"Ich zeige, daß der Feind am Werk ist, der wir selber sind".

Die schwarze Dialektik Volker Brauns: Anmerkungen und Stichproben

Volker Braun veröffentlichte im letzten Jahr einen Band von drei kleinen Erzählungen mit dem Titel "Das Wirklichgewollte".

Schon das Triptichon macht auf den Dreischritt von These, Antithese und Synthese aufmerksam; nur daß die Erzählungen sich eher parallelsinnig lesen und keine zur hegelianischen Aufhebung drängt. Deutlich ist aber die Dialektik im Titel. Das Wirklichgewollte ist natürlich zunächst einmal das, was jemand wirklich will, also das authentisch Gewollte, das gleichsam objektiv Subjektive. Zum zweiten ist es aber das, von dem jemand will, das es wirklich ist oder wird; also das als wirklich Gewollte, das gleichsam subjektiv Objektive. Im grammatikalischen Doppelsinn (je nachdem, ob ,,wirklich" als Adverbium oder als Prädikativum auf das ,,Gewollte" bezogen wird) stecken These und Antithese; denn es besteht natürlich ein großer Widerspruch zwischen dem, was man gerne verwirklicht sähe, und dem, was man als Wirklichkeit eingeschätzt haben möchte, nämlich auch von anderen. Zugleich hängt das eine mit dem anderen zusammen; Wirklichkeit wird von den eigenen Wünschen modelliert, sowohl im Positiven wie im Negativen; man kann zum Beispiel wünschen, daß bestimmte Mißstände, die man empfindet, auch von anderen als wirklich vorhanden angesehen werden, damit man auch ihre Beseitigung gemeinsam wünschen kann; daß also das subjektive, persönliche Wollen mit der objektiven, gesellschaftlichen Einschätzung der Lage zusammenfällt. Den Zusammenhang der beiden Lesarten drückt der Titel durch die Zusammenschreibung als Substantivkompositum aus; die Kompositabildung enthält also die Synthese (oder deutet sie zumindest an).

Diese formelhafte Kompression einer klassischen dialektischen Gedankenbewegung ist charakteristisch für Volker Braun. Die Formel erschöpft sich aber nicht im Formalen. Es ist ungeheuer beeindruckend (fast bis zum Kuriosen), daß sie niemals eine bloß analytische, sondern stets eine marxistische oder, vorsichtiger: historische Dialektik ausdrückt. Etwas Geschichtsphilosophie ist immer enthalten. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Die Bewegung von dem einen zum anderen, vom Privatwunsch zum gesellschaftlichen Konsens, die in der Synthese vollzogen wird, bringt eine soziale Utopie zum Ausdruck, nämlich den Wunsch nach Aufhebung der Entfremdung zwischen Individuum und Gesellschaft. Das aber ist ein politisches Programm, denn das wirklich Gewollte soll ja in Wirklichkeit überführt, die individuellen Sehnsüchte sollen gesellschaftliche Realität werden. Von einer Selbstverwirklichung ihrer Mitglieder ist aber jede real existierende Gesellschaft weit entfernt; insofern hat schon die Wortprägung des ,,Wirklichgewollten" etwas höchst Unzufriedenes, recht eigentlich gar nicht Zufriedenzustellendes.

Denn mit den Synthesen bei Braun ist es ungemütliche Sache; sie transzendieren jede Gesellschaft und jede Veränderung der Gesellschaft auch; man weiß gar nicht, wie man diesen Mann trösten soll. Was er einklagt, ist in historischer Zeit nicht zu verwirklichen; es handelt sich immer um ,,unvollendete Geschichte" (um einen weiteren Buchtitel in dialektischer Pillenform zu nennen). Brauns ,,Unvollendete Geschichte" handelt zum einen von einer Privatgeschichte, die hoffentlich unvollendet ist, nämlich auch zu einem besseren Ende kommen könnte; zum anderen ist sie das Zeugnis von unvollendeter Gesellschaftsgeschichte, nämlich von einer unvollkommenen Epoche. Zum dritten aber beharrt sie darauf, daß diese Epoche, nämlich die des staatlich organisierten Sozialismus, die Geschichte nicht vollendet hat, sondern noch weiterzuschreiten hat: auf ein Ziel hin, das sie zwischenzeitlich erkennbar aus dem Auge verlor. Nun war, als die Erzählung erschien, der Staatssozialismus noch ein real existierender, ein Projekt unvollendeter Geschichte und ein Produzent unvollendeter Geschichten; insofern enthielt der Titel eine Mahnung, mit der Revolution fortzufahren und nicht selbstzufrieden in den selbst produzierten Widersprüchen zu versacken. Inzwischen ist dieser Staat untergegangen, und aus der Mahnung ist Melancholie geworden. Der Sozialismus ist unvollendete Geschichte geblieben.

Auch dies ist Dialektik bei Volker Braun: daß sich seine Texte zur veränderten politischen und gesellschaftlichen Realität wiederum antithetisch verhalten. Das läßt sich bis in die Mikrostruktur vieler seiner Werke hinein verfolgen; in den ,,Vier Werkzeugmachern" hat er selbst vorgeführt, wie sich die Widersprüche des Sozalismus spiegelsymmetrisch in den neu-alten Widerprüchen des zurückgekehrten Kapitalismus abbilden. Die einfachste Erklärung für diese elastische Lebenskraft seiner Texte steckt gewiß in der Fundamentalkritik, die er immer und überall an der ,,vertikalen Arbeitsteilung" übt, also an dem gesellschaftlichen Machtverhältnis zwischen Menschen, das überall die Freiheit des Individuums einschränkt. Der Gedanke, Freiheit als Freiheit von Macht zu definieren, knüpft die Freiheit unlösbar an die Gleichheit und löst damit den alten Widerspruch zwischen den beiden Werten; das ist eine Synthese, die zugleich elegant und fragwürdig ist, vor allem aber sofort als Antithese zu jeder gesellschaftlichen Wirklichkeit tritt. Denn wird Gleichheit politisch hergestellt, entsteht Ungleichheit durch Machtausübung, also Unfreiheit; wird die naturwüchsige Ungleichheit dagegen hingenommen, besteht sowieso Ungleichheit der Macht, also wiederum Unfreiheit. In dieser Rechnung stehen Sozialismus wie Kapitalismus in ihrer Bilanz von Ungleichheit und Unfreiheit ähnlich da; nur die Mittel in der Produktion von Ungleichheit und Unfreiheit sind andere.

Eine Gesellschaft, die ohne vertikale Arbeitsteilung auskommt, ist noch nicht erfunden, nicht einmal als Utopie, höchsten als naive Wünschbarkeit. Insofern wird Brauns Kritik jeder Gesellschaft gerecht bzw. nicht gerecht; immer wird es einen ungelösten Widerspruch geben, der am Ende nicht unähnlich der unerlösten Menschheit ist, von der die Theologie auch schon weiß. ,,Ich zeige", schreibt Braun in seiner Nachbetrachtung zur ,,Unvollendeten Geschichte", ,,daß der Feind am Werk ist, der wir selber sind". Der Mensch hört nicht auf zu nörgeln und ist insofern eine Plage für jeden Staat, der ihm helfen will (oder solche Hilfe vorgibt); ebendarum hört dieser Staat aber auch nicht auf, an seinen Menschen herumzunörgeln, und manövriert sich solchermaßen in einen bedenklichen Selbstwiderspruch von Zielen und Mitteln. ,,Das Politische ist nicht gleich das Menschliche" (ebendort).

Das Umgekehrte gilt allerdings ebensowenig. Der Mensch ist es selbst, der bei seiner Erlösung stört. Darum ist die Klage des Schriftstellers immer auch (nur halb ironische) Selbstanklage, und die Selbstanklage ist immer auch Klage über einen Staat und eine Gesellschaft, in denen diese Klagen den Charakter der Selbstdenunziation annehmen. Auch das ist nicht nur eine Erfahrung, die man in der DDR machen konnte, die allerdings den pietistischen Selbstverdacht zu einer säkularisierten Neurose züchtete, sondern gilt im Kapitalismus ebenso: Wer den Terror der Leistungsgesellschaft beklagt, gerät unter den Verdacht, nur eigene Untüchtigkeit zu camouflieren. Dies Hin und Her von Klage und Selbstanklage führt jedenfalls zu keiner Synthese, sondern zur ausweglosen Bestätigung ewigen Menschheitsjammers. In letzterem könnte sich Brauns Dialektik als ganze wie eine Antithese des Wünschbaren zu dem Gegebenen verhalten, was freilich für jede Literatur zutrifft, die von Unglück und damit zugleich vom Glück, also einer Utopie handelt.

Das wäre allerdings eine unhistorische Lesart. Denn Brauns Texte sind in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zu einer bestimmten, nämlich der marxistischen Dialektik und Geschichtsphilosophie entstanden, und ihr gegenüber beziehen sie eine keineswegs triviale Position. Die Formationstheorie behauptete ja eine quasi naturgesetzliche Entwicklung der Gesellschaft in Analogie zur Evolutionstheorie; der Mensch mußte gar nichts Besonderes tun oder lassen (auch keine Revolution eigens anstreben), sondern die Geschichte strebte von selbst über allerlei grausige Zwischenstufen ihrer Erlösung zu. Abgesehen von dem empirischen Unfug der Formationstheorie und ihrem geradezu abergläubischen Materialismus trägt sie auch an einem logischen Widerspruch schwer: Alles sollte sich zwar in der Geschichte, wirklich und buchstäblich vollziehen, nicht im Jenseits der Theorie; andererseits sollte die Menschheit aber doch jenseits der Geschichte ankommen - nämlich in einem Kommunismus, der seinerseits weiteren historischen Veränderungen entzogen sein mußte; denn sonst würde ja alles wieder verhunzt (verhintzt und verkuntzt) werden. An diesen Durchgang durch die Geschichte in ein eschatologisches Glück aber glaubt Volker Braun nicht; die letzte Synthese wird nicht in Aussicht gestellt. Seine Dialektik ist eine schwarze Dialektik; nicht unähnlich der von Carlos Fuentes, einem anderen großen Pessimisten unter den letzten Schriftstellermarxisten.

,,Wir waren zu lange wach / Überwach vom Warten auf den Morgen / Bis uns dämmerte, daß er vergangen war", schreibt Braun in einem Gedicht von 1998. Daraus wird oberflächliche Lektüre, und durchaus nicht zu Unrecht, Kummer um die verspielte Zukunftshoffnung des Sozialismus herauslesen. Ein zweiter Blick zeigt aber, daß die Erkenntnis von der vergangenen Zukunft mit der (intellektuellen) Dämmerung, also mit dem Heraufziehen eben dieser Zukunft gekommen ist. Nun könnte man sagen, es sei eben die falsche Zukunft gewesen, die heraufdämmerte. Dann wäre es aber auch die falsche Erkenntnis. Ist es aber die falsche Erkenntnis, dann wissen wir gar nicht, was gekommen ist noch was hätte kommen sollen; dann wäre die Überwachheit nur eine Chiffre allgemeiner Verblendung. Die Dialektik dieser drei Verse ist damit übrigens noch nicht ausgeschöpft; sie zeigen, wie man sie auch dreht und wendet, aber jenes Irrgartenhafte, das Dialektik bei Braun immer annimmt: ein nahezu (oder vielleicht wirklich) unendliches Spiel von Täuschung und Enttäuschung, jedenfalls eine Bewegung, die, anders als im dialektischen Materialismus, niemals zur Ruhe kommt. Der Grund, den man Braun leicht zum Vorwurf machen könnte, ist aber der: es ist kein Materialismus, der sich dialektisch entfaltet. Es ist das Spiel der Ideen und Gedanken, der Wahrnehmung und Erkenntnis, am Ende der Verblendung. Der Autor verwechselt dieses Spiel nun keineswegs mit der Wirklichkeit; aber er zeigt doch, das wir auf etwas anderes gar keinen Zugriff haben - oder doch zumindest die Literatur nicht. Der Verdacht (er schmälert nicht die Bewunderung) lautet daher auf dialektischen Idealismus: das heißt auf einen grundsätzlichen Erkenntniszweifel.

In seinem Essay über die Zerstörung Dresdens gibt es einen Satz, der die unhintergehbare Befangenheit des Subjekts mit seltener Brutalität ausspricht: ,,Als Dresdner Bestie bete ich zur Neutronenbombe." Man muß den Satz zweimal lesen, um über den Schock hinwegzukommen, wie hier einer mit dem Gedanken liebäugelt, daß die Neutronenbombe, falls es sie schon gegeben hätte, die Bewohner Dresdens zwar getötet, aber die köstlichen Gebäude glücklicherweise erhalten hätte. Bei zweitem Lesen verschiebt sich allerdings das Gewicht auf die selbstironische Formel von der ,,Dresdner Bestie". Dresdner, so deutet Braun an, sind in ihrem Schmerz über die zerstörte Tradition zu allem fähig, selbst dazu, Menschenleben geringer zu achten als das kunsthistorische Erbe. Das ist nicht ohne kabarettistische Komik; aber es geht doch um einen echten Widerspruch, wenngleich um keinen materialistisch aufgefaßten, sondern um einen, den man skeptisch im Überbau lokalisieren könnte. Es ist der Gegensatz von Tradition und Fortschritt, Bewußtseinsmacht der Geschichte und Überlebensanspruch der Menschheit. Diesen Gegensatz will Volker Braun keinesweg fraglos zugunsten der Gegenwart und ihrer utopischen Zukunftserwartungen lösen. Vielmehr schildert er, wie er als Kind von einem der umliegenden Höhen auf das zerstörte Dresden blickt: ,,Vom Wachwitzer Weinberg sah ich stundenlang, das Physikbuch auf den Knien, auf die leuchtenden Trümmer. Es war eine Sehstörung, die zunahm. Ich sah den Frieden."

Kann es erlaubt sein, den Frieden, den endlich errungenen oder vielmehr von den Kriegsgegnern geschenkten, als Sehstörung zu bezeichnen? In der Formulierung liegt wiederum eine Selbstanklage: nämlich des Dresdners, der sich über einen Frieden nicht freuen kann, der auf den Ruinen seiner Heimatstadt beruht. Zugleich weiß der Dresdner aber auch, daß er sich, wenn er keine Bestie sein will, über den Frieden freuen muß. Der Kummer hat hier eine Dimension der Selbstentfremdung: Um den Frieden, also übrigens auch die Zukunft zu bejahen, muß er den Schmerz kleinhalten, der aus Liebe zu dem Verlorenen kommt. Recht eigentlich muß die Liebe zu dem schönen Alten überhaupt überwunden werden, um die Zukunft zu gewinnen.

Darin liegt aber nicht nur ein individualpsychologisches Problem, sondern, auch wenn es ohne ökonomisches Substrat auskommen muß, ein politisches Problem von beachtlicher Reichweite. Insonderheit war es das für den Versuch, in dem kleinbürgerlich-bürgerlichen, jedenfalls nur noch minoritär proletarischen Deutschland den Sozialismus aufzubauen. Man kann lange (und im übrigen: gratis) darauf beharren, daß das Sein das Bewußtsein bestimme; in der Praxis wird menschliches Handeln zunächst von Bewußtseinsinhalten bestimmt. Realität ist, was als Realität eingeschätzt wird: das als Wirklichkeit Gewollte. Um diese Wirklichkeit mußte nun der sozialistische Staat mit seinen Bürgern ringen. Nicht alle Tradition ließ sich als humanistisch-revolutionärer Vorlauf der Arbeiterbewegung interpretieren. Die Pflege des klassischen Erbes verwickelte sich in Widersprüche und rief Widersprüche hervor, dem Plattenbau wurde Vorrang gegeben vor einer Restaurierung des bürgerlichen Kanons, der Frieden zeigte ein häßliches Antlitz. Der Sozialismus, kurzum, trug das Medusenhaupt des Fortschritts.

Der Blick in dieses Medusenhaupt löst die ,,Sehstörung" aus, von der Volker Braun spricht. Auch dieser Begriff läßt sich dialektisch entfalten. Die Klassifikation der subjektiven Perspektive als bloße Sehstörung ist zum einen die naheliegende, demagogisch-denunziatorische Antwort, die der Sozialismus seinen Kritikern zu geben pflegte. Zum anderen enthält der Begriff aber auch den typischen Erkenntniszweifel, den die idealistische Philosophie an jeder Wahrnehmung hat. Beide Lesarten werden von Braun wieder durchgespielt. Zum einen weiß das Kind, daß es nicht richtig sieht: denn der Frieden ist ja etwas Schönes. Sehstörung heißt hier also: falsche, reaktionäre Perspektive. Zum anderen wird aber das richtige Sehen tatsächlich gestört, nämlich von einer Störung, Verstörung begleitet. Diese Störung aber ist nicht nur eine prinzipielle im Sinne des Idealismus; sie hat auch ein objektives Substrat. Das dialektische Meisterstück der Synthese, die Braun hier vorschlägt, heißt also: Es handelt sich bei der Störung um eine Qual des Bewußtsein durch das, was es richtig sieht. Es sieht das Opfer, das der Frieden verlangt.

An eine solche empörende, in sich verstörende Erkenntnis müßte sich nun eigentlich die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen anschließen, unter denen der Frieden ein derartiges Opfer verlangt. Diese Verhältnisse sind zunächst, historisch und politisch korrekt, die des Nationalsozialismus, einer barbarischen Degenerationsstufe der bürgerlichen Gesellschaft also. Nun spricht Braun aber in jenem zwielichtigen deutschen Präteritum, das die Bewegung der Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft hin einschließt: ,,Es war eine Sehstörung, die zunahm."

Die glücklich gefundene Synthese wird also sofort wieder in die Vorschau eines Widerspruchs überführt. Denn manches spricht dafür, den Satz über die Situation des Kindes hinaus auf Volker Brauns Wahrnehmung des kommenden Sozialismus auszudehnen. In der Tat schreibt er eine Seite später höhnisch über die ,,Antifaschisten", die ,,von einem wiederaufgebauten Dresden" sprechen, das ,,schöner und zweckmäßiger" wird; von den Plattenbauten also, in denen Braun den ,,platten Willen zur Unform" erkennt, das ,,Resultat unschöpferischer Arbeit für alle und des sozialistischen Mangels, der das Bewußtsein vergeudete, d.h. nicht beanspruchte".

Das Bewußtsein als gesellschaftliche Ressource zu betrachten, ist ein höchst eigentümlicher Gedanke Brauns; denn in dem Kontext, den er hier ausgebreitet hat, kann es sich nicht allein um das ,,richtige" sozialistische Bewußtsein im Sinne der Propaganda handeln, sondern um eines, das auch die bürgerlichen Vorstufen und die individuellen Bornierungen umfaßt, also alle Ideologieproduktion einerseits, vortheoretische Wahrnehmung andererseits. Das Bewußtsein in seiner Totalität, einschließlich aller Irrtümer und akkumulierten Verblendungen, wie eine quasi materielle Ressource (ein Braunkohlevorkommen beispielsweise) zu betrachten, die genutzt werden muß, ist entweder eine schwere Häresie wider den marxistischen Mainstream oder aber Zeugnis eines fast schon blinden Vertrauens in den vernünftigen Gang der Geschichte, der von Revolutionen im allgemeinen, sozialistischer Poltik im besonderen, nur gestört werden kann. Oder aber - oder aber es handelt sich in Wahrheit um Poetologie, und der Schriftsteller wirft hier dem Staat vor, eine Arbeitsweise nicht ergriffen zu haben, die für die Literaturproduktion sinnvoll ist, nämlich aus dem vollen Schatz menschlichen Bewußtseins zu schöpfen, ohne Zensur- und Erziehungsverlangen. Dann aber wäre die Rede von Ressource, von Vergeudung und Arbeit bloße Metapher und hätte keine materialistische Dimension. Man muß diesen Gedanken zumindest im Vorübergehen kurz erwägen; denn wahrscheinlich ließe sich vieles von dem, was wir hier als Dialektik erörtert haben, als bloß metaphorisches Spiel mit einer klassischen Gedankenfigur auffassen. Und in der Tat kann man ja, wenn man sich ganz auf die Seite des idealistischen (noch vorhegelianischen) Erkenntniszweifels schlägt, in der Dialektik eine reine Gedankenfigur einer Geschichtsphilosophie sehen, der kein tatsächlichliches Geschehen in der Wirklichkeit entspricht.

Nun hat die Frage nach Materialismus oder Idealismus, in ihrer Absolutheit gestellt, den bekannten Charakter eines Vexierbildes: Entweder ist alles außer uns oder alles in uns; empirisch überprüfen läßt es sich nicht. In Volker Brauns Dialektik sind die idealistischen Anteile jedenfalls nicht zu übersehen; ihr eigentliches Spiel entfaltet sie allerdings im Gegeneinander und Ineinander beider Erkenntnisperspektiven, sonst würde er sich kaum so große Mühe mit der Verschränkung des Subjektiven und des Objektiven, mit der materialen Gestalt des Gedankens und mit der gedanklichen Durchdringung des Materialen gemacht haben. Auch für das Vexierbild hat er eine höchst konkrete Anschauung im Bilderfundus des zerstörten Dresden gefunden. Sie ,,zeigt ein Haupt mit abgeschlagener Stirn, schräg auf einem Quader ruhend, als höbe die zerschmetterte Skulpur den Kopf zu einer verzweifelten Frage. Wie soll sie denken."

Nun kann eine Skulptur natürlich gar nicht denken, die Materie ist tot, die Fakten schweigen. Sie beginnen erst durch die Vermittlung eines Bewußtseins zu sprechen. Faßt man die Skulptur, insofern sie schon von dem Bewußtsein bearbeitet, nämlich aus dem rohen Stein gehauen wurde, als Allegorie dieser Vermittlung auf, dann wird man sagen können, daß die Vermittlung in diesem Fall nachträglich gestört wurde (die Stirn ist abgeschlagen), und zwar durch materielle Gewalt, nicht durch einen weiteren Bewußtseinsakt. Die Allegorie ist eine andere geworden, ohne menschliche Vermittlung. Die reine Wirklichkeit hat sich gegen das Wirklichgewollte durchgesetzt, ein gewaltiger dialektischer Gegenschlag. Die Skulptur zeigt jetzt den Menschen, der nicht mehr denken kann, weil ihm die Wirklichkeit dazwischen kam. Nun kann man aber weiter sagen, daß es sich um eine Kriegsfolge handelt, Krieg aber von Menschen gemacht wird, und hier also abermals nur Bewußtseinsinhalte miteinander kämpfen. Das endlose Spiel von These und Antithese, das Braun so liebt, läßt sich auch in diesem Bild entfalten. Es ist nicht absehbar, auf welcher Stufe es zur Ruhe kommt. Aber der eigentliche dialektische Triumph des Autors besteht darin, daß er den Akzent der Frage auf das ,,Wie" verlagert hat, auf die wahrhaftige Ratlosigkeit also und auf das Drängen nach einer Antwort, nicht auf die Resignation. Die abgeschlagene Stirn, das abgeschlagene bürgerliche Bewußtsein des Dresdners, vielleicht auch das behinderte Denken in der DDR, die keine Geschichtstrauer zulassen wollte. Und dann die Frage: Wie soll man denken? Eine platte Antwort im Sinne einer Lösung, im Sinne richtigen Bewußtseins wird Braun nie geben. Seine dichterische Antwort ist die Totalität der Widersprüche, aller Siege und Niederlagen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Auch hierfür, für den Dichter, der nichts weniger als die grausige Ganzheit unerschrocken ausbreitet, hat er ein Dresdner Zerstörungsbild gefunden. Es ist die ,,große steinerne Frauenfigur, die leicht vorgebeugt auf die unabsehbare Trümmerfläche weist, sie lächelt, und die offene Hand serviert uns das Unsere, das Menschenwerk". Auch der Feind ist darin, der wir selber sind.

Jens Jessen, Redaktion ,,Die Zeit", Hamburg