenario der Hans-Böckler- Stiftung durch die Kombination von Bürgergeld beziehungsweise negativer Einkommensteuer, ›Eigenarbeit‹ und möglicher geringfügiger Beschäftigung ein Einfallstor für die weder sozial- noch innovationspolitisch tragfähige Niedriglohnstrategie. Dies ist den Autorinnen durchaus bewußt, doch sie schieben die Verantwortung allein auf die Gewerkschaften ab. Diese sollen das Problem mit Mindestlöhnen und Flächentarifverträgen entschärfen. Daß eine andere Entwicklungsrichtung des gesamten Dienstleistungssektors und entsprechende staatliche Rahmensetzungen vonnöten sind, wird bis auf wenige Bereiche nicht thematisiert. (V)

›Vollbeschäftigung neuen Typs‹ kann nur gelingen als umfassende Transformation der Arbeitsgesellschaft - sowohl in der Sphäre der Erwerbsarbeit als auch der unbezahlten Versorgungsarbeit. Sie ist gebunden an eine Perspektive der nachhaltigen Entwicklungen in ihren drei Dimensionen - ökonomisch, sozial und ökologisch. Darin geht es nicht mehr vorrangig um mehr Wirtschaftswachstum, sondern um Verteilung und umweltverträglichen Wohlstand für alle. Wie das Projekt Arbeit und Ökologie der Hans-Böckler-Stiftung herausgearbeitet hat, erscheint sie als ein machbares Ziel. Sie benötigt eine Mehr-Ebenen-Strategie - alternative gesamtwirtschaftliche Politik auf europäischer und nationalstaatlicher Ebene, Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung, Gleichstellung der Frauen, alternative Arbeitsmarktpolitik und dauerhaft öffentlich geförderte Beschäftigung, ökologischen Strukturwandel und Bildungspolitik für die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen und partizipatorische Arbeitsorganisation - und damit eine umfassende Gesellschaftspolitik. Sie folgt einem erweiterten Begriff von ›sozialer Gerechtigkeit‹, wie ihn Axel Honneth umschrieben hat. Vollbeschäftigung verkommt zur leeren Worthü^lse, wenn sie nicht eng mit der Sicherung der Integrität der sozialen Lebensverhältnisse verwoben ist.

André Brie - Jg. 1950; Dr. phil., von 1976 bis 1990 Politikwissenschaftler am Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam, von 1990 bis 1999 Wahlkampfleiter der PDS, seit Juli 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments.

1 So beispielsweise die am 15. Januar 2002 veröffentlichte "Mitteilung der Kommission für den Europäischen Rat auf seiner Frühjahrstagung in Barcelona", KOM (2002)14 endgültig, Brüssel, den 15. Januar 2002.

2 Daten nach Bourdin-Bericht an den französischen Senat zu den makroökonomischen Perspektiven 2000 - 2005, Paris, 15. November 2000.

3 Gerhard Bosch: Anmerkungen zum Neuen Bericht an den Club of Rome: Wie wir arbeiten werden, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, DIW 1998.

4 Carola Möller: Die gesellschaftliche Gesamtarbeit neu gestalten, in: Das Argument 226, 1998.

5 Vgl. Orio Giarini, Patrick Liedtke: Wie wir arbeiten werden, Bericht an den Club of Rome, Hamburg 1998.

6 Vgl. IPTS: Employment Map: Jobs, Skills and Working Life on the Road to 2010, December 1999.

7 Stuart Hall: The Great Moving Nowhere Show, in: Marxism Today, December 1998.

8 Eine eingehende Kritik des ›Fördern und Fordern‹-Ansatzes leisten Achim Trube und Norbert Wohlfahrt: "Der aktivierende Sozialstaat" - Sozialpolitik zwischen Individualisierung und einer neuen politischen Ökonomie der inneren Sicherheit; in: WSI Mitteilungen, 1/2001.

9 Vgl. Unbefristete Vollzeitbeschäftigung nach wie vor dominierende Erwerbsform in Europa, in: DIW-Wochenbericht, 9/2001.

10 Vgl. Flexible Arbeitszeit, in: Handelsblatt vom 20. April 2000.

11 Einen Überblick zur Flexicurity-Debatte bieten die WSI-Mitteilungen, 5/2000.

12 Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen: Berliner Memorandum, Berlin, November 1997.

13 Gerhard Bosch: Flexibilisierung der Arbeitszeit und Umverteilung von Arbeit, in: WSI Mitteilungen, 7/1996.

14 Martin Baethge: Der unendlich langsame Abschied vom Industrialismus und die Zukunft der Dienstleistungsbeschäftigung, in: WSI Mitteilungen, 3/2000.

(A) Zwischen den Vorstellungen des sozialdemokratischen Dritten Wegs und der konservativen Zukunftskommission sind die Gemeinsamkeiten zum Teil sogar groß: die Betonung der herausragenden Rolle unternehmerischer Initiative für ein starkes Wachstum, die Befürwortung eines Niedriglohnsektors, die Akzeptanz wachsender sozialer Ungleichheit durch eine "Modernisierung des Gerechtigkeitsbegriffs" (SPD-Grundsatzprogrammdebatte; Blair-Schröder-Papier), die Befürwortung fortgesetzter Marktliberalisierung für mehr wirtschaftliche Dynamik, die Teilprivatisierung der Gesundheitsvorsorge und der Rentenversicherung, die Schlüsselrolle der Förderung bestimmter Hochtechnologien in der Wirtschaftspolitik etc.

(B) Linke wie konservative Anhänger der These vom ›Ende der Arbeitsgesell-schaft‹ setzten übrigens gleichermaßen auf ›Ent-staatlichung‹ in den Sphären Wirtschafts-, Beschäfti-gungs- und Sozialpolitik. Frieder O. Wolf analysierte dies sehr klarsichtig: "Die Abspaltungsstrategie einer Befreiung von der Erwerbs-arbeit, die Propaganda von der künftigen Rolle der Arbeitnehmer als Unterneh-mer ihrer Arbeitskraft und das Askeseprogramm der Subsistenzökonomie ergänzten sich so aufs Vor-züglichste in dualwirtschaft-lichen Ausstiegs- und Armutsökonomie-Konzepten. Gemeinsam bildeten sie die Grundlage von Politik-entwürfen zur Ergänzung des für unabänderlich gehaltenen neoliberalen Programms der Gesell-schaftspolitik." Frieder O. Wolf: Voll-beschäftigung neu bestim-men, Berlin 1999.

(C) Zwischen 1961 und 1993 wäre im Durchschnitt ein Wachstum von 3,3 Prozent notwendig gewesen, um die Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt zu senken. Zwischen 1982 bis 1993 wäre lediglich ein Wachstum von 2,6 Prozent erforderlich gewesen, für 2000 wird von einer ›Beschäftigungsschwelle des Wachstums‹ von rund zwei Prozent ausgegangen. Weeber kommt vor diesem Hintergrund zu dem Schluß: "Die Entkoppelung zwischen Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsmarkt kann deshalb strukturell nicht bestätigt werden." J. Weeber: Wachstum ohne Beschäftigung?, in: WSI-Mitteilungen, 9/1995, S. 598 ff.

(D) Für die Entwicklung von 1974 bis 1998 läßt sich feststellen, das jede Rezession einen höheren Sockel an Erwerbslosen schuf, so daß die Zahl der registrierten Arbeitslosen von 1975 (1,1 Mio.) über 1985 (2,3 Mio.) bis 1997 (4,5 Mio.) immer höher stieg. Ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Entwicklung seit 1990 ist zweifellos der Zerstörung der Wirtschaftsbasis Ostdeutschlands im Gefolge der Vereinigung zuzuschreiben.

(E) Die gegenwärtig in Wissenschaft und Medien geführte Debatte um beschäftigungspolitische Vorbilder erinnert in manchen Aspekten an den erbittert geführten Diskurs der sozialistischen Linken in den sechziger und siebziger Jahren, ob denn nun das sowjetische, chinesische, albanische, jugoslawische, kubanische Beispiel oder der ›Reformkommunismus‹ Dubc¢ eks das bessere Modell für den Sozialismus abgeben. Wo es fast nur noch darum geht, was am besten im eigenen Land vom jeweiligen Referenzmodell kopiert werden soll, bleibt grundlegend innovatives, eigenständiges Denken und die Suche nach der eigenen Situation angemessenen Lösungswegen leicht auf der Strecke.

(F) "Während in der Erwerbsgesellschaft die Erwerbsarbeit dominiert, sind in einer Tätigkeitsgesellschaft die drei Elemente der Triade der Arbeit (Erwerbsarbeit, Private/Öffentliche Eigenarbeit, Bürgerschaftliches Engagement - AB.) relativ gleichwertig und es bestehen zwischen ihnen Durchlässigkeiten und fließende Übergänge. (...) Arbeitslose sind in einer Tätigkeitsgesellschaft nicht arbeits-, sondern erwerbslos, denn sie können prinzipiell in allen anderen Arbeitsbereichen tätig sein." Gerd Mutz: Tätigkeitsgesellschaft, in: Politische Ökologie, Nr. 54 (Mai/Juni 1998), S. 59.

(G) Gerhard Bosch gibt den Wert der Eigenarbeit, gemessen am zeitlichen Input, mit 43 Prozent (+/-10) des Bruttosozialprodukts an (Gerhard Bosch: Anmerkungen zum Neuen Bericht an den Club of Rome: Wie wir arbeiten werden, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, DIW 1998). Er verweist allerdings darauf, daß der Arbeitsinput der Eigenarbeit ohne Bewertung seiner ökonomischen Effizienz gemessen wurde. Würde Eigenarbeit in Erwerbsarbeit umgewandelt, so wird sie rationalisiert und schrumpft im Volumen.

(H) Gerhard Bosch skizziert die Folgen der Umsetzung dieses Programms von Giarini/Liedtke zutreffend: "Durch die geforderte Deregulierung des ersten Arbeitsmarktes und die Erwerbspflicht für Rentner bis 78 Jahre würden das Arbeitsangebot ausgeweitet werden und die Löhne sinken. Da der Staat kaum für 10 oder mehr Millionen Personen sinnvolle Arbeit organisieren kann, würde das geforderte große Arbeitsbeschaffungsprogramm in Beschäftigungstherapie enden. Insgesamt kommt es bei einer Realisierung der Vorschläge von Giarini/ Liedtke zu einer Polarisierung der Gesellschaft." Gerhard Bosch: Anmerkungen zum Neuen Bericht an den Club of Rome: Wie wir arbeiten werden, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, DIW 1998.

(I) Als Potentiale dieser "Aktivierung" werden die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen, von älteren Arbeitnehmern (bis hin zur Lebensarbeitszeitverlängerung), der Erwerbslosen und eine verstärkte Einwanderung aus Drittstaaten diskutiert. Für die Informationstechnikbranche wird bereits für 2002 ein europaweiter Mangel von 1,6 Millionen qualifizierten Arbeitskräften festgestellt. Und auch bei Facharbeitern, Ingenieuren und Managementkräften gebe es in einer Reihe