Pluralität oder Pluralismus?

Man mag es begrüßen oder bedauern: Die theoretische Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Strömungen in der PDS dauert an und wird sich wohl auch weiter zuspitzen.

Vorbemerkung

Man mag es begrüßen oder bedauern: Die theoretische Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Strömungen in der PDS dauert an und wird sich wohl auch weiter zuspitzen. Um dies zu wissen, muß man nicht unbedingt die Weißenseer Blätter lesen, auf deren Ausgabe 2/2001 selbst der Spiegel (32/2001) aufmerksam geworden ist. Der Schwarze Kanal ist wieder auferstanden - nur diesmal innerhalb der PDS, und er richtet sich gegen bestimmte Positionen, die innerhalb der Partei vertreten werden. Bezweifelt werden muß jedoch, daß sich solche Spannungen mit Hilfe des Denkmodells Pluralismus aushalten lassen. Dieses Konzept ist allerdings bisher noch nicht ausreichend entwickelt und angewendet worden, so daß es sich lohnt, das Thema systematisch zu entwickeln.

Pluralität oder Pluralismus?

Gelegentlich erfährt man, daß die PDS eine pluralistische Partei sei. Allzu oft geschieht das jedoch nicht, und wenn, dann in der Regel so unreflektiert, als ob dies die normalste Angelegenheit der Welt wäre. Der Terminus selbst taucht im gültigen Parteiprogramm von 1993 nicht auf, nur im Statut findet er ausdrücklich Erwähnung. Im Entwurf der Programmkommission wird der Pluralismus-Begriff explizit verwandt, die Kommunistische Plattform spricht von "pluraler Partei". Bei anderen Kritikern des Programmentwurfs des Vorstandes wird diese Problematik nicht genannt, geschweige denn erörtert.

Was ist eine pluralistische beziehungsweise plurale Partei? In allen Parteien gibt es verschiedene Auffassungen und also auch Diskussionen und Auseinandersetzungen - das kann es also nicht sein, es muß da schon um prinzipielle Fragen gehen. Dann kann Pluralität zu einem konstitutiven Prinzip - eben Pluralismus - werden. Demnach soll gerade aus der Auseinandersetzung zwischen prinzipiell gleichberechtigten Auffassungen, die den gleichen Anspruch auf Realitätsnähe erheben, das theoretische und das praktischpolitische Leben der betreffenden Partei gespeist werden.

Solche Pluralität darf dann jedoch auch nicht als Toleranz von ›Klugen ‹gegenüber ›weniger Klugen‹ mißverstanden werden. Dies genau beschreibt allerdings die Lage in der PDS: Jede der drei Plattformen oder Strömungen hält sich für die einzig Richtige, wohingegen die anderen angeblich entscheidende Fehler begehen. Da es jedoch gegenwärtig keine Chance für eine monistische, also einheitliche Konzeption in der Partei gibt, wird Pluralität quasi als notwendiges Übel akzeptiert. Überdies reserviert sich eine Gruppe Marxismus und die andere Kommunismus als Namen, so daß für die dritte Gruppe nur das eigentlich wenig aussagende Etikett Reformer übrig bleibt. Bereits das erscheint mir außerordentlich problematisch und man kann den Eindruck gewinnen, als würde der Parteivorstand das Verhältnis der PDS zum Marxismus für nicht so wichtig halten. Dafür spricht, daß im Entwurf der Programmkommission der Begriff Pluralismus im Zusammenhang mit der Möglichkeit genannt wird, daß auch Christen in dieser Partei wirksam werden können. Das heißt, Pluralismus wird also nicht als ein Prinzip in den Beziehungen von Marxisten untereinander verstanden.

Bisher dominiert also Pluralität in einer trivialen, diskriminierenden Form, und es ist schade, daß dies so ist. Dabei sollte eigentlich eine Partei, die sich als eine pluralistische versteht, Pluralität nicht nur angelegentlich anerkennen, sondern solche als durchgängiges Denk und Handlungsprinzip verstehen. Der Unterschied von Pluralität und Pluralismus besteht darin, daß Pluralismus Pluralität zum Prinzip erhebt und sie nicht einfach nur als (zumeist bedauerliche) Realität hinnimmt. Nun mag eine solche triviale Form des Zusammenexistierens verschiedener theoretischer und programmatischer Positionen sogar ihre Vorteile haben: Es wird (zunächst?) auf eine Entscheidungsfindung zugunsten der einen oder anderen Seite verzichtet, was in Zeiten theoretischer Unsicherheit und Krise durchaus vernünftig ist. Auch nach außen hin kann man bei besonders strittigen Themen auf ›bestimmte Mehrheitsverhältnisse‹ verweisen: Kommunistisch im eigentlichen Sinne sei die PDS nicht, da die Kommunistische Plattform in der Minorität sei. In Zeiten, da der Marxismus endgültig diskriminiert scheint, kann man dann auch den Marxismus einer Plattform innerhalb der Partei überlassen. Das mag also politisch  gegenwärtig opportun erscheinen, auf längere Sicht dürfte ein solches Konzept aber zu kurz greifen. Irgendwann wird sich die PDS in ihrer Mehrheit von den beiden genannten Strömungen trennen müssen, oder aber es gelingt, eine Bewegungsform jenes Widerspruches zu finden, die  praktischpolitisch wie theoretisch durchhaltbar ist - letzteres wäre wünschenswert. Ich komme also zu einem ersten Zwischenergebnis: Die PDS ist gar keine pluralistische Partei, sondern bestenfalls eine plurale. Dabei haben wir bisher weder die erforderliche Bewegungsform für das Austragen existierender theoretischer Meinungsverschiedenheiten noch etwa ein wirklich pluralistisches Konzept für eine künftige marxistische Theorieentwicklung gefunden.

Das ist möglicherweise überhaupt kein ernsthaftes Problem, denn mit der Pluralität ist es ein besonderes Ding: So richtig liebt sie doch keiner, und völlig zufrieden sind wir eigentlich doch erst dann, wenn alle dieselbe Meinung vertreten - auch dann, wenn wohl keiner zu den Zeiten der Einheitspartei (hier verstanden als Einheitlichkeit im Denken und Handeln unter Nichtzulassung verschiedener Plattformen) zurückkehren will.

Ist Pluralität modern oder postmodern?

Pluralität ist an sich bereits ein Problem und sie scheint allen denkbaren vernünftigen Wahrheitstheorien zu widersprechen. Es ist zugleich auch nur schwer vorstellbar, worin die praktischen Vorzüge von Pluralität liegen sollen. Wie kann Unterschiedlichkeit in theoretischem Herangehen und praktischer Politik die Handlungsfähigkeit einer Partei sichern?

Pluralität ist ein Begriff, der nicht so sehr der Moderne als vielmehr der sogenannten Postmoderne zugehört. Und wir haben - wie die Programmdiskussion zeigt - schon genügend Probleme mit dem ›Moderne‹ Begriff. Moderne ist ein Konzept von Gesellschaft, das eigentlich nichts anderes behauptet, als daß die menschliche Gesellschaft nicht von nicht ewig existierenden Strukturprinzipien bestimmt wird (zum Beispiel von den im Mittelalter gültigen). Vielmehr gibt es eine Entwicklung der Gesellschaft. Und in jeder Etappe dieser Entwicklung sollen jeweils ›moderne‹, das heißt, auf die jeweiligen Bedingungen bezogene Prinzipien Gültigkeit haben. Dieser noch sehr abstrakte ›Moderne‹Begriff hat schließlich eine Konkretisierung durch seine enge Kopplung an solche Konzepte wie Neuzeit und Aufklärung gefunden.

Die postmoderne Kritik an der Moderne wendet sich gegen einen rationalistischen Totalitätsanspruch einer bestimmten - speziell der naturwissenschaftlich technischen - Erkenntnisform und will die angeblich einzig und allein gültige "große Erzählung" (Lyotard) dadurch in ihre Schranken verweisen, indem gezeigt wird, daß es sich hier in Wirklichkeit auch nur um eine ›relativ gültige Erkenntnisform‹ handelt. An deren Stelle sollen verschiedene gleichberechtigte Sichtweisen treten, ohne daß damit die Moderne völlig verworfen werden soll. Vielmehr ist sie (wie eigentlich jede Denkform) einer ›Dekonstruktion‹ zu unterwerfen. Das bedeutet, es sind die Voraussetzungen jener Denkweise klarzustellen, ihre Wirkungsmöglichkeiten und zugleich ihre Grenzen sind zu diskutieren. Und das geht nur, wenn die jeweiligen Gegenstände nicht nur voneinander abgegrenzt, sondern auch aufeinander bezogen werden. Dann sind sogar Übergänge zwischen den verschiedenen Erkenntnisformen denkbar; Welsch nennt das "transversale Vernunft" und sein Konzept "postmoderne Moderne", um damit auch eine bestimmte Kontinuität sichtbar zu machen.1

Mag man in den Begriff der Moderne unterschiedliche Bedeutungen hineinlegen, eines haben sie alle gemeinsam: Die aus der Aufklärung stammende Vorstellung einer alle Lebensbereiche durchdringenden und sie dominierenden einheitlichen, rationalwissenschaftlichen Denkweise. Postmoderne Pluralität gilt dagegen gerade bei aufrechten und konsequenten Linken eher als theoretische und programmatische Beliebigkeit.2

Da wird von ›leichtsinnigem Surfen‹ und ähnlichem gesprochen. Plurales Denken ist also wie das Springen von Welle zu Welle - wie im Meer oder im Radio oder im Fernsehen.

Vor diesem Hintergrund erscheint die gegenwärtige Debatte um einen ›modernen Kapitalismus‹ auf den ersten Blick trivial. Jede Zeit benötigt jeweils einen ›modernen‹ Kapitalismus, der die adäquaten Verwertungsbedingungen des Kapitals sichert. Worum es den Kombattanten jedoch eigentlich geht, ist die Frage, ob die gegenwärtigen Entwicklungen einen ›modernen Kapitalismus‹ hervorzubringen vermögen, der so modern ist, daß er gleichzeitig Möglichkeiten für eine Eingrenzung des Wirkens der Kapitallogik hervorbringt und damit zivilgesellschaftlich politischen (also nicht unbedingt ›staatlichen‹) Einflüssen gegenüber offener wird. Eine solche Modernität ist offensichtlich Überlebensbedingung für die Menschheit. Wenn das der Fall sein sollte, ist die gegenwärtig im PDS-Parteivorstand dominierende Strategie sinnvoll; ansonsten nicht. Gleichzeitig kann man fragen, was denn die marxistische Alternative zu einer solchen Annahme sein könnte. Immerhin geht es um ein sich modernen Anforderungen verweigerndes Warten auf ein natürliches Ende von Kapitalismus und Kapitallogik per Selbstzerstörung oder das Hoffen auf eine erneute - wie auch immer geartete sozialistische - Revolution. Freilich kann man diese Problematik auch diskutieren, ohne explizit den ›Moderne‹-Begriff zu verwenden, und vielleicht sollte man sie damit auch nicht noch zusätzlich belasten.

Bei all diesen Schwierigkeiten erscheint es nun vielleicht als geradezu vermessen und verrückt, nun auch noch das Thema Postmoderne auf die Tagesordnung setzen zu wollen. Das wäre freilich wirklich nur sinnvoll, wenn es damit gelingen würde, den Gedanken von Pluralismus und Pluralität weiter voranzubringen und dabei speziell das für eine pluralistische Partei, wie sie die PDS sein will, anzuwenden und zu konkretisieren. Es gibt dafür mehrere Möglichkeiten, so zum Beispiel die Wiederaufnahme des Gedankens eines ›pluralen‹ Marxismus, die inhaltliche Diskussion bestimmter marxistischer Grundkonzepte und schließlich bestimmte wissenschaftstheoretische Versuche, die ›philosophische Grammatik‹ (Haug) der marxistischen Gesellschaftswissenschaften neu zu bestimmen.

Pluraler Marxismus

Beginnen wir mit Haug, für den ein pluraler Marxismus mit den Namen Lukács, Lefebre, MerleauPonty, Sartre, Althusser, Williams, Hill, Hobsbawm, Bloch, Benjamin, Horkheimer, Marcuse, Abendroth, Gollwitzer, Kofler; aber auch Adorno und Habermas und schließlich Otto Bauer, Gramsci, Mariategui, Allende, Nelson Mandela sowie Rudi Dutschke verbunden ist, und der seine Gedanken aus den achziger Jahren zu diesem Thema unlängst noch einmal dargestellt hat.  3

Haug verband und verbindet sein Konzept eines pluralen Marxismus mit Veränderungen in der Produktionsweise (Übergang vom Fordismus zum Toyotismus), mit der spätestens schon zu Beginn der achtziger Jahre historisch und strukturell endgültig überholten Führungsrolle der KPdSU, mit dem Thema Zivilgesellschaft versus sozialistische, über der Gesellschaft stehenden Staatlichkeit und nicht zuletzt mit dem Auftreten neuer historischer Subjekte und Aktionen (Frauen, Umweltbewegung, ›Dritte Welt‹). Selbst wenn der damalige Versuch, die nicht mehr zu übersehende äußere Vielfalt in den sozialen Bewegungen durch eine innere Vielfalt im Marxismus selber zu ergänzen, schnell abgeschmettert und dann auch nicht weiter verfolgt worden ist, ist nach Haug das Thema - selbst unter Berücksichtigung der offenkundigen Tatsache, daß ein vergleichbarer orthodox-marxistisch-leninistischer Führungsanspruch nicht mehr existiert - nur scheinbar erledigt. Die damals begonnene erkenntnistheoretische Kritik am naiven Abbildungskonzept des Marxismus-Leninismus wie auch die Metaphysikkritik am Marxismus mit seinen immer noch vorhandenen Hegelianismen müsse zu einer neuen ›philosophischen Grammatik‹ des Marxismus hingeführt werden. Der Pionier einer solchen gegen den kriegskommunistisch geprägten Marxismus gerichteten Alternative einer Theorie der Praxis sei Antonio Gramsci 4

. Dieser Marxismus wäre wirklich modern, insofern er auf die aktuellen Fragen nach Antworten sucht.

Doch zunächst kann gefragt werden, warum am Konzept eines pluralen Marxismus festgehalten werden soll - wo es doch ausreichen könnte, nun einen theoretisch sauber begründeten und zugleich praktikablen Marxismus zu entwickeln? Auch habe Gramsci die Autonomie des Marxismus gegenüber allen Philosophien und Religionen hervorgehoben und ein Implementieren ›heterogener Stützen‹ abgelehnt. Die Lösung dieses komplizierten Problems kann darin liegen, daß unter Marxismus nicht einfach die Wiederholung der marxistischen Grundauffassungen verstanden wird, sondern die Fähigkeit, diesen Auffassungen zu ›folgen‹ und dabei immer neuen Bedingungen gerecht zu werden.5

Das schließt zugleich ein, die Dialektik auch auf den Marxismus selbst anzuwenden. Resultat ist ein pluraler Marxismus, der verbietet - die von niemandem mehr bestreitbare Faktizität der Pluralität im Marxismus akzeptierend -, andere Richtungen aus dem Marxismus auszuschließen. Selbst der Gedanke einer Pluralität des Marxismus muß dabei zur Disposition stehen, wobei dieser nicht Beliebigkeit heißen soll, sondern immer eine Forderung nach der Verknüpfung von Einheit und Pluralität darstellt. Ein solcher Marxismus müsse ein ›demokratisch-sozialistischer‹ sein.

Angesichts des Auseinandertretens der einen Vernunft in eine Vielzahl von Rationalitätstypen 6

gebe pluraler Marxismus die Einheit nicht auf, verstehe sie jedoch als immerwährende Aufgabe. An kulturelle Unterschiede, an die verschiedenen Sphären der Gesellschaft mit ihren jeweiligen ›Logiken‹ dürfe nicht reduktionistisch, also auch nicht ökonomistisch herangegangen werden.7

Pluralität ist nicht gleich Pluralität

Bei Haug wird aus meiner Sicht allerdings nicht deutlich genug, wodurch sich heute verschiedene Formen des Marxismus unterscheiden könnten und wie unterschiedliche Bedingungen für verschiedene soziale Akteure sowie deren Aktivitäten nun auch theoretisch manifest werden sollten.8

Man kann auf einem zweiten Denkweg versuchen, das Konzept einer Pluralität des Marxismus zu vertiefen und die These formulieren, daß Pluralität nur denkbar ist als Modellvielfalt auf der Grundlage bestimmter einheitlicher Auffassungen und von daher zu entwickelnder theoretischer und programmatischer Konkretionen.

Vorstellbar ist ›theoretische Pluralität‹ auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen. Offensichtlich ist es ein Unterschied, ob wir in einer Partei wie der PDS von einem Pluralismus sprechen, der die Beziehung von demokratischem Sozialismus und Religion betrifft (Fall 1) oder ob es um die Beziehung verschiedener marxistischer Auffassungen selber gehen soll (Fall 2). Wenn es eine Pluralität im Marxismus geben soll, dann muß es etwas geben, das die verschiedenen ›Marxismen‹ theoretisch zusammenhält.

Christen können demgegenüber für einen demokratischen Sozialismus eintreten, ohne daß es für sie zusammen mit den Marxisten ein gemeinsames theoretisches Fundament geben muß. Zwar können beide durchaus auch identische praktische Quellen besitzen, zum Beispiel das Streben nach Gleichheit zwischen den Menschen oder die Sorge um die Menschen in der früheren ›Dritten Welt‹ oder die Hervorhebung der Existenz auch von Allgemeinmenschlichem im Menschen (gegenüber einer reduktionistischen Position, die den Menschen nur als homo politicus und/oder homo oeconomicus nimmt). Aber es ist keine theoretische Einheit erforderlich, die dieses Streben für beide verbindlich macht und aus ein und demselben Grundprinzip herleitet. Jenes Prinzip ist vielmehr für jede der beiden Strömungen ein anderes - Gott oder der Mensch als höchstes Wesen für den Menschen.

Die Formulierung im Entwurf der Programmkommission: "Die PDS versteht sich selbst als einen Zusammenschluß unterschiedlicher linker Kräfte. Ihr Eintreten für einen demokratischen Sozialismus ist an keine bestimmte Weltanschauung, Ideologie oder Religion gebunden, sie ist eine pluralistische Partei demokratischer Sozialistinnen und Sozialisten. Die PDS Â… räumt Minderheiten das Recht und die Möglichkeit ein, ihre Überzeugungen und Ziele im Rahmen der Grundsätze und demokratischsozialistischen Orientierungen des Statuts und dieses Programms der Partei des Demokratischen Sozialismus fortgesetzt zu vertreten ..." ist zunächst einmal als ein ›Fall 2‹ identifizierbar.

Interessant ist dann aber die Formulierung, die Minderheiten in der Partei betreffend. Hier scheint es wirklich nur um Duldung zu gehen; die PDS muß in einer solchen Frage durch ein Programm beziehungsweise durch einen Vorstand repräsentiert sein, die Minderheiten solche Rechte einräumen. Es bleibt an dieser Stelle des Textes unklar, welche Minderheiten gemeint sind - sind es zum Beispiel jene schon genannten Christen (oder Grüne oder Unabhängige usw.) oder ist hier schon an die verschiedenen, alternativ zur Mehrheit im Vorstand operierenden Plattformen innerhalb der PDS und auch innerhalb eines, wenngleich nicht eindeutig bestimmten, aber wohl doch irgendwie vorhandenen theoretischen und programmatischen Rahmens im Sinne eines Konsenses gedacht?

Hier müßte nun ein Konzept von Pluralität im Sinne von ›Fall 2‹ greifen. Es kann nicht sein, daß die Beziehungen von ›Reformern‹ zu ›Marxisten‹ und ›Kommunisten‹ innerhalb der PDS den Beziehungen von Christen und - ja, wie wollen wir die bezeichnen? - ›demokratischen Sozialisten‹ in einem engeren, marxistischen Sinne gleichrangig sind? So richtig es ist, die Anerkennung von Materialismus, Marxscher politischer Ökonomie, Atheismus, Marxismus usw. nicht automatisch als ›Eintrittskarte‹ für die PDS gelten zu lassen, sondern sich auch gegenüber Verfechtern anderer Grundpositionen zu öffnen, so dürfte es dennoch in der PDS eine ganz bestimmte Wertschätzung gerade jener Grundprinzipien und -theorien geben.

Kann es so etwas wie theoretische Minimalforderungen geben?

Das Problem eines theoretischen Minimalkonsens steht auch beziehungsweise gerade für den Fall, daß es hinsichtlich grundlegender Annahmen nicht nur unter den Linken, insgesamt, sondern auch innerhalb der PDS selbst sehr unterschiedliche Auffassungen gibt - zum Beispiel hinsichtlich:

der Charakterisierung der gegenwärtigen bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft;

einer Differenzierung zwischen Kapitalismus und Zivilgesellschaft;

der Möglichkeit der Hervorhebung eines modernen Kapitalismus; der Verwendung des ›Moderne‹Begriffs im Parteiprogramm;

einer Orientierung der PDS, die sich als ›antikapitalistisch‹ versteht;

einer Wertung der Geschichte des Realsozialismus beziehungsweise der DDR;

einer Bestimmung des Verhältnisses von Gleichheit und Freiheit;

der Rolle des Privateigentums an Produktionsmitteln in der Gegenwart und einer möglichen Vergesellschaftung dieses Eigentums;

der Rolle der PDS als Opposition und gegenüber Tolerierungs und Mitregierungskonzepten;

der möglichen Beziehungen der PDS zur SPD;

der Zielbestimmung eines demokratischen Sozialismus und verschiedener Wege seiner Realisierung.

Das Problem der Pluralität im Sinne von ›Fall 2‹ besteht nun darin, daß die übergeordneten Prinzipien ziemlich abstrakt bleiben müssen, damit sie einen Konsens begründen können. Sicher kann der Gedanke von Marx, alle Verhältnisse seien umzuwerfen, in denen sich der Mensch als geknechtetes und ausgebeutetes Wesen wiederfindet, als ein solcher verbindender positiver Grundgedanke verstanden werden. Die näheren Bestimmungen hierfür sind dann zumeist ›negativer‹ Art, das heißt, sie sagen eher etwas darüber aus, was nicht sein soll - als darüber, was man wann und wie machen will. Ein demokratischer Sozialismus ist dann also kein autoritärer Sozialismus, wie ihn der sogenannte Realsozialismus hervorgebracht hat. Es kann nicht um die Umgestaltung der heutigen Gesellschaft über eine Verstaatlichung der Produktionsmittel gehen. Die führende Kraft einer solchen Umwälzung kann nicht mehr das Proletariat sein und erst recht keine kommunistische Partei neuen Typs. Das letztendliche Ziel ist kein egalitärer, gleichmacherischer Kommunismus, sondern eine Gesellschaft, in der die bisherigen Entwicklungsfortschritte der Menschheit aufbewahrt und fortgeführt werden. Schutz der Natur, Gleichberechtigung und Schutz von Minderheiten, Sicherung der sozialen Grundrechte in Verbindung mit den sogenannten individuellen Menschenrechten lassen sich wiederum positiv fordern - all dies in deutlicher Unterscheidung von den zumeist unzureichenden Ausprägungen oder gar Verletzungen dieser Prinzipien im ›realen Sozialismus‹. Und interessanterweise führt die positive Forderung nach einer untrennbaren Verknüpfung von Gleichheit und Freiheit bereits in der PDS zu Debatten und es gibt Gruppen, die darin eine Verletzung des Anspruches der Linken erblicken wollen, die Verfechter der Gleichheit unter den Menschen zu sein. 9Man müßte beziehungsweise könnte dann also bei der abstrakt gehaltenen Forderung nach einer Einheit von Gleichheit und Freiheit stehen bleiben und könnte sich dabei immer noch ausreichend von sozialliberalen Freiheitsentwürfen wie auch vom sozialdemokratischen ›Fairneß-Konzept‹ abgrenzen.

Wichtig ist jedoch, daß man sieht und akzeptiert, daß die eigentlichen Probleme dort beginnen, wo es darum geht, diese abstrakten Bestimmungen zu konkretisieren. Bei abstrakten Konsensbestimmungen kann man auf Dauer nicht stehen bleiben - auch nicht in einem Parteiprogramm. Wie weit man eine solche Konkretisierung und gegebenenfalls Offenlegung von Pluralität in einem solchen Programm treibt, ist ›Verhandlungssache‹, wobei auch taktische Optionen zu berücksichtigen sind. Eine solche Konkretisierung ist immer mit wachsender Kom plexität des betrachteten Gegenstandes, mit der Aufnahme von Wissen aus benachbarten Gebieten, mit der Berücksichtigung historischer Dimensionen und der in Frage kommenden historischen Subjekte zur Realisierung der genannten Zielstellungen verbunden.

Die hier interessierende theoretische Fragestellung ist nun die, ob es jeweils immer nur eine und einzig wahre oder richtige oder vernünftige oder praktikable Konkretisierung geben kann und muß. Die Ingenieurwissenschaften und andere ›angewandte‹ wissenschaftliche Disziplinen belegen, daß es deren jeweils mehrere geben kann, zwischen denen nicht nach dem klassischen Schema wahr/falsch zu entscheiden ist. Verschiedene Anwendungen sind auf der Grundlage identischer (physikalischer) Gesetze und technischer Prinzipien möglich, wobei deren Bewertung dann zum Beispiel nach politischen, ökonomischen, ergometrischen, ökologischen und ethischen Parametern und Werten erfolgen kann. Ob es sich bei den verschiedenen Konkretisierungen selber auch um speziellere theoretische Gebilde oder nur um Anwendungen von Theorien handelt, ist übrigens immer noch umstritten.

In den Geistes und Gesellschaftswissenschaften ist das sicher noch komplizierter, aber auch hier gilt es, eine Verbindung von Theoretischem und Praktischem herzustellen, wogegen es ›unmarxistisch‹ ist, die Theorie in ihrer Absonderung von der historischkonkreten Praxis rein und unveränderlich darstellen zu wollen. Gerade jene Verknüpfung ist es, die den Marxismus von traditioneller Philosophie und Gesellschaftswissenschaft unterschied und unterscheidet.

Auf der Suche nach einem Konsens: der Sozialismus-Begriff

Es gibt wenigstens zwei Problemfelder, wo - bevor man über Pluralität nachdenkt - bestimmte Prämissen zu klären wären, um einen denkmöglichen Konsens nicht zu eng und zu abstrakt werden zu lassen. Das ist einmal die Kapitalismus/Sozialismus-Problematik, und zum anderen die Frage nach der Bewertung der Geschichte des ›realen Sozialismus‹.

Interessanterweise wissen wir nicht so recht, in was für einer Gesellschaft wir leben, und wir wissen auch nicht so genau, in was für einer Gesellschaft die DDR-Bürger bis zur Wende gelebt haben. Hatten wir damals Sozialismus, haben wir heute Kapitalismus? Die Diskussionen, die unter anderem im Neuen Deutschland um den Sinn einer antikapitalistischen politischen Stoßrichtung in der Arbeit der PDS geführt werden, machen deutlich, wie wichtig diese Fragen sind. Leider scheint sich die Debatte im Kreise zu drehen - Fortschritte sind kaum sichtbar. Das liegt daran, daß wir glauben, eine erschöpfende Erklärung einer beliebigen Sache zu haben, wenn es uns gelingt, deren wesentliche Eigenschaft zu bestimmen. Herrschaft des Kapitals, Dominanz der Kapitallogik und des Marktes - das ist Kapitalismus. Und dann ist also diese Gesellschaft kapitalistisch, und wer diese Gesellschaft grundlegend verändern will, muß antikapitalistisch sein. Bezogen auf den Aspekt Dominanz der Kapitallogik ist das auch in Ordnung; freilich ist damit noch nichts darüber gesagt, wie diese Dominanz bekämpft beziehungsweise wie sie durch eine Entgegensetzung politischer Mechanismen eingeschränkt und ›gezähmt‹ werden soll. Wenn daraus von Gegnern der PDS eine Ablehnung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland konstruiert wird, liegt hier eine Verwechslung vor, die freilich auch bei Linken vorkommt: Eine, wenngleich wesentliche Eigenschaft wird für das Ganze genommen und die Veränderung dieser Gesellschaft auf die Beseitigung dieser Eigenschaft reduziert. Daß das im ›realen Sozialismus‹ nicht funktioniert hat, sollte ein wichtiges Argument dafür sein, die ›anderen‹ Eigenschaften der kapitalistischbürgerlichen Gesellschaft, speziell das bisher erreichte Maß an politischer Freiheit nicht geringer zu schätzen, als dies bei aller richtiger Kritik an deren Mechanismen, an ihren Defiziten und Einschränkungen gerechtfertigt ist.

Daraus ist im Umkehrschluß auch etwas zum ›Sozialismus‹-Begriff ableitbar: Die Verstaatlichung von Eigentum als zudem noch sehr unvollkommene Form von Vergesellschaftung reicht nicht aus, um dieser Gesellschaft insgesamt das Prädikat sozialistisch zuzuerkennen. Sozialismus kann nur als demokratischer Sozialismus real werden. Egal, wie man es nennt - zivilisatorische Errungenschaften, Freiheitsgüter, individuelle und politische Menschenrechte, es hat wenig Sinn, sie sozialen Menschenrechten, etwa dem Anspruch auf Arbeit oder soziale Gleichheit konfrontativ gegenüberzustellen. Letztendlich ist Gleichheit nur unter der Bedingung von Freiheit realisierbar. Und die Kritiker einer solchen Gleichrangigkeit könnten gefragt werden, ob der Sozialismus an zuviel Gleichheit oder zuviel Freiheit zugrunde gegangen ist?

Der Behauptung, wir hätten gar keinen Sozialismus gehabt - dem werden viele Aktivisten der sozialistischen Bewegung nicht zustimmen können. Tatsächlich haben viele wie Sozialisten gekämpft, gearbeitet und gelebt, auch ihre Gesundheit und ihr Leben für eine sozialistische Sache geopfert. Nun einfach zu sagen, sie seien einem Irrtum erlegen oder einem Betrug aufgesessen, ist mechanistisch und oberflächlich gedacht. Innerhalb des durch den Start der sozialistischen Bewegung, sagen wir hier: dem Kommunistischen Manifest und der Oktoberrevolution von 1917 und der durch das internationale Kräfteverhältnis gegebenen Rahmens haben sich in den sozialistischen Ländern - zum Teil auch gerade gegen Dogmatismus und Personenkult - Strukturen und Beziehungen zwischen Menschen herausgebildet, die als sozialistische gedacht und auch erlebt worden sind. Auch das hat etwas mit der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Bereiche zu tun, und - wenn man so will - es gab eben in der DDR nicht nur nichtsozialistische Nischen. Jenes sozialistische Bewußtsein konnte zwar die internationalen Bedingungen und auch die Herrschaft des Apparates nicht aufheben, aber es wurde in seiner Gesamtheit und erst recht in seinen individuellen Ausprägungen nicht direkt durch jene Bedingungen determiniert.

So ist erklärbar, wieso Tausende von Mitgliedern der späteren SED die Vereinigung von KPD und SPD nicht als Zwangsvereinigung erlebt haben, es ist erklärbar, wieso bei aller Plandiktatur und Plandiskussion in sozialistischen Betrieben mehr an Mitbestimmung erlebt worden ist als heute in ostdeutschen Betrieben. Und nicht zuletzt ist es nur so erklärbar, wieso Millionen den Marxismus-Leninismus als wissenschaftliche Weltanschauung ernst- und angenommen haben. Gleichzeitig ist zumindest an der Basis diese Situation auch immer als widersprüchliche empfunden worden und damit als veränderbar, entwicklungsfähig.

Auch hier haben wir es also mit dem Problem zu tun, Gesellschaften nicht einfach und nur von ihrem Grundmerkmal her zu definieren und zu erklären. Das gilt für den Sozialismus wie für den Kapitalismus gleichermaßen. In diesem Zusammenhang taucht natürlich auch die Frage nach den Vorzügen des Sozialismus auf. In einer detaillierten Besprechung von Uli Schölers Buch Ein Gespenst verschwand in Europa (Bonn 1999) durch Reinhard Mocek wird auch diese Frage berührt.10Schöler hatte gemeint, es habe solche Vorzüge im eigentlichen Sinne nicht gegeben, da sie sämtlich mit Nachteilen und grundlegenden Defiziten gekoppelt waren und damit quasi ›aufgehoben‹ worden seien. Während er die untrennbare Verbindung von Vorzügen und Defiziten betont (jeder Vorzug ist mit Nachteilen erkauft worden), will Mocek eine solche enge Verbindung nicht gelten lassen. Letzterer nennt wenigstens fünf Vorzüge, beginnend mit fehlender Arbeitslosigkeit bis hin zur verbreiteten Berufstätigkeit der Frauen in der DDR. Für Mocek ist dabei die enge Verknüpfung von sozialer Sicherheit und politischer Entmündigung nicht nachvollziehbar und ein entsprechender logischer Zusammenhang existiere nicht. Gleichzeitig vermißt Mocek in Schölers Argumentation den Nachweis entsprechender kausaler Zusammenhänge. Hier scheint Mocek einem Mißverständnis aufzusitzen, wenn er den entsprechenden logischen Zusammenhang auch noch kausal untersetzt sehen will. Einfach lineare Kausalzusammenhänge kann man in der Gesellschaft sowieso nicht finden Wenn es denn unbedingt um Kausalität gehen soll, so könnte man sagen: Es sind die sozialistischen Produktions wie Machtverhältnisse, die jene soziale Sicherheit und jene politische Entmündigung gleichzeitig hervorgebracht, also verursacht haben, wobei sich Sicherheit und Entmündigung dann wiederum gegenseitig bedingen, also durchaus auch in einen logischtheoretischen Zusammenhang gebracht werden können.11

Schon zu DDRZeiten hat Herbert Hörz diese Zusammenhänge mit dem Ausdruck Nachteile der Vorzüge bezeichnet und damit auch sichtbar gemacht, daß es sich nicht einfach um zwei verschiedene, nicht direkt aufeinander bezogene Faktorengruppen handelt. Es sind Nachteile der Vorzüge, sozusagen die Kehrseite der Medaille, also auch nicht etwas, das auch fehlen könnte, wenn man es nur geschickter anstellte. Ich habe bisher eigentlich auch eher die strenge Kopplung von Vorzügen und Defiziten gesehen: soziale Sicherheit auf Kosten individueller Verantwortung und Freiheit, Friedenssicherung durch Mauerbau, Vollbeschäftigung durch mangelnde Produktivität und ähnliches. Diese Kopplung dürfte auch unbestritten sein. Will man jetzt diese Kopplung relativieren, so ergeben sich dafür verschiedene Möglichkeiten. So kann man auf die lange historische Etappe des ›Realsozialismus‹ reflektieren und seine grundlegenden politischen, ökonomischen und kulturellen Ordnungsprinzipien in Rechnung stellen. Zwar enthielten diese kaum echte reformerische Korrekturmechanismen hinsichtlich einer Beseitigung der Defizite, aber sie ermöglichten immerhin die Ausprägung bestimmter sozialer Vorzüge. Sie gewannen auf diese Weise eine positive Bedeutung: wenigstens sie wurden hier realisiert (im Unterschied zur kapitalistischen und früheren ›Dritten Welt‹) und es ist heute immer noch ein Rätsel, wie man solche Ergebnisse in globaler Hinsicht wenigstens annähernd ohne die realsozialistischen Defizite realisieren könnte. Man könnte auch zu zeigen suchen, daß jene Defizite aus schlechter Politik hervorgegangen sind, die Vorzüge dagegen systemimmanent waren. Mit dieser Interpretation haben wir uns nicht nur einmal selber geholfen und wohl auch betrogen: Es gibt nichts, was man nicht noch besser machen könnte, auch den Sozialismus selber. Damit blieb die Hoffnung, eines Tages die Vorzüge ohne jene Defizite haben zu können. Letztendlich erwies sich diese Interpretation jedoch als falsch und sogar als kontraproduktiv, weil sie nicht ausreichend auf wirkliche qualitative soziale und politische Veränderungen orientierte (etwa: Demokratie in der Gesellschaft, Demokratie in der SED selber). Schließlich könnte man auch verschiedene sozialistische Staaten miteinander vergleichen und dann bestimmte Unterschiede ausmachen, so daß es vorstellbar ist, daß bei prinzipiell gleichen Defiziten die Vorzüge unterschiedlich ausgeprägt waren. (Mocek verweist dabei auf die Gewährleistung von Vollbeschäftigung in der DDR gegenüber der UdSSR). Das Beispiel Ungarn zeigt jedoch auch (nur jetzt in anderer Richtung), daß Freizügigkeit und soziale Sicherheit nicht gleichzeitig zu haben waren.

Alle diese Argumentationen machen erneut deutlich: Man muß unterscheiden zwischen einer nachträglichen Bewertung des ›Realsozialismus‹ aus heutiger Sicht und einer hermeneutischen Reflektion auf die im ›Realsozialismus‹ wirklich vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen wie individuelle Lebensläufe und die damalige Selbstinterpretation von DDR-Bürgern, sofern sie sich für diese Gesellschaftsform engagierten.

Aus heutiger Sicht mag das ganze Projekt Sozialismus von Anfang an als verfehlt erscheinen - und für eine solche Behauptung gibt es gute Gründe. Die Formulierung im Parteiprogramm von 1993, der Sozialismus in der DDR sei nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, müßte deshalb durch eine Aussage darüber ergänzt werden, unter welchen (anderen) Bedingungen, unter welchen früheren oder späteren ›Weichenstellungen‹ eine zum Sieg führende sozialistische Entwicklung hätte erfolgen können.

Die gegenwärtige Debatte um die sogenannten Entschuldigungen krankt nämlich auch an einer Einengung und Linearisierung unserer Interpretation von Geschichte. Die Auffassung, im August 1961 habe es keine vernünftige Alternative zum Mauerbau gegeben und auch die Westmächte hätten ihren gehörigen Anteil daran (durch ihre vorangegangene Berlin-Politik und durch die Entscheidung Kennedys) - so richtig sie auf diesen Zeitpunkt bezogen auch ist -, vergißt zunächst zum einen, daß es damals natürlich nicht nur um die Erhaltung des Friedens ging, sondern genauso um die Rettung des sozialistischen Systems in der DDR. Daß ein Schritt wie der Mauerbau dazu notwendig geworden war, weist auf enorme strukturelle Defizite des ›realen Sozialismus‹ hin und entsprach natürlich dem damaligen Konzept und Kalkül beider Seiten im Rahmen des Kalten Krieges. Zum anderen wird damit eine Geschichtstheorie angewandt, die nur scheinbar marxistisch ist und die unterstellt, es hätte historisch unbedingt zu jener Alternative Krieg oder Mauer kommen müssen. Es wird nicht berücksichtigt, daß vorangegangene Entscheidungen, zum Beispiel in den Jahren 1946, 1952, 1953 und sicher auch schon 1945, entscheidende Weichenstellungen für das Jahr 1961 dargestellt haben. Überhaupt müssen wir uns von quasi objektivistisch-fatalistischen Geschichtstheorien lösen, die lange Zeit als marxistisch-(leninistisch) galten und die von einer Unausweichlichkeit des Sieges des Sozialismus im Weltmaßstab ausgingen und die Gestaltungsmöglichkeiten von Politik nicht hinreichend in das Bild von den gesellschaftlichen Gesetzen integrierten.

Wie läßt sich faktische Pluralität theoretisch und methodologisch denken und entwickeln?

Vom traditionellen marxistischen Wahrheitsverständnis her kann es eigentlich keine Pluralität, und schon gar nicht im Marxismus, geben. Auch ein Bezug auf die sogenannte Relativität der Wahrheit hilft nicht wesentlich weiter, weil hier zunächst auch immer nur an eine Abbildungsmöglichkeit gedacht wird, die nur nicht zu jedem Zeitpunkt in absoluter Klarheit vorliegen kann.

Wenn Pluralität etwas sein soll, daß jenseits dieser zu einfachen Abbildkonstruktion existieren und gedacht werden kann, dann benötigen wir einen anderen Ausgangspunkt. Das ist offensichtlich das Abbildkonzept selber. 12 Dieses Konzept müßte wenigstens zwei grundlegende Aspekte enthalten. Die Vorstellung von Theorieentwicklung als Konkretisierung sowie die Integration praktischer Bedürfnisse in die Theorieentwicklung, und nicht nur deren Separation auf Anwendungsfälle der Theorie. Verschiedene Modelle im Marxismus beziehungsweise verschiedene Marxismen sind dann denkbar als Konkretisierung in unterschiedliche (theoretische) Richtungen und auf unterschiedlichen Ebenen einerseits und als Implementation verschiedener praktischer Bedürfnisse verschiedener sozialer Akteure in verschiedenen zeitlichen Horizonten andererseits.

Man kann davon ausgehen, daß niemand die eigentlich gewünschte Komplexität in der von ihm entwickelten Theorie adäquat erfassen kann (die doch eigentlich wünschenswerte sogenannte Allseitigkeit in der Betrachtung). Deshalb muß man sich in der Realität mit der Bevorzugung bestimmter Parameter, die dann für die Theoriebildung entscheidend strukurbildend werden, behelfen. Die Konsequenz ist, daß andere Parameter nur unzureichend berücksichtigt werden können. Das ist aber offensichtlich nicht einfach nur ein Mangel in Theorienbildungen, sondern eine entscheidende Voraussetzung, überhaupt etwas erkennen zu können.

Aber es bleibt offen, wie sich dann im Marxismus verschiedene Konzepte beziehungsweise wie sich verschiedene Marxismen außer durch den Rekurs auf abstrakte Ausgangsbedingungen aufeinander beziehen lassen. Hier gibt es entscheidende Defizite in der gesellschaftswissenschaftlichen Wissenschaftstheorie, die wohl auch damit zusammenhängen, daß wir über die von Haug geforderte neue philosophische Logik des Marxismus noch nicht verfügen.

Man könnte versuchen, das Prinzip der Komplementarität auch in der Gesellschaftswissenschaft anzuwenden - analog zur Komplementarität von Welle und Teilchen in der Mikrophysik oder der Beziehung von Ganzem und Teil in der Biologie und den dafür ›zuständigen‹ Forschungsrichtungen. Haben wir vielleicht eine Komplementarität von Gleichheit und Freiheit beziehungsweise den entsprechenden Kategorien, und sind zwei verschiedene marxistische Theorien möglich, die von je einer Kategorie ausgehen? Also vereinfacht gesagt: Je mehr auf Gleichheit reflektiert wird, um so weniger ist die Freiheit theoretisch faßbar - und umgekehrt?13

Das Thema Komplementarität ist bisher wissenschaftstheoretisch nicht sehr detailliert ausgearbeitet worden. Eine Ausnahme bildet allein die Arbeit von Manfred Wetzel, der eine Parallele von einer zyklischen Komplementarität unterscheidet.14 Es geht dann nicht mehr um ein einfaches entweder/oder, sondern um eine Verbindung von sowohl/ als auch und entweder/oder. In einer dialektischen Sprache könnte man das auch Negation der Negation nennen: Die erste Negation ist die Aufspaltung des Einheitlichen in seine Gegensätze, und die zweite Negation spiegelt den einen Gegensatz im anderen und erzeugt damit eine relativ gute Darstellung des Ganzen.

Das würde im Beispiel von Freiheit und Gleichheit bedeuten, dass wir anerkennen, beide Begriffe entstehen nur, indem wir eine ganzheitliche Wirklichkeit auseinanderreißen, in der beide Kategorien (irgendwie, theoretisch hier noch unbestimmt) zusammengehören. Dabei ist es möglich, die eine oder die andere Kategorie in das Zentrum der auszuarbeitenden Theorie zu stellen. Damit die dabei entstehende Konstruktion nicht tatsächlich einseitig und falsch wird, muß in einem nächsten Schritt diese Einseitigkeit aufgehoben werden. Das kann man zeigen, wenn es gelingt, die Möglichkeit der Existenz von Freiheit theoretisch an die Existenz von Gleichheit oder beziehungsweise die Möglichkeit der Existenz von Gleichheit an die Existenz von Freiheit zu koppeln. Es ist durchaus nicht so, daß die beiden entstehenden Theorien dann identisch werden. Sie besitzen je einen anderen Zentralbegriff. Auch werden sich beide Theorien auf unterschiedliche historische Situationen und Akteure beziehen können. Sicher ist es die Freiheit, die den Menschen vom Tier unterscheidet - und nicht die Gleichheit. In einer Zeit wie der heutigen, in der die Freiheitsgüter so unterschiedlich verteilt sind, kann dagegen die Forderung nach Gleichheit dominant sein.

Ähnliche unterschiedliche Theorieansätze wären dann zum Beispiel hinsichtlich des Verhältnisses von Ökonomie und Politik, von objektivem Gesetz und subjektivem Handeln, von Kapitallogik und Zivilgesellschaft usw. denkbar. Dabei kann man immer darauf hin arbeiten, solche verschiedenen Theorieansätze in einem immer komplexeren Modell zu verknüpfen.

Die bisher als dialektisch anerkannte Methode glaubte, beide Teilmodelle eines komplexen Gebildes exakt und vom Stellenwert her gleichermaßen in einer Theorie erfassen zu können. Von dieser Vorstellung werden wir uns wohl lösen müssen. Gelingt uns das, so müssen wir uns weder innerhalb der PDS von jemandem trennen noch unsere Probleme einfach zudeckeln.

1 Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1991.

2 Vgl. den Einladungstext zur LukácsKonferenz der RosaLuxemburgStiftung am 9. Juni 2001 in Leipzig.

3 Vgl. Wolfgang F. Haug: Dreizehn Versuche, marxistisches Denken zu erneuern, Berlin 2001.

4 Vgl. ebenda, S. 31 und 33.

5 Herbert Hörz hat dieses wohl gemeint, als er schrieb, wir müßten (als Marxisten) darauf achten, nicht historische Zeitgenossen der Gegenwart zu sein, ohne zugleich ihre philosophischen, in: Herbert Hörz: Was kann Philosophie? Berlin 1986, S. 33.

6 Vgl. dazu auch Martina Plümacher, Volker Schürmann, Silja Freudenberger (Hrsg.): Herausforderung Pluralismus. Festschrift für Hans Jörg Sandkühler, Frankfurt/M. u.a. 2000.

7 Vgl. Wolfgang F. Haug: Dreizehn Versuche..., a. O., S. 36.

8 Dies steht nicht zuletzt im Gegensatz zum Kommunistischen Manifest von Marx und Engels, das sicher nicht als Geburtsurkunde eines pluralen Marxismus gelten kann.

9 Vgl. dazu UweJens Heuer und Klaus Höpcke: Die Akzente nicht ungleichwertig setzen! In: Neues Deutschland, vom 13. Juli 2001; und dagegen Matthias Gärtner: Enge Verknüpfung von Freiheit und Sozialismus, in: ebenda.

10 Vgl. Reinhard Mocek: Auf dem Wege zu einer Neuvermessung des Gesellschaftlichen. Anmerkungen zu Uli Schölers Rückgriff auf Marx, in: UTOPIE kreativ, Nr. 123 (Januar 2001), S. 6673.

11 Um das andere Beispiel zu nehmen: Natürlich hat die kostenfreie Gesundheitsfürsorge nicht die Bevorteilungen höherer Funktionäre bei der Medikamentation im eigentlichen Sinne hervorgebracht. Aber auch hier war es wieder das Selbstverständnis von Partei und Staat, das dazu führte, daß Spitzenleute, weil sie nicht entsprechend höher bezahlt wurden, bevorzugt behandelt wurden. In der kapitalistischen Gesellschaft verdienen entsprechende Politiker so viel, daß sie die besten Medikamente selber bezahlen können.

12 Hier liegt nur scheinbar ein Zirkel vor; gegen das naive Abbildkonzept gibt es derart viele Einwände, dass es gerechtfertigt ist, nach einer Alternative zu suchen.

13 Im Prinzip ließe sich hier der Begriff des dialektischen Widerspruchs unterbringen. Man muß dabei aber bedenken, daß man in den Natur und Technikwissenschaften ohne diesen Terminus auskommt, beziehungsweise daß die Verwendung des Widerspruchsbegriffs in der Physik bereits eine bestimmte philosophische Interpretation ist. Ob das in der Gesellschaft wirklich so ganz anders ist, wäre weiter zu diskutieren.

14 Vgl. Manfred Wetzel: Dialektik als Ontologie auf der Basis selbstreflexiver Erkenntniskritik, Freiburg und München 1986.