Europäische Union

In den PDS-Programmentwürfen wird die EU nicht als eine eigenständige Politikebene berücksichtigt. Wichtige Fragen für eine europäische sozialistische Politik bleiben ausgeklammert.

Aus: Beilage zu Z 46, Juni 2001, 43-46

1.

Die Europäische Union wird im ersten Programm-Entwurf[1] im Abschnitt "Die gegenwärtige Welt", dem Analyseteil, in einem von sieben eigenständigen Abschnitten behandelt. Damit wird den Problemen und Herausforderungen der europäischen Integration zumindest vom Stellenwert und vom Umfang her die nötige Referenz erwiesen, die ihr als immer wichtiger werdende Ebene der politischen Entscheidungen auch zukommt. In dem 1993 verabschiedeten Programm war dies noch anders. Die Ausführungen zu Europa waren unter der Überschrift "Westeuropa darf keine Festung werden" äußerst knapp gehalten und bezogen sich fast ausschließlich auf Warnungen vor einem "ökonomischen und militärischen Bollwerk". Erst mit dem im März 1999 beschlossenen Programm für die Wahlen zum Europäischen Parlament legte die PDS eine umfassende Analyse und Bewertung der Europäischen Union vor. Der jetzt vorliegende erste Programmentwurf bezieht sich denn auch gleich zu Beginn auf dieses Wahlprogramm: "Die PDS ist eine europäische sozialistische Partei. Sie sagt Ja zur europäischen Integration" (10).

Die Entwicklung der EU wird als eine "von Banken- und Konzerninteressen geprägte Integrationszone" und als "machtvollstes Instrument" der nationalen Regierungen und der Europäischen Kommission "zur Durchsetzung neoliberaler Regulierung und Privatisierung in Europa" (11) gewertet. Im Einzelnen werden das Schengener Abkommen, die Handels- und Landwirtschaftspolitik und die "Umwandlung der EU in eine Militärunion" (11) kritisiert. Auch der anstehende Beitritt mittel- und osteuropäischer Staaten, der zwar grundsätzlich als möglicher Beitrag "zur Überwindung europäischer Spaltungen, zu einer sozialen, demokratischen, ökologischen und nicht zuletzt zivilen Erneuerung der europäischen Integration" gesehen wird, wird sehr kritisch bewertet, da er in der Realität "dem neoliberalen und militärischen Machtanspruch der EU untergeordnet" wird. Die Entwicklung der EU wird daher zu Recht in den Kontext der Globalisierung gestellt, deren spezifische europäische Form sie darstellt.

Umfang und die Entschiedenheit der Kritik machen deutlich, daß die Autoren an der grundsätzlich skeptischen Haltung der PDS gegenüber dem europäischen Integrationsprozeß festhalten wollen, wie sie in der Ablehnung ihrer Bundestagsgruppe sowohl des Maastrichter als auch des Amsterdamer Vertrages, vor allem aber in der Opposition zur Einführung des Euro zum Ausdruck kam.

In der kritischen Bewertung der Entwicklung der europäischen Integration unterscheiden sich die beiden Programmentwürfe denn auch nicht grundsätzlich. Allerdings benennen die Autoren des zweiten Entwurfs mit dem Verweis auf die Interessen der Banken und Konzerne klarer die hinter dem Prozeß der Neoliberalisierung stehenden Akteure, auch heben sie die Bedeutung der "relativen Vorherrschaft der deutschen Großunternehmen" hervor {7}.

Die von den Autoren des ersten Entwurfs deutlich ausgesprochene Kritik an der Entwicklung der EU akzentuiert aber auch so manche europapolitische Aussage, wie sie etwa noch im Europawahlprogramm von 1999 zu finden ist. Es fehlt etwa die ausdrückliche Forderung nach einer Sozial-, Beschäftigungs- und Umweltunion, die als Ergänzung und Korrektur der Wirtschafts- und Währungsunion seinerzeit in den Mittelpunkt der Argumentation der PDS gestellt wurde.

2.

So positiv die Behandlung der europäischen Integration in einem eigenständigen Analysekapitel ist, so negativ macht sich bemerkbar, daß dies im Abschnitt "Sozialistische Politik - Kampf um Gerechtigkeit" des ersten Entwurfs nicht fortgeführt wird. Europa wird zwar in diesen Kapiteln duchaus immer wieder erwähnt, doch meist in Form bloßer Anhängsel, angehängt an Ausführungen, die an sich Forderungen an eine Politik in der Bundesrepublik betreffen.

Dieses Vorgehen führt nicht nur zu einem methodischen Problem. Es hat vielmehr zur Folge, daß die EU als Ebene mit eigenständigen Staatsfunktionen nicht erfaßt wird. Der Entwurf bleibt damit in einer entscheidenden Frage hinter dem allgemeinen Erkenntnisstand kritischer Integrationstheorien zurück, in der die Politik der Mitgliedstaaten der Union als ein Mehrebenensystem analysiert wird. [2] Diese fehlende Berücksichtigung einer eigenständig zu betrachtenden europäischen Politikebene wirkt sich aber auch negativ auf den Analyseteil aus, etwa bei der bekanntermaßen schwierigen Bestimmung des Verhältnisses des Nationalstaats zur europäischen Ebene. Die Autoren bezeichnen die Nationalstaaten als die auch in Europa noch entscheidenden politischen Räume. "Für die Verteidigung und die Erneuerung der demokratischen, sozialen und anderen Errungenschaften, die dem Manchesterkapitalismus abgerungen wurden und ihn überwanden, sind die Kämpfe in den Nationalstaaten nach wie vor bedeutsam, doch sie reichen nicht aus." (11) Widersprochen wird damit einer in der deutschen Linken und auch in der PDS verbreiteten Einstellung, die die nationale Politikebene leichtfertig und opportunistisch übergeht, um dann um so entschiedener und unabgeleitet die Bedeutung regionaler Zusammenschlüsse und Europas zu betonen. Wenn es dann aber darum geht, die europäische Ebene in ein Verhältnis zu den Nationalstaaten zu setzen, zeigen sich die Schwierigkeiten. Die Autoren sprechen von der EU als "die notwendige politische und wirtschaftliche Ergänzung" (11), um Sozialabbau zu vermeiden und um u.a. kulturellen Reichtum und demokratische Teilhabe zu sichern. "Wir stellen fest, daß manche Ansätze in der Beschäftigungs-, Umwelt-, Sozial- und Regionalpolitik der Europäischen Kommission und der politischen Zusammenarbeit in der EU auch heute schon Chancen bieten, nationale Borniertheit zurückzudrängen, die Kultur anderer Völker nutzbar zu machen, politische Kräfteverhältnisse zugunsten eines modernen zivilgesellschaftlichen Widerstandes gegen den globalen Neoliberalismus zu verändern". Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Nationalstaat und europäischer Ebene wird demnach mit solch vagen Begriffen wie "notwendige politische und wirtschaftliche Ergänzung" und "Chance" wolkig umschrieben. Damit gibt aber der erste Programmentwurf keine schlüssige Antwort auf die für die Weiterentwicklung der europäischen Linken so entscheidende Frage nach der zukünftigen Rolle des Nationalstaats in einem sich integrierenden Europa. Dieser Mangel ist auch kein Zufall, fehlen doch im gesamten ersten Programmentwurf Aussagen zu institutionellen Ebenen und insbesondere zur Rolle des Staates in einem sozialistischen Übergangsprozeß. In dem von den Autoren propagierten Wertesozialismus kommen solche konkreten Fragen eben nicht mehr vor.

Doch auch die so kritischen Autoren des zweiten Entwurfs nehmen schlicht nicht zur Kenntnis, daß die EU durchaus eine neue Politikebene, ausgestattet mit eigenständigen Staatsfunktionen, darstellt. Dementsprechend ersparen sie sich auch Aussagen darüber, wie der Kampf dort zu führen ist. Unberücksichtigt bleibt etwa die Rolle des Europäischen Parlaments und die Bedeutung des in Gang gekommenen europäischen Verfassungsprozesses. Es werden keine Anforderungen an die Erweiterung der Union, an eine andere Politik der Europäischen Zentralbank oder an die Entwicklung bereits vergemeinschafteter Bereiche, wie etwa die Agrar- und die Strukturpolitik formuliert. Der existierenden EU setzen sie vielmehr in attentistischer Haltung abstrakt ein "Europa von unten" {14}, ein "anderes Europa" {7} entgegen, das aus "gewerkschaftlichen und betrieblichen Strukturen" und "demokratischen Bewegungen" bestehend beschrieben wird. Die sollen es alleine richten.

3.

So bleiben leider wichtige Fragen für eine sozialistische Politik in beiden Entwürfen unbeantwortet. Zu nennen sind hier etwa:

1. Welche Grenzen und Bedingungen stellt die bereits vollzogene europäische Integration an eine mögliche sozialistische Transformation in einem einzelnen Mitgliedslstaat der EU? Ist eine solche isolierte nationale Entwicklung heute überhaupt noch vorstellbar?

2. In welchen Politikbereichen kann es zukünftig nur ein abgestimmtes Vorgehen der europäischen Linken geben? Existiert z.B. nach dem Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion überhaupt noch ein Spielraum für nennenswerte nationale Wirtschaftspolitiken? Wie verhält sich dazu die Tatsache, daß sich die gewerkschaftlichen und sozialen Auseinandersetzungen gegenwärtig fast ausschließlich im nationalen Rahmen abspielen?

3. Wie ist die europäische Integration im internationalen Kontext zu bewerten? Entwickelt sich mit ihr nur eine weitere imperialistische Großmacht oder bietet sie eine Chance für die Herausbildung eines multipolaren Weltsystems?

4. Wie ist auf den Widerspruch zu reagieren, daß zwar eine Demokratisierung der europäischen Institutionen dringend notwendig ist, daß aber die dazu notwendige demokratische Öffentlichkeit in Gestalt von internationalen Medien, einer europäischen Zivilgesellschaft und echten europäischen Parteien völlig unterentwickelt ist?

5. Welche Schritte müssen von der Linken gegangen werden, um diese bescheidenen Ansätze einer europäischen Öffentlichkeit zu stärken? Wie kommen wir zu einer europäischen linken Partei?

Diese Fragen sind von überaus aktueller Bedeutung. So existiert etwa in der Vereinten Linken im Europäischen Parlament ein tiefer Gegensatz zwischen den Befürwortern und den Gegnern einer weiteren europäischen Integration. Es handelt sich dabei um eine Differenz, die kaum etwas zu tun hat mit dem altbekannten Widerspruch zwischen sogenannten Traditionalisten und Modernisierern. Zwar stehen die Kommunisten Griechenlands und Portugals einer sich vertiefenden Integration weiterhin reserviert gegenüber, da sie darin nur die Stärkung einer imperialistischen Supermacht sehen können. Den gegensätzlichen Pol dazu bezieht die spanische Linksunion, die in einer Stärkung der EU die Möglichkeit sieht, die weltpolitisch dominierende Stellung der USA auszutarieren. Doch bei den skandinavischen Linksparteien hingegen liegen die Dinge ganz anders. Sowohl die schwedische Vänstre, die dänischen Volkssozialisten als auch der finnische Linksbund berufen sich bei ihrer Gegnerschaft gegenüber einer weiteren Vertiefung auf ihre Verankerung im demokratischen Selbstbewußtsein ihrer Völker, das ihnen eine weitreichende Souveränitätsabgabe an ein übernationales Gremium nicht erlaubt. Bei der sehr unterschiedlichen Bewertung der Europäischen Grundrechtecharta sind diese gegensätzlichen Positionen in der europäischen Linken kürzlich sehr deutlich erkennbar geworden. Beide Programmentwürfe geben leider keine Auskunft darüber, wo sich die PDS in diesem Koordinatensystem einordnet. Eine Antwort darauf wird sie aber finden müssen, denn von einer Partei, die aus dem mächtigsten und einflußreichsten Mitgliedsstaat der EU kommt und deren Gruppe im Europäischen Parlament zu einem der stärksten Kontingente innerhalb der Fraktion der Vereinten Linken zählt, kann dies zu Recht erwartet werden.
[1] Als erster Entwurf wird im Folgenden der Text von André Brie, Michael Brie und Dieter Klein bezeichnet, wie er im Pressedienst PDS Nr. 17 vom 27.04.2001 veröffentlicht wurde Die in Klammern gesetzten Zahlen verweisen auf die Seiten dieses Papiers. Als zweiter Entwurf wird der von Monika Balzer, Dorothée Menzner, Ekkehard Lieberam und Winfried Wolf vorgelegte Text bezeichnet. Zitiert wird er in geschweiften Klammern entsprechend der der Ausgabe vom 12./13. Mai 2001 der Tageszeitung "junge Welt" beigelegten Fassung.
[2] Vgl. etwa Hans-Jürgen Bieling/Jochen Steinhilber, Hegemoniale Projekte im Prozeß der europäischen Integration, in: Die Konfiguration Europas, Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie, Münster 2000