Grenzenlose Gerechtigkeit?

in (25.09.2001)

Redaktion Sozialismus zu den Anschlägen in den USA und die Reaktion darauf

Gerechtigkeit ist nicht Rache. Terror ist kein Krieg. Kreuzzug ist eine Kategorie des tiefsten Mittelalters, kein Instrument zivilisatorischer Politik. Die Unterscheidungen, die den gesellschaftlichen, kulturellen Fortschritt der bürgerlichen Epoche kennzeichnen, sind seit dem 11. September systematisch aufgehoben worden. Die Operation "grenzenlose Gerechtigkeit" ist ein globaler "Feldzug", der sich nicht auf internationales Recht - nicht auf die kodifizierten Standards von Zivilisation - stützen kann.

Für die terroristischen Anschläge in den USA wird die islamistische Organisation al Qaida und deren Führer Osama bin Laden verantwortlich gemacht. Eindeutige Beweise wurden bisher nicht vorgelegt; die Plausibilität der Anschuldigungen ergibt sich aus früheren Attentaten, die demselben Täterkreis zugeschrieben werden. Es existieren mehrere Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates - insbesondere die Resolution 1333 -, in denen die Taliban aufgefordert werden, bin Laden an ein Land auszuliefern, in dem formell eine Anklage erhoben ist oder das bereit ist, den Beschuldigten einen fairen Prozess zu machen. Der UNO-Sicherheitsrat hat diese Position aus dem Jahr 1999 erneut bekräftigt und die Sanktionen gegen die Taliban verschärft. Die afghanische Regierung wurde zudem aufgefordert, die Trainingslager für Terroristen zu schließen und sich den Regeln der internationalen Völker- und Staatengemeinschaft zu unterwerfen.

Die Taliban unterstützen nicht nur terroristische Aktivitäten, sie haben auch elementare Menschenrechte außer Kraft gesetzt: insbesondere von Frauen, Kindern und von Menschen anderer Herkunft und Weltanschauung. Die Zerstörung der Buddha-Statuen - ein Weltkulturerbe - ist ein weiterer Beleg für den antizivilisatorischen Charakter dieser Bewegung. Und hinzu kommt, dass unter der Herrschaft der Taliban der Drogenhandel enorm verstärkt wurde. In den von ihnen kontrollierten Gebieten Afghanistans ist der Anbau von Mohn und die Erzeugung von Rohopium kontinuierlich ausgeweitet worden.

Die konsequente Anwendung der Beschlüsse der Vereinten Nationen - politisch beispielsweise durch die Isolierung der Taliban mithilfe eines internationalen Tribunals, aber auch durch eine von den UN gelenkte Polizeiaktion - hätte das internationale Recht aufgewertet und die Durchsetzung des Völkerrechts einen großen Schritt vorangebracht.

Die USA arbeiten nicht in diese Richtung - und dies nicht erst seit der Präsidentschaft von Bush jr. Die Politik der Vereinigten Staaten zielt vielmehr erklärtermaßen auf eine Schwächung der internationalen Organisationen. Den Vereinten Nationen und ihren Untergliederungen - von der UNESCO bis zur FAO - werden die ihnen rechtlich zustehenden Finanzmittel verweigert; das Abkommen über einen internationalen Gerichtshof wurde von den USA nicht ratifiziert; das Klimaschutzabkommen ist torpediert worden; und schließlich haben sich die USA bei keiner ihrer Militäraktionen der Mandatierung der UN unterworfen.

Gleichwohl sind die USA nicht isoliert - ganz im Gegenteil. Bei ihrem "Feldzug" genießen sie breiteste Unterstützung. Die Politik, die Kompetenzen und den Einfluss von internationalen Organisationen zur Sicherung von Menschenrechten und zur Lösung von Bürgerkriegen und anderen militärisch ausgetragenen Konflikten zu unterlaufen bzw. zu beschneiden, wird in den Hauptstädten des Westens mehr oder minder deutlich unterstützt. Es gab nur wenige Gegenstimmen - beispielsweise aus der französischen Regierung oder vom dänischen Außenminister -, die kaum Gehör fanden. Sicher: "Besonnenheit" gehörte zur meistverwendeten politischen Vokabel der letzten Wochen. Doch im politischen Geschäft ist "Bündnistreue" gefragt. Nahezu geräuschlos ging die Feststellung des Bündnisfalls über die Bühne; und die Bekräftigung von Seiten der europäischen Staats- und Regierungschefs, dass sich die NATO in einem Krieg befindet, ging schon fast in den Berichten über den Aufmarsch der US-Militärmaschinerie unter. Ein geradezu ungeheuerlicher Vorgang 56 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Unbestreitbar gibt es ein Handlungsrecht des terroristisch attackierten Staates. Aber auch eine "Polizeiaktion" ist dem Recht unterworfen. Die als Organisatoren der Terrorakte Beschuldigten müssen die Möglichkeit haben, in einem internationalen Gerichtsverfahren zu den vorgelegten Beweisen Stellung zu nehmen, sie müssen sich verteidigen dürfen. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist zu wahren, die Zivilbevölkerung muss vor "Kollateralschäden" geschützt werden. Die "Aktion" muss effektiv sein, bezogen auf das Ziel der Bekämpfung des Terrorismus. Indem man die größte Kriegsmaschinerie der Welt in Bewegung setzt, isoliert man die terroristischen Netze nicht, sondern provoziert Solidarisierungsprozesse in der islamischen Welt. Die USA haben sich das Einverständnis der Regierungen islamischer Staaten besorgt. Doch die Bevölkerung gewinnt man nicht mit grenzenlosen Feldzügen, sondern mit einem langfristigen wirtschaftlichen und sozialen Aufbauprogramm für Staaten der so genannten Dritten Welt.

Die Taliban stützen ihre Herrschaft im Wesentlichen auf die ihr ergebenen Milizen. Etwa 3,5 Millionen Menschen haben Afghanistan im letzten Jahr verlassen. Nach 20 Jahren Krieg und Bürgerkrieg ist das Land am Ende. Das seit 1996 herrschende fundamentalistisch-reaktionäre Regime hat die letzten Reste der einstigen afghanischen Bildungsschicht vertrieben. Von den rund 50-60.000 Kämpfern sollen ein Fünftel aus anderen islamischen Staaten stammen. Es ist mehr als fraglich, ob das Schreckensregime der Taliban ohne das Milizsystem eine realistische Überlebenschance hätte. Internationaler Druck, internationale Flüchtlingsprogramme und koordinierte Angebote für den Wiederaufbau des Landes böten also realistische Chancen, der Herrschaft der Taliban ein Ende zu bereiten.

Die Bush-Administration allerdings spielt die militärische Karte. Sie steht dabei unter hohem Erwartungsdruck. Rund 4/5 der amerikanischen Bevölkerung fordern Vergeltungsschläge und setzen auf den im US-Justizsystem stark verankerten Aspekt der Abschre-ckung. Angesichts dieser Erwartungshaltung, die von einem Großteil der Medien in alltäglichen Handlungsdruck übersetzt wird, ist der Aktionskorridor der politischen Klasse eingeschränkt.

Demgegenüber löst sich in der Bundesrepublik nach einer längeren Schreck- und Lähmungsphase die politische Verkrampfung. Die Kriegsrhetorik wird von größeren Teilen der Bevölkerung nicht mitgetragen; kritische Stimmen in Wissenschaft, Kultur, in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen bestärken eine distanziert-reflektierende Haltung. Die rot-grüne Regierungskoalition hat - im Unterschied zum Golfkrieg 1990, als die Bundesrepublik nur beim finanziellen Burden sharing eingespannt war - das Land sofort in die "internationale Koalition gegen den Terrorismus" hineingesteuert: ein weiterer Meilenstein in der Militarisierung der Außenpolitik. Und im Innern wird der "Sicherheitsstaat" ausgebaut. Die Geheimdienste werden ausgebaut, Datenschutz eingeschränkt, die Zuwanderung noch restriktiver behandhabt - und das in einem Land, das mit den Notstandsgesetzen und den "Anti-Terror-Gesetzen" aus der Zeit des deutschen Herbstes längst weitreichende Möglichkeiten zur Außerkraftsetzung demokratischer, rechtsstaatlicher Regelungen hat. Die Regierungslogik, man müsse im Namen des Kampfes gegen die "unzivilisierte Welt" zu einer Einschränkung von bzw. zum Verzicht auf wichtige Errungenschaften der eigenen demokratischen Zivilisation bereit sein, stößt zwar nicht auf breiten, offenen Widerstand, aber auf deutliches Misstrauen. Es bestehen durchaus Chancen, die Politik des Ausbaus der repressiven Staatsorgane durch öffentlichen Widerstand zurückzuweisen. Eine Politik der Vergeltung und Rache, die einhergeht mit der Einschränkung von Freiheitsrechten und rechtstaatlichen Verfahren, hätte gegen breit getragene öffentliche Proteste wohl keine guten Chancen, mehrheitsfähig zu bleiben.

Für die politische Linke ist klar: Die immer tiefer werdende Kluft zwischen armen und reichen Ländern, die Abkoppelung der so genannten Peripherie von der Akkumulation des Reichtums in den kapitalistischen Metropolen und deren Unterstützung von reaktionären, korrupten Statthalterregimes in der Dritten Welt bieten keinerlei Gründe für eine Legitimierung des Terrorismus oder von menschenverachtenden Herrschaftssystemen. Nur Dogmatiker vertreten eine derart absurde Position. Wichtig wäre eine gegenüber den USA eigenständige europäische Initiative. Europa hätte die politische Kraft, eine breite internationale Bewegung von politischen Kräften aus Asien, Afrika, Lateinamerika zustande zu bringen, die dazu beiträgt, den politischen Terrorismus zu isolieren und zu bekämpfen. Europa hätte auch die materiellen Voraussetzungen dafür, eine Entwicklungspolitik in Gang zu setzen, die die Lebensverhältnisse in den Ländern der Peripherie verbessert und die Kluft zwischen Nord und Süd vermindert. Europa könnte die Vereinten Nationen wieder ins Spiel bringen. Derartige Initiativen wären vor der militärischen Eskalation wichtig gewesen. Danach sind sie sehr viel schwerer zu realisieren, aber zugleich umso notwendiger.