Verfassungsverrat

Es gibt Alternativen zu Kriegsermächtigung und Bombardierung. Rot-Grün müßte nur wollen.

Die rot-grüne Regierungskoalition lässt der "uneingeschränkten Solidarität" mit den USA Taten folgen: In der Neuauflage eines Ermächtigungsgesetzes soll der Bundestag den Einsatz von 3.900 Soldaten an die afghanische Front bewilligen, wo auch immer sich diese Front konkret befinden mag. In der Berliner Republik wird nicht nur die Außen- und Militärpolitik der Bonner Vorgängerin komplett umgekrempelt ? nach den die demokratischen Strukturen verändernden "Sicherheitspaketen" nimmt jetzt auch die Deformation des Grundgesetzes eine neue Qualität an.

Bislang ist der Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes nicht möglich, sondern unterstellt ? wie das Bundesverfassungsgericht unterstrichen hat ? eine UN-Mandatierung und einen entsprechenden Beschluss des Bundestages. Schon bei der Beteiligung der Bundeswehr am Krieg auf dem Balkan ist die Rechtslage großzügig interpretiert worden. Jetzt fordert die Regierung ? aus eigenem Kalkül, nicht aufgrund detaillierter Anforderungen seitens der USA, wie deren Verteidigungsminister ausplauderte ? den Einsatz eines Militärkontingents in einem Gebiet, das ein Drittel der Weltkugel umfasst, zu Zwecken, die bewusst im Dunkeln gehalten werden. Getreu dem Motto, dass im Krieg die Stunde der Exekutive schlägt, behält sich der Kanzler als oberster Heerführer alle Entscheidungen vor. Für die kommende Legislaturperiode ist schließlich ein Entsendegesetz für die Bundeswehr geplant, womit die Aushebelung der Schranken für den deutschen Militarismus im Grundgesetz und durch das Parlament vollständig wird. Bis es soweit ist, praktiziert man die gleiche Politik wie beim Bundeswehreinsatz im Kosovo: die Öffentlichkeit wird systematisch belogen, dissidente Abgeordnete und Parteigliederungen massiv unter Druck gesetzt.

Es ist wahrlich eine großartige Leistung, dass Bündnis 90/Grüne innerhalb einer Legislaturperiode nicht nur ihre eigene gesellschaftspolitische Programmatik weitgehend ignorieren konnte, sondern dass unter ihrer Regierungsbeteiligung die entscheidenden Schritte zur Austreibung der im Grundgesetz und in der Republik verbliebenen Reste einer friedenspolitischen Orientierung vollzogen wurden. Das Grundgesetz stellt Angriffskriege unter Verbot. "Vorwärtsverteidigung" bleibt auch unter Verweis auf die Herausforderung durch den Terrorismus verfassungswidrig. Die Republik ist auf internationale Schiedsgerichtsbarkeit und kollektive Sicherheit verpflichtet. Die Teilnahme von BundesbürgerInnen an militärischen Kampfhandlungen, die nicht als bloße Verteidigung eindeutig erkennbar sind, ist Verfassungsverrat.

Mit Ausnahme der PDS und einiger KriegsgegnerInnen aus den Reihen der rot-grünen Fraktionen wird der Bundestag dieser Abtreibung des Friedensgebotes und seiner eigenen Selbstentmündigung zustimmen. Dies ist eine historische Zäsur. Die gängigen Argumente zur Legitimierung eines Krieges unter Beteiligung deutscher Militärs entlarven nur die Verfassungsverräter:

1. Es gehe um eine legitime Selbstverteidigung gegen einen Angriff seitens der Al Qaida-Gruppe unter ihrem Führer Bin Laden. Abgesehen davon, dass Beweise, die die Täterschaft des Bin Laden-Netzwerks eindeutig belegen, bis heute nicht vorliegen, ja selbst die US-Regierung mittlerweile von mehreren Tätergruppen (welchen?) sprechen, lautet der Einwand: Es ist unhaltbar, den Fall der Selbstverteidigung eines Staates und den Eintritt eines Bündnisfalles (Angriff gegen die NATO) aus dem entsetzlichen Anschlag abzuleiten und damit Afghanistan und die dort Lebenden Menschen mit einem langwierigen Krieg zu überziehen.

2. Afghanistan sei ein terroristischer, faschistischer Staat, in dem das Lebens- und Selbstbestimmungsrecht der Ethnien, der Menschen, vor allem der Frauen und Kinder, massiv missachtet werde. Richtig: Das Taliban-Regime müsste durch wirksamere Sanktionen der internationalen Staatengemeinschaft massiv unter Druck gesetzt werden. Aber etliche Bündnispartner wie die Nordallianz und Partner der weltweiten Koalition gegen den Terror (sowohl in Asien als auch in Nahost) sind im Hinblick auf Menschen- und Bürgerrechte sowie der rechtsstaatlichen Ordnung kaum einen Deut besser.

3. Selbst die Arabische Liga habe doch Bin Laden und seine Gruppierungen zu einem Feind der Welt erklärt. Das ist richtig. Aber der Generalsekretär der Arabischen Liga hat im gleichen Atemzug mit der Verurteilung des fundamentalistischen Islamismus sich gegen die Ächtung anderer politischen Gruppierungen als Terrororganisationen durch die "westliche Staatengemeinschaft" ausgesprochen. Gerade die gemäßigten Muslime und Koalitionspartner gegen den Terrorismus rufen nach einem gemeinsamen Auftreten gegenüber dem Westen, um den friedlichen Charakter des Islam zu verteidigen. Es ist nicht zu überhören, dass der Krieg in Afghanistan bei vielen Arabern und Muslimen als Ausdruck einer rassistischen Kampagne des Westens gegen die Araber und den Islam eingeschätzt wird.

Alle guten Vorsätze und Überlegungen über einen "Post-Taliban-Prozess" können nicht vergessen machen: Jetzt wird unter Beteiligung deutscher Militärs Krieg gegen die Bevölkerung eines Landes geführt. Diese unakzeptable Unterstützung eines Militäreinsatzes der USA wird nicht dadurch erträglicher, dass man sich einen mäßigenden Einfluss auf die eigentlich kriegsführende Nation verspricht. Hier wie für die anderen Felder rot-grüner Regierungspolitik gilt: Es gibt sehr wohl Alternativen! Der Terrorismus kann politisch isoliert werden; unter dem Dach der Vereinten Nationen kann dem Völkerrecht durch polizeiliche Aktionen Geltung verschafft werden; für humanitäre Hilfen der notleidenden Bevölkerung und der Flüchtlinge ist es noch nicht zu spät; eine internationale entwicklungspolitische Zusammenarbeit muss umgehend angeschoben werden. Doch das setzt voraus: sofortige Einstellung der Bombardements, Stopp des Krieges.