Interview mit Uri Avnery zur aktuellen Situation in Israel / Palästina

Das Interview mit Uri Avnery ist leicht gekürzt erschienen in "Wissenschaft und Frieden" (W&F) Nummer 2/2001, Seite 60 - 62.

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Das Interview mit Uri Avnery darf gerne nachgedruckt werden, wenn obiger Hinweis angebracht wird.

Ungekürzte Version, 19.442 Zeichen, es ist ebenfalls eine gekürzte Version mit 15.100 Zeichen verfügbar.

Uri Avnery ist israelischer Publizist und Friedenskämpfer, er wurde 1923 in Beckum / Westfalen geboren und ist 1933 nach Palästina ausgewandert. Der 77-jährige war mehrfach Mitglied der israelischen Knesset und gründete als Fortsetzung seiner - seit 1948 andauernden - Friedensarbeit gemeinsam mit anderen 1992 die Gruppe Gush-Shalom (Friedensblock).

Tobias Pflüger war vom 28.10. bis 11.11. in Israel und Palästina, dabei besuchte er neben vielen anderen politischen Gruppen auf der palästinesischen und israelischen Seite auch Gush-Shalom.

Das hier vorliegende Interview mit Uri Avnery führte Tobias Pflüger für "Wissenschaft und Frieden" am 28.02.2001.

Tobias Pflüger: Die Ministerpräsidentenwahlen in Israel am 06. Februar sind ja erwartungsgemäß ausgegangen. Ariel Scharon ist neu
gewählter Ministerpräsident von Israel. Sie hatten sehr lange
für die Abgabe von weissen Stimmzetteln geworben, weil Sie Ehud
Barak wesentlich für das brutale Vorgehen der israelischen
Militärs gegenüber Palästinensern verantwortlich gemacht
haben.
Ehud Barak hatte ja im Westen den Nimbus eines
Friedensministerpräsidenten. Was ist das Resümee seiner
zweijährigen Amtszeit?

Uri Avnery: Der Eindruck, dass Barak ein Friedensministerpräsident
war, ist eine Legende. Barak hat die Siedlungen in den besetzten
Gebieten mehr vorwärts getrieben als alle seine Vorgänger. Er
hat überall in den besetzten Gebieten die Siedlungen erweitert,
neue Landstrassen für die Siedler gebaut, Häuser demoliert,
Bäume entwurzelt. Der Krieg gegen die Palästinenser ging unter
Barak uneingeschränkt weiter. Die Aussage, er hätte den
Palästinensern Zugeständnisse gemacht, die ein Frieden
ermöglicht hätten, ist auch eine Legende, denn in den
wichtigsten
Punkten war Barak weit davon entfernt das zu tun, was nötig war,
um einen Frieden zu ermöglichen. Er war nicht bereit auf die
israelische Souveränität auf den Tempelberg zu verzichten oder
sie
abzugeben, er war nicht bereit irgendeinen Kompromiss zur Lösung
der
Flüchtlingsfrage zu machen, er wollte große Teile des
Westjordanlandes nach Israel annektieren, alles das war weit davon
entfernt, es irgend einem palästinensischen Führer
zu ermöglichen, einen Kompromiss mit Israel zu schliessen.

Pflüger: Sie hatten kurz vor der Wahl doch noch dazu aufgerufen,
Ehud Barak statt Ariel Scharon zu wählen, mit welcher
Begründung?

Avnery: Die Begründung war, das Scharon eine nationale Gefahr ist
und im Vergleich zu Scharon alle anderen weniger schlimm sind und
wenn ich wählen müsste zwischen einem sehr schlimmen
Ministerpräsidenten und einem der noch viel schlimmer ist, habe
ich den schlimmen gewählt.

Pflüger: Was erwarten Sie von Scharon und wie denken Sie, wird
sich die Situation insbesondere in Bezug auf die von Israel
besetzten palästinensischen Gebiete entwickeln?

Avnery: Scharon ist ein Kriegsministerpräsident. Es ist ihm
vollkommen unmöglich, ein Frieden mit den Palästinensern zu
schliessen, weil er in allen praktischen Punkten das Gegenteil
sagt, von dem was die Palästinenser verlangen. In diesem
Augenblick ist er damit beschäftigt, seine Legitimität in den
Augen der Welt herzustellen, in dem er die zerrüttete und
jämmerliche Arbeitspartei für einen billigen Preis kauft.
Praktisch hat er Shimon Peres bestochen mit dem Amt des
Aussenministers und die Arbeitspartei auch bestochen mit dem Amt
des Verteidigungsministers, d.h. praktisch, dass die
Arbeiterpartei Scharon ein Alibi gibt, in den 2 wichtigsten
Sektoren des zukünftigen Krieges, nämlich Verteidigung und
auswärtige Angelegenheiten. Alles was jetzt unter Scharon
passieren wird, wird auf die "Konten" der Arbeitspartei
geschrieben, denn die Eskalation in den besetzten Gebieten, die
unabwendbar ist, wird von einem Arbeitspartei-
Verteidigungsminister gemacht werden und die Kriegspolitik von
Scharon wird von Shimon Peres unterschrieben werden. Das ist das
Allerschlimmste, was überhaupt noch passieren konnte.

Pflüger: Wieso macht Shimon Peres das mit?

Avnery: Aus reinem persönlichen Ehrgeiz. Shimon Peres ist 78 Jahre
alt, er ist direkt krankhaft besessen von der Angst, seinen Posten
zu verlieren und von der politischen Bühne zu verschwinden und
darum tut er, was andere vor ihm schon getan haben: Er verkauft
seinen Nimbus in der Welt, seinen Friedensnobelpreis um an der
"Macht" zu sein, also einen jämmerlichen Anteil an der Macht zu
haben.

Pflüger: Welche Position nehmen die verschiedenen Gruppen der
israelischen Friedensbewegung zum Israel-Palästina-Konflikt ein?

Avnery: Die israelische Friedensbewegung ist jetzt in einem sehr
sehr schwierigen Zustand. Ein großer Teil der Friedensbewegung
ist schon unter Barak zertrümmert worden, durch ihre
bedingungslose Unterstützung von Barak und seiner Kriegspolitik,
besonders nach dem Ausbruch des Freiheitskrieges, Intifada genannt,
ist ein großer Teil der sogenannten Friedensbewegung umgefallen.
Nur der harte Kern der Friedensbewegung hat standgehalten und
weiterhin seine konsequente Position vertreten und dieser harte
Kern ist jetzt im Begriff, sich auf die neue Situation einzustellen
und den Friedenskampf weiter zu führen, in einer Situation die
täglich schwerer wird. Wir sind jetzt in der israelischen
Öffentlichkeit isoliert und auch wegen der Eskalation des
palästinensischen Freiheitskampfes sind die Beziehungen mit den
Palästinensern schwerer geworden, denn in einem Freiheitskampf
will jedes Volk seine nationale Einheit bewahren und nationale
Einheit auf der palästinensischen Seite heute bedeutet ein
großer Bund zwischen der Fatah-Bewegung, der
fundamentalistischen Hamas-Bewegung, der extremistischen
Djihad-Bewegung und vielen anderen und das macht natürlich die
Arbeitsbedingungen der Friedensbewegung noch schwerer.

Pflüger: Wird es wieder mehr Widerstand von anderen israelischen
Gruppen unter einer großen Koalition oder unter Scharon geben
können, weil man dann nicht mehr meint, so viel Rücksicht auf
die Arbeiterpartei nehmen zu müssen?

Avnery: Der große Teil der israelischen Friedensbewegung,
besonders die Bewegung "Peace Now", "Frieden jetzt", "Shalom
Ahshav" ist traditionell abhängig von der Arbeiterpartei und von
der Meretz-Partei. Jetzt haben wir einen neuen politischen Zustand.
Die Arbeiterpartei ist in der Koalition mit den Rechtsradikalen,
mit den extremsten Rechtsradikalen. Ein anderer Teil der
Arbeitspartei ist gegen diese Koalition, aber man weiss noch nicht
wie sie sich praktisch verhalten wird, die Meretz-Partei wird in
der Opposition sein, alles das wird diesen Teil der
Friedensbewegung "Peace Now" vor eine sehr schwere Prüfung stellen
und ich glaube man kann heute noch nicht sagen wie das ausgehen
wird. Augenblicklich tut "Peace Now" überhaupt nichts, befasst
sich mit nebensächlichen kleinen Zwischenfällen und hat bis
jetzt
keine klare Einstellung. Ich glaube es wird noch einige Wochen und
Monate dauern, bis wir sehen, ob diese Bewegung überhaupt noch
funktioniert. Der harte Kern der Friedensbewegung, zu dem auch ich
gehöre, besonders die Bewegung Gush-Shalom, der Friedensblock,
sieht jetzt die Aufgabe darin, von vorne anzufangen:
Kompromisslose Opposition gegen diese Regierung zu machen und
konsequent ihre klaren und eindeutigen Friedenspositionen
zu vertreten. Ganz egal was die öffentliche Meinung dazu heute
sagt: d.h. die Rückgabe von Ostjerusalem an die Palästinenser
inklusive Tempelberg, Aufgabe aller Siedlungen, Wiederherstellung
der alten Grenze, der sogenannten "grünen Linie", ein
unabhängiger Staat Palästina und einen vernünftigen
Kompromiss
in der Flüchtlingsfrage. Das werden wir jetzt klar und eindeutig
aussprechen, mit der Erwartung, dass in den nächsten Monaten die
Lage im Lande noch viel schlimmer wird, der gewalttätige Kampf
noch bei weitem verschärft wird und in der Hoffnung, dass nach
dieser Phase eine Ernüchterung zustande kommt und dann diese
Position, die wir vertreten, eine klare Basis für einen Frieden
bieten kann.

Pflüger: Keine guten Aussichten...

Avnery: Ich möchte dazu etwas hinzufügen: Das sind zwar
schlimme Aussichten, aber ich bin weiterhin optimistisch. Man
muss immer bedenken, dass wir in einem Kampf sind, der schon
120 Jahre lang andauert, in dem schon eine 5. Generation
hineingeboren worden ist, ein Kampf der die Mentalität beider
Seiten auf allen Gebieten bestimmt und daher wäre es utopisch zu
erwarten, dass die Friedensarbeit leicht oder schnell sein könnte.
Es ist ein langer Vorgang mit Schritten vorwärts, aber auch
Schritten rückwärts. Wir sind jetzt auf einem großen Schritt
rückwärts, aber wir hoffen, dass wir danach wieder einen
großen
Sprung vorwärts machen können.

Pflüger: Wir hatten in Tel Aviv im November ein Gespräch mit
einem israelischen Politologen, der die Siedler in verschiedene
Gruppen - in ökonomische und ideologische Siedler - einteilte:
Er sprach von 200.000 Siedlern, die unter der Regierung Barak im
besetzten Gebiet lebten, soviel wie nie zuvor. Von diesen Siedlern
seien ca. 50.000 extrem religiös motiviert und ca. 500
gewalttätig und gefährlich. Ein Großteil der extremistischen
Siedler hätte gar keine israelischen sondern us-amerikanische
Pässe. Trifft das zu? Er meinte zudem, dass ein Grossteil der
israelischen Siedler durchaus bereit wäre, Regierungshilfen
vorausgesetzt, die besetzten Gebiete sofort zu verlassen.

Avnery: Man darf diese Differenzierung der Siedler nicht
übertreiben. Der harte Kern der Siedler ist eine
ultrareligiöse, messianische, rechtsradikale Sekte und die
beherrscht alle Siedlungen, d.h. die Institutionen der Siedler
werden vollkommen von diesem harten Kern beherrscht. Das sind die
selben Leute, die gestern vorgeschlagen haben, Jassir Arafat
umzubringen. Natürlich gibt es viele Siedler, die dort
hingegangen sind, nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil
sie dort praktisch für umsonst Luxusvillas bekommen haben, oder
weil sie aus den israelischen Städten in diese pastorale
Landschaft gehen wollten und dort "Lebensqualität" gesucht haben,
wie sie gesagt haben und vieles andere. Aber dadurch, dass sie
in den Siedlungen leben, auf geraubtem arabischen Boden,
mit geraubtem arabischen Wasser, das führt dazu, dass sie langsam
genauso schlimm werden, wie die ideologischen Siedler.
Die große Frage ist: Wenn jemals eine israelische Regierung
ans Ruder kommt die den Frieden will und bereit ist Frieden
zu machen und alle Siedler oder einen großer Teil der Siedler die
besetzten Gebiete räumen muss, wird es zu einem Bürgerkrieg
kommen.
Und ich würde sagen, wenn der Abzug aus den besetzten Gebieten
gescheit und vernünftig gemacht wird, kann man einen
Bürgerkrieg
vermeiden, obwohl gewalttätige Auseinandersetzungen wahrscheinlich
geschehen werden. Wenn Sie nach einem Vergleichsbeispiel suchen,
dann sind das die französischen Kolonisten in Algerien. Mehr als 1
Million französische Kolonisten haben Algerien fluchtartig
innerhalb von ein paar Wochen verlassen, nachdem Algerien seine
Freiheit erkämpft hat. Wenn es soweit sein wird, werden
wahrscheinlich viele der Siedler friedfertig nach Hause gehen,
wenn sie großzügige Entschädigungen bekommen, aber der harte
Kern
der Siedler, der ideologische Kern, wird ganz sicher gewalttätigen
Widerstand leisten.

Pflüger: In Deutschland sind relevante Teile der Linken nicht
bereit die israelische Regierungs-, Besatzungs- und Kriegspolitik
zu kritisieren. Es heisst, aufgrund der Geschichte dürfe man
Israel nicht kritisieren. Immer wieder werden auch moderate
Kritiker der israelischen Regierungspolitik mit dem Vorwurf des
Antisemitismus überzogen. Was sagen Sie dazu?

Avnery: Deutschland hat eine schlimme Vergangenheit und muss sich
mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen. Ich glaube das sollte
nichts damit zu tun haben, wie man sich zur konkreten israelischen
Politik stellt. Es gibt eine Art unangenehmen Philosemitismus, der
mich genauso unangenehm berührt, wie der Antisemitismus. Das ist
eine Sonderbehandlung, eine positive Sonderbehandlung, die im
Prinzip nicht sehr weit entfernt ist von der negativen
Sonderbehandlung. Israel muss genauso betrachtet werden wie jeder
andere Staat der Welt, mit den selben Maßstäben, mit den selben
moralischen Maßstäben. Von vielen Teilen der deutschen
Öffentlichkeit ist es eine moralische Drückebergerei. Man
drückt sich vor einer klaren Positionierung mit dem Vorwand, dass
der Holocaust es verbietet. Der Holocaust hat doch überhaupt
nichts
damit zu tun, was israelische Politik heute macht.
Natürlich gibt es, das muss man hinzufügen, antisemitische
Einstellungen, d.h. ein Antisemitismus, der sich tarnt als ein
Antizionismus, das muss genau so abgelehnt werden. Auch ist es sehr
dumm wenn Palästinenser oder Araber überhaupt diese Art
Antisemitismus unterstützen, denn es ist ja der Antisemitismus,
der die Juden nach Israel treibt. Eine Million Juden sind in den
letzten Jahren aus der Sowjetunion nach Israel gekommen,
getrieben durch den russischen Antisemitismus. Vernünftige
Araber verstehen, dass der Antisemitismus genau so ein Feind der
Araber ist, wie ein Feind der Juden.

Pflüger: Ja vielen Dank, ich denke das ist eine relativ wichtige
Antwort für uns hier. Was wäre denn Ihrer Meinung nach eine
richtige Konsequenz aus der deutschen Geschichte (sprich
insbesondere aus der industriemässigen Vernichtung von Juden und
Jüdinnen während des "Dritten Reiches" in Auschwitz und anderen
Vernichtungslagern)? Wie sollten sich Deutsche aufgrund dieser
Geschichte zum Israel / Palästina-Konflikt verhalten?

Avnery: Die richtige Konsequenz ist, das Deutschland eine moralische Innen- und Aussenpolitik betreibt und eine moralische Aussenpolitik bedeutet, dass man gegenüber allen Staaten der Welt inklusive Israel die selben moralischen Maßstäbe anlegt. Wenn es Deutschen scheint, dass Israel eine falsche Politik betreibt, dann sollen sie das klar sagen und ich würde sagen, dass eine unkritische Einstellung Israel gegenüber nicht davon zeugt, dass man positiv zu Israel steht, denn wirkliche Freundschaft bedeutet, dass man auch kritisch ist und sagt, was man glaubt, daß gut für Israel ist.

Wir in der israelischen Friedensbewegung werden nicht ermutigt unseren Kampf weiter zu führen durch eine unkritische Haltung im Ausland und auch in Deutschland. Ich glaube Deutschland sollte eine Friedenspolitik klar unterstützen auf internationalem Gebiet, auf dem europäischen Gebiet usw.

Ich möchte Ihnen ein praktisches Beispiel geben: Wir glauben, dass die Siedlungen das Haupthindernis sind zu einem Frieden. Weil die Siedlungen überhaupt aufgestellt worden sind von Beginn an, besonders von Ariel Scharon, um einen Frieden unmöglich zu machen, um das palästinensische Gebiet so zu zerschneiden, dass ein palästinensischer Staat nicht zustande kommen kann. Da wir das glauben, haben wir schon seit 5 Jahren ein Boykott hier in Israel verhängt gegen die Erzeugnisse der Siedlungen. In Europa, in der Europäischen Union (EU), ist das registriert und aufgegriffen worden, z.B. in Brüssel bei der Europäischen Kommission. Die Europäische Union hat einen Handelsvertrag mit Israel, der Israel sehr große Vergünstigungen gewährt, der aber nur auf das israelische Hoheitsgebiet beschränkt ist. Trotzdem werden die Erzeugnisse der Siedlungen nach Europa hineingeschleust als israelische Erzeugnisse. Die Europäische Union weiss das. Es handelt sich um ungefähr 200 Millionen Dollars pro Jahr. Die Bürokratie in Brüssel weiss das, will etwas dagegen unternehmen, kann es aber nicht, weil es von gewissen europäischen Staaten, besonders von Deutschland, sabotiert wird. D.h., das muss man klar sagen, dass heute Europa, inklusive Deutschland diese illegalen Siedlungen finanziell jährlich mit 200 Millionen Dollars unterstützt. Ich finde das unerhört!

Pflüger: Ja genau. Im Jahr 2000 wurde in Israel ein Armutsbericht
vorgelegt, dass große Kreise in Israel in Armut leben und dass es
vor allem bei den palästinensischen Israelis und den
orientalischen Juden viel Armut gibt. Der Tourismus bricht im
Moment zusammen, sowohl in Israel als auch in den
palästinensischen Gebieten und das alltägliche Leben der
Palästinenser ist ständig durch Absperrung, Einschränkung
usw. durch nächtliche Bombardierung geprägt. Welche
Möglichkeiten gibt es der unter diesen Bedingungen lebenden
Bevölkerung von hier aus wirksam zu helfen?

Avnery: Der palästinensischen Bevölkerung und den
palästinensischen Institutionen muss täglich geholfen werden
diese Situation zu überstehen, denn die palästinensische
Wirtschaft, die schon durch die vielen Jahre der Besetzung
zertrümmert ist, wird jetzt täglich noch mehr zertrümmert.
Die Bedingungen in den besetzten Gebieten sind so unglaublich,
dass man sich das überhaupt nicht vorstellen kann, wie heute ein
gewöhnlicher Palästinenser lebt, in einem Dorf, das von der
ganzen Welt abgeschnitten ist durch die israelischen Streitkräfte,
wo jeder Handel und überhaupt jede wirtschaftliche Tätigkeit so
gut wie unmöglich ist, wo die große Mehrheit der Menschen
arbeitslos ist, wo täglich geschossen wird von beiden Seiten, wo
täglich Leute umkommen, täglich. Das ist ein schrecklicher
Zustand und um das zu überstehen, braucht die palästinensische
Bevölkerung jede mögliche Unterstützung, Lebensmittel,
Medikamente
und besonders Geld und so viel ich weiss kommen nur sehr sehr
wenige Hilfsleistungen, es kommen Tropfen von Unterstützung an,
aber das sind Tropfen im Meer.

Zu Israel: Die Armen werden ärmer und die Reichen werden reicher
und die israelische Gesellschaft ist so eingerichtet, dass die
Wohlhabenden meistens aus Europa stammen und die Armen meistens
aus den orientalischen Ländern stammen und die ärmste Schicht
sind die arabischen Staatsbürger Israels, die eine Minderheit von
20% im Staate sind.

Pflüger: Wie bewerten Sie denn die sogenannte Vermittlung der
US-Regierung im Israel-Palästina-Konflikt? Sind die USA neutraler
Vermittler? Welche Rolle sollten Ihrer Ansicht nach die
europäischen Regierungen und insbesondere Deutschland spielen?

Avnery: Amerikaner können überhaupt nicht wirklich vermitteln, denn sogar Präsident Clinton, der wirklich große Versuche unternommen hat zu vermitteln, ist so von jüdischen Stimmen in Amerika abhängig und seine Frau ist mit den jüdischen Stimmen gewählt worden, es war unmöglich für ihn unparteiisch zu sein. Er hat praktisch die israelischen Einstellungen übernommen und als amerikanische Einstellung weitergegeben. Seine letzten Vorschläge, die Vorschläge die er veröffentlicht hat, kurz bevor er sein Amt verlassen musste, sind zwar bei weitem positiver als frühere amerikanische Einstellungen, aber sie sind noch weit entfernt, eine wirkliche unparteiische Vermittlung zu sein. Die neue Regierung sieht auch nicht sehr gut aus in dieser Beziehung, obwohl wir noch abwarten müssen, wie sie sich einstellen wird. Ich glaube sie hat weniger Interesse an diesem Konflikt überhaupt, sie konzentriert sich auf den Irak und versucht die arabische Koalition gegen den Irak wieder herzustellen, das könnte dazu führen, dass sie eine mehr unparteiische Einstellung haben könnte, aber offen gesagt, glaube ich nicht richtig daran. Ich bedauere, dass Europa, das eine viel wichtigere Rolle spielen könnte, schon seit langem abgedankt hat von jeder politischen Einwirkung im Nahen Osten. Im Nahen Osten, bei uns, ist Europa heute eine Mätresse Amerikas. Sie tanzt nach der amerikanischen Musik.

Pflüger: Welche Möglichkeiten gibt es denn für friedensorientierte Basisgruppen hierzulande und in Europa auf der palästinensischen und der israelischen Seite Basisgruppen zu unterstützen, praktisch von Initiativen zu Initiativen?

Avnery: Es gibt sehr viele Möglichkeiten, vor allem Friedensorganisationen auf beiden Seiten finanziell zu unterstützen, materiell zu unterstützen aber auch moralisch zu unterstützen. Man kann auch heute noch in der heutigen sehr sehr schwierigen Situation Friedensorganisationen unterstützen, in dem man in Deutschland oder in Europa überhaupt Konferenzen abhält, zu denen Israelis und Palästinenser eingeladen werden, um die Punkte zu diskutieren, die für eine erneute Friedensbemühung wichtig sind, z.B. die Flüchtlingsfrage, z.B. die Frage Jerusalems, die Frage der Siedlungen usw. Auf diesem Gebiet können europäische Institutionen vieles leisten, obwohl es in diesem Augenblick sehr sehr schwer ist, es ist in diesem Augenblick für Palästinenser sehr schwer sich mit Israelis zu treffen, weil in einem Zustand eines nationalen Freiheitskampfes solche Sachen schwer sind. Man braucht viel Mut dazu, aber es gibt viele mutige Palästinenser, es gibt auch mutige Israelis und ich glaube man könnte sehr viel tun, um diese Gruppen in Israel und Palästina moralisch und materiell zu unterstützen.

Pflüger: Gut, welche?

Avnery: Die Organisation zu der ich gehöre, Gush-Shalom, bekommt Unterstützungen aus Holland und manchen anderen Staaten, aber so gut wie keine Unterstützung aus Deutschland. Deutschland hat alle möglichen Stiftungen, die alle möglichen offiziellen Organisationen unterstützen, aber nicht die wirklichen Friedensbewegungen. Überhaupt nicht.

Pflüger: Eine abschliessende Frage: Häufig ist ja auch das Problem des Konfliktes Israel/Palästina, dass die Leute nicht wissen, wo sie sich informieren sollen, über welche Presseorgane, wo im Internet. Was würden Sie denn empfehlen, was Menschen ausserhalb Israels über diesen Konflikt lesen sollen?

Avnery: Es ist sehr schwer in Europa wirkliche unabhängige Informationen zu bekommen. Das Bild in allen europäischen Medien - ausnahmslos - ist geprägt von israelischer Propaganda. Wie in Israel selbst ist es äusserst schwer ein wirkliches und unabhängiges Bild zu bekommen. Wir bei Gush-Shalom haben eine Internetseite: http://www.gush-shalom.org und dort werden Sie auch die Adressen anderer Friedensorganisationen und Medien finden.

Pflüger: Gut, ich bedanke mich ganz herzlich. Ich hoffe, dass wir über "Wissenschaft und Frieden" und über die "Informationsstelle Militarisierung" etwas machen können für die Unterstützung Ihrer wichtigen Arbeit. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben und alles Gute für ihre Arbeit und die von Gush-Shalom.

Avnery: Alles Gute, Ihnen auch. Wiedersehen!

Das Interview mit Uri Avnery findet sich auch auf folgenden Homepages "Wissenschaft und Frieden" (http://www.iwif.de)
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