Same As It Ever Was

Die alte Geschichte von der musikalischen Verteidigung des Abendlands

in (23.04.2001)

"Same As It Ever Was": David Byrnes Refrain liegt mir jedesmal auf der Zunge, wenn wieder irgendein neuer Skandal über die Jugend und ihre Musik ausgebreitet wird.

Predigten gegen die Musik, die von und für "die Jugend" gemacht wird, reichen zurück bis zu Plato. Gelegentlich stehen seine Warnungen wieder auf, wie Untote, die immer aufs Neue Rache nehmen wollen.

Plato führt zwei prinzipielle Argumente ins Feld, und beide tauchen buchstäblich jedesmal wieder auf, wenn Kontroversen über Jugendkultur geführt werden. Das erste betrifft die Gefährdung der Autorität. In seinen "Gesetzen" schreibt er:

"Unser ehemals stilles Publikum ist laut geworden und glaubt selbst zu wissen, was gut und was schlecht ist in der Kunst; das alte 'Regime der Besten' ist in diesem Bereich einem üblen 'Regime des Publikums' gewichen ... Sich nicht um das Urteil derer zu kümmern, die es besser wissen - eine Haltung, die aus einem zügellosen Übermaß an Freiheit kommt - ist blanke Unverschämtheit. Das nächste, was daraus folgt, ist Ungehorsam gegenüber dem Magistrat, und dann die Emanzipation von der Autorität und Zucht der Eltern und Altvorderen." Plato befürchtet, daß unkontrollierte Musik einen Durst nach Freiheit weckt - offensichtlich keine gute Sache in seinen Augen. Solche Musik, behauptet er, ermutigt die Leute, zu ihrem eigenen Urteil zu stehen und sich Autorität zu widersetzen, ob in der Familie oder in der Politik.

Suspekte Körper

Platos zweite Sorge gilt dem fühlenden Körper und der Erregung, die bestimmte Musikstile in ihm hervorrufen können: Musik, die von Frauen oder von ethnischen Gruppen produziert wird, die für ihre "Laxheit" bekannt sind - zum Beispiel die Lydier. Für die Athenische Republik kommt Musik stattdessen nur in Frage, wenn sie entweder dem Ideal kriegerischer Disziplin verpflichtet ist, wie bei den Spartanern, oder wenn sie dem gemäßigten Austausch von Ideen dient, die rhetorisch vermittelt sind. Plato duldet Musik nur als ein Instrument, das einer bestimmten herrschenden Politik zuarbeitet. Sich selbst überlassen (oder dem schrecklichen "Regime des Publikums" überantwortet), ist die Musik, kraft ihrer Fähigkeit, direkt an den Körper zu appellieren, gesellschaftsschädlich.

Beide Ängste - Untergrabung von Autorität und Verführung durch Körperlichkeit - wiederholen sich ständig durch die ganze Musikgeschichte. St. Augustin berichtet, daß das geistige Wort ihn mit viel größerem religiösen Eifer erfülle, wenn es gesungen wird, aber gerade darum will er die Musik ganz aus der Kirche verbannen: "Denn die Sinne sind nicht damit zufrieden, in der zweiten Reihe zu stehen." Ein wiederkehrender Topos, ob bei Plato oder bei Calvin, ist dabei die Furcht vor Entmannung. Eine Kultur, die auf einer strikten Trennung von Geist und Körper beruht, ordnet die Musik aufgrund ihrer körperlichen Anziehungskraft der "weiblichen" Seite zu; "falsche" Musik verbindet Männer in einem körperlichen Zusammenspiel, das homophobe Ängste aufsteigen läßt. All die Sittenwächter der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit sind sich darin einig, daß die Männlichkeit selbst dabei auf dem Spiel steht und, als deren Verlängerung, die Autorität von Kirche, Staat und Patriarchat.

Adorno und andere Verteidiger des Abendlands

Wir sollten erwarten, daß sich die politische Linke in diesem Krieg auf die Seite der Freiheit schlägt, die der körperlichen Auflehnung gegen herrschende Vorschriften. Manchmal tut sie das auch. Aber mindestens ebenso oft sind die Befürchtungen der Linken, was die Musik betrifft, genau dieselben. Wie Plato und St.Augustin hat die Linke gern versucht, die Musik vor einen politischen Karren zu spannen - vorzugsweise in Formen von "Folk"-Musik, bei denen traditionelle Stile so verwendet werden, daß die Musik selbst eine möglichst geringe Rolle spielt. Polit-Folk ist die linke Variante der Calvinistischen Hymne: der Text steht im Vordergrund, um die Bedeutung zu kontrollieren; die Musik ist ihr Wasserträger; alle indirekten Appelle an den Körper sind eliminiert.

Gelegentlich wird auch die Musik selbst als ein Gebiet gesehen, in dem soziale Spannungen ausgetragen werden - am deutlichsten in den Schriften der Frankfurter Schule. Adornos Musikkritik (die ganz hervorragend ist, solange er sich auf Deutschland beschränkt) handelt vom unseligen Geschick der Aufklärung, die an ihren inneren Widersprüchen zusammenbricht. Die einzige künstlerische Haltung, die demzufolge in den 30ern noch in Frage kommt, ist ein modernistischer Stil, der dem "Schönen" abschwört (weil es hoffnungslos mit der Warengesellschaft verfilzt ist) und mit spröden, dissonanten Mitteln die Realität der Entfremdung zeigt.

Ausgehend von dieser Position, wütet Adorno mit außerordentlicher Heftigkeit gegen den Jazz. Der Jazz gilt ihm als bloßes Produkt der Kulturindustrie; eine Ware, mit der die Erben der idealistischen Tradition vom Pfad der kritischen Infragestellung abgebracht werden und in die Niederungen einer hirnlosen, hedonistischen Körperlichkeit geführt werden. Auf dem Spiel steht auch für Adorno - und seine Wortwahl ist dabei unmißverständlich - nicht nur der Verlust des intellektuellen und kulturellen Prestiges, sondern der Verlust der Männlichkeit, den dieser buchstäbliche Sündenfall nach sich zieht:

"Das Ziel des Jazz ist die mechanische Reproduktion eines regressiven Moments, eine symbolische Kastration. 'Gib deine Männlichkeit auf, laß dich kastrieren', äfft und verkündet der eunuchenhafte Klang der Jazzbands, 'dann wirst du zur Belohnung in eine Bruderschaft aufgenommen, die das Mysterium der Impotenz mit dir teilt'."

Adorno verteidigt entschieden den Vorrang der "hohen Kunst" gegenüber der populären Kultur. Aber auch diejenigen, die vorgeben im Namen der populären Kultur zu sprechen, zeigten oft dieselben Ängste wie er: vor dem Femininen, dem Körper, dem Sinnlichen. Erinnert sei an das Unsichtbarmachen der Frauen in der Musikgeschichte - von den "Blues Queens" der Zwanziger Jahre bis zu den Girl Groups der frühen Sechziger; oder an die bis heute fortwirkende Verachtung der Dance Music, die nach der Musik der Sechziger und ihrer "politischen Potenz" als jämmerlicher Abstieg gilt. Die "Disco ist Scheiße"-Kampagne ("Disco sucks"), mit ihrer unterschwelligen Panik vor "homosexueller" Musik, ist ein besonders plattes Beispiel; aber dasselbe findet andauernd statt, in der zwanghaften Abgrenzung gegenüber den vielen Afro-Amerikanischen Musikstilen (einschließlich Disco), in denen es um die Maximierung der physischen Qualität von Musik geht.

Der Verdacht, den man(n) gegenüber der Musik hegt, drückt sich auch in den vielen Untersuchungen über Popkultur aus, die sich für die Musik selbst kaum interessieren. Man widmet sich lieber den Texten, den ausdrücklichen politischen Bekenntnissen, ethnographischen Studien zur Rezeption, oder dem Thema der Kulturindustrie. Simon Frith geht soweit zu sagen, daß die "kritische" Analyse populärer Musik (in dem Fall Rap) "ein korrupteres Unterfangen ist als ihre Kommerzialisierung".

Sicher, Musik kann gelegentlich (wie in den Sechzigern) einer expliziten politischen Botschaft untergeordnet sein. Aber das sind die Ausnahmen. Für die Auseinandersetzung mit populärer Musik generell waren die Sechziger das Schlimmste, was passieren konnte: Weil ein winziger Prozentsatz der musikalischen Produktion direkt gegen den Vietnamkrieg oder soziale Unterdrückung protestierte, geriet all das in den Hintergrund, worum es in der populären Musik vorrangig geht, selbst in diesem programmatischen Jahrzehnt. Indem das Physische an der Musik getrennt wurde von dem, was angeblich ihre "politische Substanz" war, wiederholte die Kritik der Populärkultur jene Feindlichkeit gegenüber dem Körper, jene politische Eindämmung der Musik, die für die westliche Geschichte so typisch sind.

Die Techniken des Körpers

Es würde weiterführen, sich darauf zu konzentrieren, welche Wirkung Musik - nicht nur Pop, sondern jede Musik, einschließlich der Klassik - auf den Körper hat. Teresa de Lauretis spricht von den "Techniken des Geschlechts" und meint damit die Art und Weise, wie Film und andere Medien zur kulturellen Konstruktion dessen beitragen, was es heißt, Mann oder Frau zu sein. Geschlecht ist nicht durch Natur oder Biologie gegeben, sondern wird hervorgebracht und geformt durch die soziale Praxis und ihre Diskurse. Musik steht, nach meiner Auffassung, in vorderster Reihe unter den "Techniken des Körpers". Durch diese Techniken erlernen wir die sozial geformten Muster, in denen wir Bewegung, Zeit, Gefühle, Sehnsucht, Lustempfinden und vieles andere erfahren.

Diese Muster sind immer geprägt durch ihre Geschichte - eine Geschichte, die nach Klasse, Geschlecht, Ethnizität strukturiert ist. Musik stellt demnach ein Terrain dar, auf dem unterschiedliche Formen von Körperlichkeit (und genauso von Selbstwahrnahme, von sozialer Beziehung, von Gefühlen usw.) um Aufmerksamkeit und Einfluß wetteifern. Der Aufstieg einer sozialen Gruppe kündigt sich häufig zuallererst und mit besonderer Deutlichkeit in der Art an, wie ihre Musik den Körper entwirft. Deshalb ist es logisch, daß die Anhänger der traditionellen Stile gegen die Ketzerei des Neuen wettern. Sich stark mit einem bestimmten Stil identifizieren, heißt daran glauben, daß dieser Stil die Welt repräsentiert, so wie sie wirklich ist. Und die Leute sind normalerweise nicht begeistert davon, wenn ihre Welt und die damit zusammenhängenden Werte - insbesondere so grundsätzliche Fragen wie die Haltung zur Körperlichkeit - zum alten Eisen geworfen werden. Aber das ist nun mal der Weg, wie die Geschichte der westlichen Musik sich fortbewegt.

Die musikalischen Techniken des Körpers werden häufig über kommerzielle Mittel verbreitet, aber das mindert in keiner Weise ihren Einfluß. Ganz im Gegenteil. Die Verteufelung der Beziehung zwischen Musik und Geld reicht zurück bis ins Paris des 12.Jahrhunderts, wo städtische Beamte versuchten, strenge Regeln für die "Ministrels" aufzustellen, die dort in einem eigenen Ghetto wohnten - der Tin Pan Alley jener Zeit. Heute wie damals wurde als Problem empfunden, daß das, was sich so intensiv und authentisch anfühlt, für Geld gekauft werden soll: wir bezahlen Profi-Musiker dafür, die richtigen Knöpfe bei uns zu drücken, was das Ganze immer ein bißchen nach Prostitution aussehen läßt. Aber es war sehr oft "kommerzielle" Musik, Musik, die sich auf dem Markt behauptete und von ihm lebte - meistens aufgrund ihres körperlichen "Appeals" -, von der wesentliche Änderungen in der westlichen Kultur ausgingen. Das erotische Madrigal etwa, das mit dem Aufstieg der Printmedien im 16.Jahrhundert auf den Plan trat; oder die Volksoper im Venedig des 18.Jahrhunderts, die Codes fand, um das zu beschreiben - oder eher, zu konstruieren - was wir gewöhnlich für unsere privatesten Empfindungen halten.

Ein "schwarzes" Jahrhundert

Wie Adornos Haßtirade anzeigt, ist die einflußreichste musikalische Kraft des 20.Jahrhunderts - und zwar weltweit - die Musik von Afro-AmerikanerInnen, deren kulturelle Traditionen das physische Element betonen, ohne den Terror des Geist-Körper-Dualismus, der sich so verheerend in der europäischen Kultur ausgewirkt hat. Seit Okeh Records sich 1920 breitschlagen ließ, "You Can't Keep a Good Man Down" von Mamie Smith herauszubringen, ist die Musik von Afro-AmerikanerInnen gekauft und verkauft worden, bis sie sich über den ganzen Globus ausgebreitet hatte. Es steht außer Frage, daß schwarze MusikerInnen von den kommerziellen Medien oft in besonders übler Weise ausgebeutet wurden - die Künstlerinnen und Künstler bekamen normalerweise keinen Anteil an dem, was andere am Verkauf ihrer Musik verdienten. Die Art, wie schwarze Musik rezipiert wurde, hatte oft etwas Voyeuristisches und Bigottes - ein weißes Publikum schätzte an schwarzer Musik die Körpererfahrung, die es selbst sonst nicht hatte, und warf schwarzen MusikerInnen gleichzeitig diese "nachlässige" Körperlichkeit vor. Aber wenn wir uns die Kultur des 20.Jahrhunderts ansehen, ist es unbestreitbar, daß seine Bildsprache und die ganze Art, wie Körperlichkeit und Subjektivität durch Musik geformt wird, von Afro-AmerikanerInnen formuliert wurde. Trotz der Musikindustrie und all ihren Diebstählen, hat die kommerzielle Verbreitung dazu beigetragen, die musikalischen Formen hervorzubringen, die wir heute kennen und lieben, und auch die Art von Selbsterfahrung, die den meisten von uns heute so selbstverständlich vorkommt - Schwarzen und Weißen.

Die spannende Frage ist: Was macht das Politische an der Musik aus? Wenn man dabei an die übliche Parteipolitik denkt, ist die Musik dabei nicht mehr als ein Cheerleader. Wenn man an soziale Bewegungen und ökonomische Kämpfe denkt, kann Musik zum Instrument von Protest werden oder den Zusammenhalt einer Community stärken. Aber die musikalische Macht derer, denen man die gesellschaftliche und politische Teilnahme verweigert - die Jugend, die Unterklasse, ethnische Minderheiten, Frauen, Schwule - resultiert in der Regel aus ihrer Fähigkeit, ein anderes Bild von Körperlichkeit zu entwerfen; Formen der Körpererfahrung, in deren Gefolge andere, "experimentelle" Welten möglich werden. Die Angst, mit der die etablierte Gesellschaft auf fast jede musikalische Neuerung von seiten dieser Gruppen reagiert, weist darauf hin, daß es hier um etwas eminent Politisches geht.

Für die Ausgegrenzten ist es ein großer Vorteil der Kulturindustrie, daß sie sich um das "Politische" nicht kümmert: sie wirft jeden Groove auf den Markt, von dem sie glaubt, daß er sich verkauft. Das heißt nicht, daß KünstlerInnen oder ihr Publikum die Kontrolle darüber hätten, was in diesem Business geschieht; die Macht der Musikindustrie, alles aufzusaugen und politisch zu entschärfen, was sie in die Finger bekommt, darf nicht unterschätzt werden. Auch übersetzt sich kulturelle Präsenz nicht automatisch in soziale Macht. Dennoch, es ist oft der Markt, seine von der Profitjagd diktierte Wachsamkeit für Trends, was es der Musik ermöglicht, aus den verordneten Beschränkungen auszubrechen und als aktive Kraft an der Veränderung sozialer Strukturen teilzunehmen - Strukturen, die Plato und all jene, die ihm folgten, für das Herz der Politik ansahen.

1965: Die Musik der Kids

Ich will zwei Beispiele dafür geben, wie eng die Verbindung zwischen (konkurrierenden) Körperlichkeiten und Musik sein kann. Am 12.Mai 1965 kam der Produzent Jerry Wexler ins Studio, wo einige Musiker Aufnahmen machten, und sagte: "He, schaut mal her, warum macht ihr nicht das hier?" Er tanzte ein paar Schritte und erklärte, das wäre die Art, wie die Kids es täten: mit dem Beat auf der Zwei, und zwar leicht verzögert. Die Musiker waren begeistert, und was herauskam, war der Wilson-Pickett-Hit "In the Midnight Hour" - der Song, der einen neuen Soul-Stil schuf und Stax Records den Durchbruch verschaffte. Es ging um Verkaufen; Verkaufen was das Zeug hielt. Aber "Midnight Hour" machte ein breiteres Publikum mit einer neuen Art bekannt, mit seinem Körper umzugehen.

Die Kids, die sich so auf der Straße bewegten, waren hauptsächlich afro-amerikanische Kids; und der Rhythmus übersetzte ihre Art, sich zu bewegen, in ein Muster, das andere nachahmen konnten - und das Stück und alle, die auf ihm aufbauten, brachte dieses Muster mittels der Massenmedien zu Millionen von Leuten mit unterschiedlichstem ethnischem Hintergrund, die sich sofort dafür begeisterten. Musik basiert darauf, daß wir körperliche Wesen sind, sie funktioniert nicht ohne diese Erfahrung. Aber die Art, wie wir uns körperlich erfahren - unser Fundus an realen und möglichen Bewegungen und deren Bedeutung - ist in einem weit größeren Maße, als uns das bewußt ist, selbst durch Musik geformt.

Wer Leute zu "Midnight Hour" tanzen sieht, bemerkt den Unterschied: die minimale Verzögerung im Beat führt unwillkürlich, quasi am Großhirn vorbei, zu einem ganz bestimmten Set von Gesten, die den Hintern betonen - der sogenannte "Jerk" ("Ruck"). Der Song dirigiert, solange er läuft, den Körper und auch die damit verbundene Subjektivität.

"Midnight Hour" hat keinerlei "soziale Botschaft". Aber sein Siegeszug durch die Charts war ein Stück afro-amerikanische kulturelle Gegenmacht. Es geht um eine Art Körperlichkeit, die zentral zu afro-amerikanischen Dance-Stilen gehört, die aber vom Mainstream-Amerika auch 1965 noch als obszön angesehen wurde. Unter dem Einfluß dieser Musik begannen viele weiße ZuhörerInnen, ihren Körper in "schwärzerer" Form als bisher zu erfahren. Der Einfluß dieser Musik, ob getanzt oder nicht, trug bei zum politischen Klima des kulturellen "Cross-over" in den Sechzigern, genauso wie zu dem, was man "sexuelle Befreiung" nannte.

1600: Groovende Leichen

Es mag überraschen, daß sich im frühen 17.Jahrhundert eine ganz ähnliche Karriere eines musikalischen Stils abspielte, der mit marginalisierten und rassisch ausgegrenzten musikalischen Formen das Körpergefühl des Westens reformierte. Unter all der Beute, die bei den Raubzügen in der Neuen Welt gemacht wurde, fand sich auch ein Tanzstil: die sogenannte ciaccona.

Der Ursprung der Ciaccona ist nicht genau geklärt. Einige schreiben ihn den Indios in Peru zu, andere dem Einfluß von AfrikanerInnen, die als SklavInnen in die Neue Welt verschleppt wurden. Musikalisch sind beide Erklärungen plausibel: die Stücke, die StraßenmusikerInnen in Peru heute spielen, weisen eine Ähnlichkeit zur Ciaccona auf, während ihre charakteristische Struktur gegenläufiger Rhythmen sich in der afrikanisch geprägten Dance-Musik beider Amerikas wiederfindet.

Das Muster der Ciaccona ist relativ simpel. Ein extrem kurzes Motiv, manchmal keine vier Sekunden lang, wird wiederholt, den ganzen Tanz über. Was diese Wiederholungen so packend macht, ist ein Groove von jazzartigen, gegenläufigen Rhythmen, die einen extremen körperlichen Effekt haben

Als die ansteckenden Rhythmen der Ciaccona sich auf dem europäischen Kontinent ausbreiteten, lösten sie eine Art Tanz-Wahn aus, der wiederum die bekannten Reaktionen hervorrief. Die einen feierten die Ciaccona als Befreiung des Körpers, der unter der restriktiven Gewalt der westlichen Zivilisation erstickte; die anderen sahen in ihre den Untergang des Abendlandes. Beide Seiten waren sich jedoch einig, daß ihre Rhythmen, wenn sie einen erst einmal gepackt hatten, unwiederstehlich waren. 1615 wurde die Ciaccona vorübergehend verboten, wegen ihrer "unverbesserlichen, ansteckenden Liederlichkeit". Selbst blaues Blut schützte nicht vor der Ansteckung: man hörte auch von adeligen Damen, die der Ciaccona verfallen waren. Wie zu einem späteren geschichtlichen Zeitpunkt der Soul, setzte sich die Ciaccona über sorgfältig gehütete Grenzen von Rasse und Klasse hinweg. Was immer die Ciaccona in ihrem ursprünglichen Kontext bedeutet haben mag, in Europa wurde sie von Freund und Feind gleichgesetzt mit verbotenen körperlichen Freuden und gesellschaftlichem Zerfall. Es ist eine Ciaccona überliefert, in der sich ein katholischer Priester während einer Beerdigung verspricht und "vida bona" singt - das Stichwort, auf das hin seine Ministranten, die Nonnen und sogar die Leiche fröhlich loshotten. Der Bischof ruft sie zur Ordnung und läßt sich, in Untersuchung des Vergehens, eine Strophe vorsingen, die ihm prompt selbst in die Röcke fährt, worauf alle begeistert wieder einfallen; am Ende erteilt er allen die Absolution.

Die Ciaccona war ein Segen für die beginnende Entfaltung eines kommerziellen Musikmarkts. Ihre Elemente wurden von KünstlerInnen der weltlichen und der religiösen Musik aufgegriffen (der promineste Fall ist Claudio Monteverdi); ein frühes Beispiel des "trickle-up"-Effekts, der den Sound der Straße in die elaborierten Kunstformen bringt. Die musikalische Energie der Ciaccona trug in der Tat bei zu jenem Element von Bewegung, das für die frühe Tonalität charakteristisch ist - man kann soweit gehen zu sagen, daß Elemente, die als typisch für westliche Musik gelten, aus dem Kontakt mit indianischen und afro-amerikanischen Einflüssen entstanden sind.

... pfeif drauf

Same as it ever was: Mit diesem Seufzer wandten sich nach den Sechzigern viele KritikerInnen wieder von der Musik ab, nachdem sie die Welt offensichtlich nicht verändert hatte. Daß die Jugend die "rebellische" Rockmusik gegen neue, körperbetontere Musikstile eintauschte, wurde eher zynisch begleitet. Links wie rechts bemüht man sich, die Musik zu "retten" vor ihrer berüchtigten Fähigkeit, körperlich zu ergreifen. Aber genau darum geht es. Auch wenn die "Körpertechnik" neuer Stile nur eine Zeitlang aufrührerisch wirkt, bevor sie absorbiert wird, geht es doch darum, sie zu begreifen und den Kulturkampf dort zu analysieren, wo er passiert: in der Musik selbst. Es ist derselbe Effekt, um den sich 1965 genauso wie 1600 die ganze Aufregung drehte. Es geht immer um einen Groove, mit dem man beim besten Willen nicht aufhören kann; und wenn die Zivilisation dabei den Bach runtergeht - pfeif drauf.

Susan McClary ist Musikwissenschaftlerin, Kritikerin und Autorin experimenteller Theaterstücke; sie lehrt an der Universität von Kalifornien in L.A. "Same as it ever was" ist ein Vortragsskript und erschien zuerst in Evelyn McDonnell & Ann Powers: Rock She Wrote, N.Y. 1995. Übersetzung: CS.