Die neue Peripherie

Reformen in Osteuropa

Als im Jahr 1989 die Berliner Mauer fiel und die osteuropäischen Staaten sich einmütig in die ausgebreiteten Arme des Westens stürzten, wollte niemand an die bevorstehenden Probleme (...) denken.

Als im Jahr 1989 die Berliner Mauer fiel und die osteuropäischen Staaten sich einmütig in die ausgebreiteten Arme des Westens stürzten, wollte niemand an die bevorstehenden Probleme und Schwierigkeiten denken. Drei Jahre später, als die Sowjetunion zerfallen und die auf ihren Trümmern entstandene Russische Föderation ihren entschiedenen Übergang zum Kapitalismus erklärt hatte, wußten bereits alle, daß die Veränderungen schmerzhaft sein werden. Davon kündeten die Erfahrung der einstigen Bruderländer in Ost- und Zentraleuropa und die ernsthafte Krise, die die Sowjetwirtschaft durchmachte und aus der man ohne Verluste nicht herauskommen konnte. Weder 1989 noch 1991 zweifelte kaum jemand an der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges und daran, daß am Ende der Triumph des Kapitalismus garantiert ist. Mit diesem kommen eine effektive Wirtschaft, Freiheit und Aufschwung. Die Stimmen der Wenigen, die protestierten, wollte niemand hören.

Nach zehn Jahren gibt es in den ehemaligen sozialistischen Ländern immer weniger Menschen, die diesen Glauben teilen. Die eingeführten und hausgemachten Ideologen des Neoliberalismus versprachen den Völkern Osteuropas den Anschluß an den Westen. In zehn Jahren hat sich das Lebensniveau der beiden Teile des Kontinents nicht angenähert. Die osteuropäischen Staaten durchlebten einen tiefen wirtschaftlichen Rückgang. Einige von ihnen konnten später ein gewisses Wachstum erreichen, aber die Kennziffern aus den Jahren vor der Krise nicht überbieten. Es gelang auch niemandem, den Abstand zu den westlichen Nachbarn zu verringern. Die Staaten des einstigen sozialistischen Blockes sind sich darüber im klaren, daß sie allein nicht erfolgreich sein können, und sie setzten deshalb auf die Integration in die politischen Strukturen des Westens. Die diesbezüglichen Pläne der Eliten werden, wie vor zehn Jahren, von der Gesellschaft mitgetragen. Wieder glauben alle daran, daß der Eintritt in die NATO oder in die EG es endlich gestattet, aus der Sackgasse herauszukommen und in die Familie der reichen Völker aufgenommen zu werden. Die politische Integration wird die wirtschaftliche nach sich ziehen.

Diese Hoffnungen werden sich ebensowenig erfüllen wie die vorhergehenden. Die Mitgliedschaft in der NATO hat das Volk der Türkei nicht reich gemacht und bringt den Massen in Polen oder Ungarn keine Verbesserung der Lage. Was die Europäische Union betrifft, so sind die Staaten Osteuropas hier auf unvorstellbare bürokratische Hindernisse gestoßen. Sie müssen sich an Vorgaben halten, von denen selbst die Spezialisten der sowjetischen Plankommission nicht zu träumen wagten. Alles muß bis ins Detail abgestimmt werden, bis hin zum Durchmesser der Tomaten.

Hinter den bürokratischen Fallstricken verbirgt sich mehr als das Streben der Beamten in Brüssel, ihr Spiel zu spielen. Der Westen ist einfach nicht in der Lage, Osteuropa zu integrieren, selbst wenn er das wollte. Die Hoffnungen auf die Verbesserungen der gesellschaftlichen Situation im Osten nach dem Anschluß an den Westen sind im besten Falle naiv. Wenn der Eintritt der Oststaaten in die EU irgendwann erfolgt, wird das eine radikale Änderung der Union zur Folge haben. Sie wird aus dem Klub der Auserwählten zu einer hierarchischen Struktur, mit deren Hilfe die Reichen und Starken den Armen und Schwachen ihren Willen aufzwingen. Kurz gesagt, die Strukturen des ,,erweiterten" Westens sind dazu verdammt, etwas in der Art der 1989 vernichteten Strukturen des sowjetischen Blocks zu werden. Vielleicht aber auch etwas wesentlich Schlechteres.

Um jeden Preis danach strebend, sich in die westlichen Strukturen zu integrieren, handeln die ehemaligen Bruderländer nach dem Prinzip ,,Jeder für sich". Tschechien, Polen und Ungarn drängen Rumänien, die Slowakei und die baltischen Republiken ab. Die Ukraine unternimmt immer wieder den Versuch, sich am Ende der Schlange anzustellen. Die traditionellen Bindungen, die in den Regionen bestanden, lange bevor die sowjetischen Truppen kamen, sind außerordentlich schwach ausgeprägt, während sich die Widersprüche zuspitzen. In dem Maße steigt die Abhängigkeit vom Westen, von der Technologie bis hin zur Information. Das ehemalige Jugoslawien war seinerzeit stolz auf seine Unabhängigkeit von den Militärblöcken und das Fehlen nationaler Konflikte (sieht man von den Problemen mit der albanischen Minderheit ab). Heute ist Ex-Jugoslawien mehr als ein Territorium, auf dem ethnische Kriege toben. Es wird zu einer Zone, in der die NATO ständig militärisch präsent ist.

Immer mehr Menschen werden sich dessen bewußt, daß der 1989 eingeschlagene Weg in die Sackgasse führt. Ein Land nach dem anderen wird von der Protestbewegung erfaßt. Unruhen erschüttern Albanien und Rumänien 1998 und 1999. Die Staatsmacht geht mit Waffengewalt gegen die Protestierenden vor. Aber auch das hilft nicht. Zusammenstöße zwischen den Arbeitern und der Polizei sind in Polen und in der Ukraine an der Tagesordnung. Das politische Leben der Region ist genaugenommen eine Abfolge von Krisen.

Nicht nur die Anhänger des westlichen Kapitalismus sind in einer verzwickten Lage. Auch ihre linken Opponenten sehen sich ernsthaften Problemen gegenüber. 1989, als der Siegeszug des Kapitalismus in Osteuropa bei niemandem Zweifel hervorrief, waren die marxistischen Kritiker überzeugt, daß die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse die Arbeiterklasse schnell dazu bringen werden, sich ihrer tatsächlichen Interessen bewußt zu werden, sich selbst zu organisieren und für ihre Rechte einzutreten. Mit anderen Worten, die Entwicklung des Kapitalismus hätte den Anstoß geben müssen zu einer Erneuerung und zum Aufschwung der linken Kräfte - so wie es im letzten Jahrhundert im Westen der Fall war.

In den letzten zehn Jahren ist es nirgendwo - mit Ausnahme von Ostdeutschland - dazu gekommen. Die Diskreditierung der sozialistischen Idee ist nicht die Erklärung. Im Gegenteil, Meinungsumfragen zeigen, daß in fast allen Staaten, von der Mongolei bis Tschechien, diese Ideen weitaus populärer sind als 1989. Auch die gewöhnliche Erklärung der Schwäche der Linken - sie seien von den Führungen verraten worden - ist unzureichend. Alle Versuche der Schaffung einer neuen prinzipiellen und ehrlichen Opposition - und derartige Versuche gab es viele - sind zwischen 1989 und 1999 gescheitert. Ganz gleich, von welchem Land wir reden, das Bild ist überall dasselbe. Mit Ausnahme von Ostdeutschland. Aber gerade die Ausnahme erklärt die Regel. Die Neuen Länder im Osten sind einerseits vom westdeutschen Kapital und dessen Beamten offen kolonisiert worden, der Protest dagegen blieb nicht aus. Andererseits wurden die Neuen Länder in ein stabiles demokratisches System integriert und wurden zum ärmsten und am meisten ausgebeuteten Teil der reichen Gesellschaft.

Um zu verstehen, was im übrigen Teil von Ost- und Zentraleuropa passierte, muß man sich dem Wesen der sich hier vollziehenden kapitalistischen Entwicklung zuwenden. In den zehn Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich Osteuropa nicht nur von den kommunistischen Losungen verabschiedet, Staatsbetriebe privatisiert und eine eigene Finanzoligarchie hervorgebracht. Osteuropa hat sich der kapitalistischen Weltwirtschaft angeschlossen und ist zu deren neuer Peripherie geworden.

Alle tradierten Kennzeichen der peripheren Wirtschaft liegen auf der Hand. Die Verschuldung wurde in den 80er Jahren zu einem der größten Probleme, das weiter zunahm, als die Liberalen die Kommunisten in den 90er Jahren ablösten. Die Abhängigkeit von ausländischen Märkten und Technologien nahm zu. Kapitalmangel war ein allgemeines Problem. Dabei hatten alle Staaten des sowjetischen Blocks von den alten Regimen ein beträchtliches Wirtschaftspotential übernommen. Auch wenn man in Rechnung stellt, daß die Effektivität und Qualität der Produktion weit unter den im Westen geltenden Normen lagen, so war dieses Potential doch beeindruckend, verglichen mit anderen Regionen der Welt. Gerade das war auch die Quelle zahlreicher Illusionen hinsichtlich einer möglichen erfolgreichen Entwicklung.

Aber auch die wenigen Investitionen, die man erhielt, gingen an der Industrie vorbei. Immobilien waren lukrativer, das Geld wurde für Importe anstatt für die Entwicklung des eigenen Marktes und Exportpotentials aufgewandt, die Vorkriegsabhängigkeit reproduzierte sich auf neuer Stufe. Josef Borosz hat diese Entwicklung am Beispiel Ungarns beschrieben.

1989 war aber nicht nur das Ende der Geschichte. Es war auch ein Anfang. Doch ,,unbeschriebene Blätter" gab es nicht. Die Staaten Ost- und Zentraleuropas (mit Ausnahme von Tschechien) bildeten bis zum Zweiten Weltkrieg die Peripherie oder Halbperipherie des Westens. Das nationale Kapital war schwach und vom Ausland abhängig, die staatlichen Strukturen autoritär und das Beamtentum korrumpiert. Gerade die Schwäche des osteuropäischen Kapitalismus erklärt die Unfähigkeit der örtlichen Eliten, dem Ansturm Deutschlands 1939 bis 1941 standzuhalten. Während der Existenz des kommunistischen Blocks mußte Osteuropa in der Zwangsjacke des Einparteiensystems leben. Zur gleichen Zeit erfolgte die Modernisierung. Polen, Jugoslawien und Ungarn erstanden im wahrsten Sinne des Wortes aus Ruinen auf. Städte und Industrie wuchsen heran, ein Bildungssystem und ein Gesundheitswesen entstanden. Den unteren Schichten der Gesellschaft wurden soziale Möglichkeiten geboten, die bis dahin völlig versperrt waren. Nach Stalins Tod erfaßte die politische Krise fast alle Staaten des sowjetischen Blocks. Die Entscheidung, Reformen mit Repressalien gegenüber den aktivsten Oppositionellen zu verbinden, erwies sich als effektiv.

Ende der 70er Jahre war das Modernisierungspotential des Sowjetsystems erschöpft. Der in diesen Jahren eingeschlagene Weg hat die verstärkte Einbeziehung der Staaten Osteuropas als Peripherie des Westens vorbestimmt. In den 70er und 80er Jahren nahm die Abhängigkeit vom Westen ständig zu. Gleichzeitig fanden die inneren Probleme keine Lösung. Seit dem Moment, als das System nicht mehr in der Lage war, die von ihm geweckten Konsumbedürfnisse der Bürger zu befriedigen, wuchs die politische Unzufriedenheit. Die Bewegung von 1989 war sowohl ein Aufbegehren der erbosten Konsumenten als auch ein Aufstand der erwachten ,,Zivilgesellschaft".

Das Ergebnis war der Zusammenbruch der Regime in Osteuropa 1989 und in der UdSSR 1991. Die Ablösung des jeweiligen Regimes bedeutete nicht die Änderung der allgemeinen Entwicklungsrichtung. Mehr noch, gerade die Abschaffung der Strukturen kommunistischer Macht eröffnete den Staaten Osteuropas den Weg zur endgültigen Umgestaltung dieser Staaten in die Peripherie des kapitalistischen Weltsystems. In diesem Sinne waren die Jahre 1989 bis 1991 kein Umbruch, nicht der Beginn einer neuen Etappe, sondern lediglich der Kulminationspunkt eines Prozesses, der sich im vorhergehenden Jahrzehnt entfaltet hatte.

Gerade das erklärt die verblüffende Einfachheit, mit der die kommunistischen Eliten die Macht abtraten. Sie selbst wurden von dieser Macht, genauer von ihrer bisherigen Form, erdrückt. Selbstverständlich war die Bürokratie nicht homogen. Die Ideologen und der Repressivapparat fürchteten die Veränderung, aber ihr Einfluß war bereits nicht mehr stark. In den Ländern war das Kräfteverhältnis unterschiedlich. In der Tschechoslowakei hat es die ,,samtene Revolution" gegeben, in Rumänien kam es bis zum Bürgerkrieg. Auch die Beteiligung der Massen an diesem Prozeß war unterschiedlich. In Polen und Rumänien ging das Volk auf die Straße und forderte Veränderungen, in Ungarn wartete es passiv das Ergebnis des ,,Runden Tisches" ab, an dem Staatsmacht und Opposition verhandelten. In Rußland fürchtete die Mehrheit des Volkes von Anfang an die Reform. Aber die Dynamik und das gesellschaftliche Wesen dessen, was vor sich ging, waren überall gleich.

Die alte Nomenklatura löste die eigene Krise, indem sie das System zerstörte. Sie selbst strebte danach, ihre Positionen zu behaupten, und konvertierte Macht in Geld, um danach mit Hilfe des Geldes ihre Macht zu behaupten. Die kommunistische Elite hatte sich lange vor 1989 verbürgerlicht. Der Zerfall des Sowjetblockes bot ihr die Möglichkeit, sich öffentlich als Bourgeoisie zu erklären.

Äußerlich mag es scheinen, daß die Ereignisse von 1989 eine Fortsetzung der Bemühungen von 1968 waren. Aber das ist nicht richtig. In den 70er Jahren hat sich die Bürokratie grundlegend gewandelt. Breshnews Amtszeit war die Zeit, in der die herrschende Schicht in allen Staaten des sowjetischen Blocks korrumpiert wurde. Es ist paradox, daß gerade die Korruption die Bürokratie gegenüber den Losungen der Demokratie aufschloß. Die neuen Bedürfnisse der Eliten konnten nur in der ,,offenen Gesellschaft" befriedigt werden. Ein neuer Mechanismus der Legalisierung der Macht mußte her. Unter Bedingungen der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft befriedigte die egalitäre Ideologie die Herrschenden bereits nicht mehr, sie konnte nicht mehr als Rechtfertigung ihrer Herrschaft dienen.

Deshalb wurde die Losung vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz überall schnell verworfen. Die Kommunisten von gestern wurden schnell zu Liberalen oder rechten Sozialdemokraten. Die Aktivisten von 1968 wurden entweder an den Rand des politischen Lebens gedrängt (wie es in der Tschechoslowakei und teilweise in Rußland der Fall war) oder wurden gezwungen, selber ihre Ideologie radikal zu ändern und den Parteibürokraten zu folgen (so wie in Polen).

Ostdeutschland war eine Ausnahme. Der Osten wurde vom Westen annektiert. Die Konsumerwartungen der Massen wurden befriedigt, aber die örtliche Nomenklatura durch die mächtigere und reiche Bourgeoisie aus dem Westen verdrängt. Nach der Bürokratie kam die Intelligenz an die Reihe. Die Beleidigten protestierten. Und das waren gebildete und erfahrene Leute. Ohne eine Chance zu haben, in das System integriert zu werden, wollten sie es ändern. Es ist kein Zufall, daß in den neuen deutschen Ländern die linke Bewegung schneller auferstand als im übrigen Osteuropa.

Überall waren die Massen die Betrogenen. Aber man kann auch sagen, daß das Volk überall das erhalten hat, was es gefordert hatte. Es ist wie in der Geschichte vom Mann, der über Nacht reich werden wollte. Am nächsten Morgen teilte man ihm mit, daß sein Sohn gestorben ist und er die Versicherungsprämie kassieren kann. 1989 hatte das Volk die Freiheit und den Zugang zu westlichen Konsumgütern gewollt. Es hat beides erhalten, nur zu welchem Preis?

Die Wirtschaft in allen postsozialistischen Ländern ist in der Krise, das Lebensniveau ist gesunken. Für die Mehrheit der Bevölkerung ist der Zugang zur Bildung erschwert, das allgemein zugängliche Gesundheitswesen untergraben. Das Konsumparadies erwies sich als Klub für Auserwählte. Die Arbeitslosigkeit beträgt in allen Staaten, mit Ausnahme von Tschechien und Weißrußland, 10 bis 16 Prozent.

Da weder der Staat noch die Privatwirtschaft genügend Arbeitsplätze bereitstellen können, leben die Bürger nach dem Prinzip ,,die Rettung der Ertrinkenden sind die Ertrinkenden". Millionen gehen Geschäften nach, auf außerordentlich niedrigem technologischen und organisatorischen Niveau. Diese ,,Kleinunternehmen" sind eher ein Hindernis denn eine ,,Lokomotive" wirtschaftlicher Umgestaltung. Sie gehören nicht zur Kleinbourgeoisie, sind eher marginal, verfügen weder über Eigentum noch über ein gesichertes Einkommen.

Die Schattenwirtschaft gedeiht überall und prächtig. Die Ideologen der Reform von 1989 wiesen unisono nach, daß der Schwarzmarkt und das illegale Geschäft nur unter Bedingungen zentralisierter Planung und eherner staatlicher Regulierung erblüht waren, als spontane Reaktion der Bevölkerung auf die unnatürliche Beschränkung wirtschaftlicher Tätigkeit. Die Praxis beweist das Gegenteil.

Die Privatisierung hat nicht zur Modernisierung der Wirtschaften Osteuropas beigetragen, auf sie ist der Rückgang der Wirtschaft zurückzuführen. Ein spürbares Wirtschaftswachstum war gerade in den Staaten zu beobachten, die nicht den Rezepten des Internationalen Währungsfonds folgten. In China, wo das kommunistische Regime fortexistiert, und in Weißrußland, wo nach einigen Jahren Krise der unseren Neoliberalen und im Westen verhaßte Präsident A. Lukaschenko an die Macht gekommen ist. Gewisse Erfolge waren von 1989 bis 1997 in der Tschechischen Republik zu verzeichnen, wo die privatisierten Betriebe von staatlichen Investmentbanken aufgekauft wurden. Rußland durchlebte in diesen Jahren eine tiefe Krise. Sie war so tief, daß selbst gemäßigte Experten zu dem Schluß kamen, der reale Ausweg sei die Hinwendung zur Mobilisierungswirtschaft.

Der Kreis hat sich geschlossen. Die Politik, die auf die Demontage der zentralisierten Planung und der staatlichen Leitung der Wirtschaft gerichtet war, hat das Land in eine Lage gebracht, aus der man ohne außerordentliche Maßnahmen und aktive Einmischung des Staates nicht herauskommt.

Es ist aufschlußreich, daß die Senkung des Wachstumstempos der Wirtschaft und der zunehmende technologische Rückstand ständig als wichtigste Krisensymptome der einstigen sozialistischen Staaten angegeben werden. Als diese Staaten den kapitalistischen Weg beschritten, waren sie mehr als ein Jahrzehnt lang in der Lage, weitaus gravierendere Rückschritte auszuhalten. Auf den ersten Blick haben sie sich mit der technologischen Abhängigkeit vom Westen abgefunden. Was unter Bedingungen des Systemwettstreits unmöglich war, scheint nach der Vereinigung der Welt zu einem kapitalistischen System Normalität zu sein. Es ist völlig normal, daß sich die einen Staaten dynamischer als die anderen entwickeln und die Rückständigkeit der Peripherie notwendige Bedingung für die Entwicklung des Zentrums ist.

Die Staaten Osteuropas hatten gehofft, selbst Teil des Zentrums zu werden. Sie haben die Freiheit erhalten, nur ohne Reichtum. Die für die westliche Demokratie typischen Institutionen sind in allen Staaten der Region entstanden, von Albanien bis Rußland. Die Frage ist, wie werden diese Institutionen in einer Gesellschaft funktionieren, die sich grundlegend von denen im Westen unterscheidet? In Tschechien und Polen gelingt das, was man von Albanien, Rußland oder Lettland nicht sagen kann.

Das Jahrzehnt 1989 bis 1999 war ein Jahrzehnt des globalen Siegeszuges des Neoliberalismus. Die linken Kräfte waren demoralisiert. Die Beendigung des ,,Kalten Krieges", die in Europa als große Errungenschaft gefeiert wurde, bedeutete für die Völker der ,,Dritten Welt" die Rückkehr in die Zeit der absoluten Dominanz des Westens, sowohl auf wirtschaftlichem als auch auf politischem Gebiet. Die Unkosten dieses Transformationsprozesses hatte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zu zahlen. Für die Millionen, die das Konsumparadies ersehnten, war das eine unangenehme Überraschung. Die neoliberale Ideologie in ihrer reinen Form verlor schnell an Anziehungskraft. Um das Volk zu weiteren Opfern zu veranlassen, mußten zusätzliche Motivationen gefunden werden. Der Neoliberalismus wurde durch den Nationalismus gestützt. Auf der Suche nach einer nationalen Alternative zur kommunistischen Theorie und Praxis wandten sich die Ideologen des Nationalismus der Zeit vor 1945 (in Rußland den Jahren des Zarismus) zu, die sie mit dem ,,goldenen Zeitalter" verglichen. Die Regime, die an die Stelle der kommunistischen getreten waren, sahen ihr Ziel von Anfang an in der Restauration des alten Zustandes.

Alte Staatssymbole (Rußland, Ungarn und Polen) und Verfassungen (Litauen und Estland) wurden wiederentdeckt, Polen und Rußland, die formell Republiken bleiben, schmückten ihre Wappen mit Kronen. In der Slowakei, in Kroatien und (bis 1996) in Weißrußland wurde eine Symbolik verwendet, die früher jene der örtlichen faschistischen Organisationen war.

Eine Rückkehr in die Vergangenheit ist immer eine Utopie. Verglichen mit den 20er und 30er Jahren hat sich die soziale, wirtschaftliche und demographische Struktur der Länder Osteuropas grundlegend gewandelt. In einigen Staaten hat sich die nationale Zusammensetzung der Gesellschaft geändert. In Estland und Lettland bedeutete der Übergang zur staatlichen Souveränität den Verlust der Bürgerrechte. In anderen postsowjetischen Republiken werden die Fremden entlassen und die russischen Schulen einfach geschlossen.

Die Idee der Rückkehr zum ,,Goldenen Zeitalter" war eine reaktionäre Utopie, denn die Gesellschaft war auf einem weitaus höheren Niveau als dem, zu dem sie zurückkehren sollte. Je weiter der Prozeß der Restauration voranschritt, desto stärker wurde der spontane Widerstand. Dabei war die Entmodernisierung des gesellschaftlichen Lebens untrennbar mit der prowestlichen Orientierung in Politik und Wirtschaft verbunden. Und auch das ist gesetzmäßig. Die vorkommunistische Periode der meisten osteuropäischen Länder war eine Periode ihrer absoluten ökonomischen Abhängigkeit vom Westen. Die ,,Rückkehr zur Vergangenheit" war eine Ideologie, die die Restauration der Strukturen eines peripheren Kapitalismus gewährleistete. Das entsprach voll und ganz den Interessen der transnationalen Unternehmen und den Geldgebern im Westen. Was die Eliten vor Ort betrifft, so hatten sie keine Wahl.

Die aufgetretenen Widersprüche lösen in Rußland ebenso wie in allen anderen Ländern des ehemaligen sowjetischen Blocks endlose Debatten zwischen den ,,Westlern" und den ,,Bodenständigen" (oder Nationalisten) aus. Aber weder die Anhänger des ,,westlichen Weges" noch die Propagandisten der ,,Eigenständigkeit" können einen realen Ausweg aus der Situation aufzeigen. Sie können sogar nicht ohneeinander auskommen, denn in der Praxis hängen ,,zivilisierte" und ,,barbarische" Strukturen eng miteinander zusammen. Wenn in den meisten osteuropäischen Staaten die Linken einmütig zu ,,Westlern" geworden sind, worin möglicherweise der einzige Unterschied zu den Rechten besteht, so ist in Rußland, das eine Zeit der tiefsten nationalen Erniedrigung erfährt, die Kommunistische Partei zu einer slawophilen geworden. In beiden Fällen versuchen die linken Parteien, sich nicht auf die Massen, nicht auf die Mehrheit der Werktätigen, sondern auf einen bestimmten Teil der örtlichen Eliten zu stützen. Sie sind de facto zu einem Teil des neoliberalen Systems geworden, sind unfähig und nicht willens, den Massenprotest zum Ausdruck zu bringen.

Selbst vor diesem Hintergrund war die nationalistische Politik der KPRF von 1994 bis 1999 skandalös. Es geht nicht allein um die antisemitischen Äußerungen der Parteiführer. Als Oppositionspartei stimmte sie ständig für das monetaristische Budget. 1999, als die Werktätigen in zahlreichen Regionen hungerten, als die Mitarbeiter des Gesundheitswesens und der Volksbildung auf die Straße gingen, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen, erklärten Führungsmitglieder der KPRF, daß das politische Leben im Land ,,die Züge eines gefährlichen Antagonismus verliert".

Die Partei sah ihre Aufgabe nicht in der Verteidigung der Interessen der Werktätigen, sondern darin, die Kräfte zu bündeln, die die Priorität der nationalstaatlichen Interessen, einer auf das Wohl des Landes gerichteten Wirtschaft und die Idee der Wiedergeburt von Großrußland verteidigen. Wie die Grundlagen dieser Wirtschaft aussehen sollen, teilte die Partei nicht mit. Kein Wunder, daß die Partei mit Blick auf den Linksruck der Bevölkerung ihre Positionen preisgab, statt sie zu festigen.

Alle haben verloren. Nach nicht ganz zehn Jahren sitzen alle, Sieger und Besiegte, in ein und derselben Falle. Der periphere Kapitalismus hat nicht vermocht, Osteuropa zu modernisieren. Genaugenommen ist jeder Versuch, eine Bereinigung des Kapitalismus nach liberalem Rezept vorzunehmen, ebenso zum Untergang verurteilt wie Gorbatschows Perestroika. Korporative und Nomenklaturastrukturen können nicht vernichtet werden, wenn die Grundlagen des peripheren Kapitalismus unangetastet bleiben. Das Prinzip des Privatunternehmertums und des Privateigentums ist in Frage zu stellen. Deshalb kann die Frage der Modernisierung in Osteuropa nur von den linken Kräften selbst und mittels radikaler antibourgeoiser Umgestaltungen gelöst werden. Ende der 90er Jahre ist kein einziges Land reif für diese Umgestaltung, und die linken Parteien sind unfähig, als eine solche radikale Kraft in Erscheinung zu treten. Daraus folgt nur, daß die postsozialistische Welt - wenn neue revolutionäre Erschütterungen ausbleiben - verdammt ist, den Weg, den sie heute geht, weiter zu gehen.

Was kann dem entgegengesetzt werden? Der Widerstand gegen das System wächst. Ein Teil der Werktätigen, der die Schule des Marktes durchlaufen hat, wird zur potentiellen Massenbasis der linken Bewegungen, auch wenn diese Basis unvergleichlich geringer ist, als die orthodoxen Marxisten glaubten. Wesentlich ist, daß die Linke Bündnispartner finden kann. Osteuropa sieht sich den Problemen gegenüber, die es Anfang des 20. Jahrhunderts quälten. Wieder sind es Fragen der Modernisierung und Unabhängigkeit, auf die weder Liberale noch Kommunisten oder Nationalisten eine Antwort geben konnten. In dieser Situation sind die Linken einfach gezwungen, ihr Projekt zu unterbreiten.

Dieses Projekt wird ein nationales und gleichzeitig konsequent antinationalistisches sein. Wird es gelingen, das neue Projekt der Befreiung zu verwirklichen? Wird es Teil umfassenderer globaler Umgestaltungen, die letzten Endes zur Aufhebung des kapitalistischen ,,Weltsystems" und seiner Ablösung durch eine gerechte Weltordnung führen? Der politische Kampf in den postsozialistischen Ländern beginnt erst, und es gibt vorerst mehr Fragen als Antworten. Eines ist klar: Nach 1989 haben die Bürger Osteuropas kein besonderes Schicksal mehr. Sie werden mit der Mehrheit der Menschheit gewinnen oder verlieren.

Aus dem Russischen von Wladislaw Hedeler

Anmerkung

* Gekürzt aus: Swobodnaja Mysl 1999, Nr. 2, S. 60-73.

Boris Kagarlitzki, Dr., Politologe, Russische Akademie der Wissenschaften Moskau