Editorial

Wissenschaft und Frieden 04/2000

Der von US-Präsident Bill Clinton am 1. September bekanntgegebene Entschluss, die Entscheidung über den Bau und dieStationierung eines nationalen Raketenabwehrsystems

(National Missile Defense, NMD) seinem Nachfolger zu überlassen,
wurde weltweit mit Erleichterung aufgenommen.

Zu offensichtlich war nach dem gescheiterten Abwehrtest vom 7.
Juli, dass der politische Anspruch, einen begrenzten
Raketenangriff abzuwehren, derzeit technisch nicht einzulösen
ist. Zwar wurde mit der Verschiebung Zeit gewonnen, doch
Anlass zur Beruhigung gibt es nicht. Al Gores Kontrahent
George Bush Jr. lässt keinen Zweifel daran, dass er ein noch viel
größeres NMD möchte. Nur zu berechtigt sind daher die
Befürchtungen Russlands und Chinas, sie könnten ihre
Abschreckungsfähigkeit gegenüber den USA verlieren.

Es zeigt sich jedoch erneut, dass selbst der mächtigste Politiker
nicht an den Gesetzmäßigkeiten der Physik rütteln kann. Eine
Rakete kann eben nicht mit einer Fliegenklatsche vom Himmel
geholt werden. Allerdings zählt in der Politik der Anschein oft
mehr als die Wahrheit. Allzu deutlich wurde dies im Golfkrieg,
als das völlige Versagen der Patriot-Abwehrrakete der USA als
grandioser Erfolg verkauft wurde.

Selbst wenn NMD auf absehbare Zeit nicht zuverlässig
funktionieren sollte, schafft es dennoch Tatsachen. Es erhöht die
Unsicherheit zwischen den potentiellen Gegnern, die dagegen
rüsten, um ihre Abschreckung zu sichern. Auch die USA und
andere NATO-Staaten werden sich kaum auf einen löchrigen
Raketenabwehrschirm verlassen wollen und daher ihre eigenen
Kernwaffen behalten bzw. modernisieren.

Die Risiken der immer noch viel zu großen Nuklear- und
Raketenarsenale sind nicht virtuell, sie sind ganz real. Dies zeigt
einmal mehr das gesunkene russische Atom-U-Boot, das der
Welt einen Schrecken über die Gefahren von Nuklearunfällen
eingejagt hat. Statt dieses Ereignis aber zur Kritik an der
Atomrüstung insgesamt zu nutzen (auch in den USA gab es
Atomunfälle), kritisierten die westlichen Medien lediglich den
sowjetischen Führungsstil Wladimir Putins. Kaum erwähnt wird,
dass Putins Großmachtpolitik nicht nur ein Produkt
innenpolitischer Machtspiele ist, sondern auch eine Reaktion auf
westliche Dominanzbestrebungen, von der
NATO-Osterweiterung über den Kosovokrieg bis zur
Raketenabwehr. Mit NMD würden die nuklearen Risiken noch
multipliziert. Dies zeigt nichts deutlicher als der Vorschlag der
USA, Russland solle seine Atomwaffen nicht abrüsten, sondern
in höchste Alarmbereitschaft versetzen, um NMD überwinden
zu können.

Aus den Erfahrungen des Kalten Krieges kann es nur die
Konsequenz geben, Atomwaffen nicht zu bekämpfen, sondern
vollständig zu beseitigen. Die Abrüstung ballistischer Raketen
blieb bislang allerdings nur ein Randthema. So beklagte Jayantha
Dhanapala, Leiter der Abrüstungs-Abteilung der Vereinten
Nationen, am 3. Juli: "warum bleibt die öffentliche Debatte heute
in einem Duell zwischen Abschreckung und Abwehr gefangen,
während die Abrüstung von Raketen nur eine geringe
Aufmerksamkeit erfährt?"

Die mit der NMD-Verschiebung gewonnene Zeit könnte für
politische Initiativen zur internationalen Kontrolle und Abrüstung
ballistischer Raketen genutzt werden. Konkrete Vorschläge für
ein globales Raketenkontrollsystem möchte Russland auf den
Weg bringen. Schritte in Richtung auf eine multilaterale
Raketenkontrolle und verbesserte Frühwarnung wurden Ende
März 2000 bei einem Expertengespräch in Ottawa diskutiert. Als
mögliches Modell für umfassende Raketenabrüstung könnte ein
1992 von der Federation of American Scientists (FAS)
erarbeiteter Vorschlag dienen. Ein Raketenteststopp würde den
Entwicklungsstand bei Raketen einfrieren und wäre zudem
überprüfbar.

Bei der Entwicklung solcher Abrüstungskonzepte ebenso wie bei
der kritischen Analyse von Rüstungsprogrammen wie NMD
spielt die Friedenswissenschaft eine wichtige Rolle. Dass die
technischen Grenzen der Raketenabwehr so stark ins öffentliche
Bewusstsein gedrungen sind, ist der beharrlichen Aufklärung
durch Physiker zu verdanken. Einer der aktivsten und zähesten
Gegner von NMD ist Ted Postol, Professor am MIT, der sich
dabei mit mächtigen Gegnern anlegt. Nach dem Golfkrieg drohte
ihm die MIT-Spitze, unter dem Druck ihrer Rüstungsgeldgeber,
aufgrund seiner Patriot-kritischen Äußerungen gar mit der
Entlassung. In der NMD-Debatte drehte Postol nun den Spieß
um: Er verklagte die Verantwortlichen, bei einem der
Abwehrtests einen Erfolg nur vorgetäuscht zu haben.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass es weiterhin einen großen
Bedarf an kritischer friedenswissenschaftlicher Expertise gibt,
einer der Bereiche, in denen Frieden zum Beruf werden kann.
Leider stehen den immer neuen Konfliktherden nicht die
adäquaten Mittel gegenüber. Nicht einmal die mit hohen
Vorschusslorbeeren bedachte deutsche Stiftung für die
Friedensforschung konnte bislang vom Stapel laufen. Wie
einfach war es dagegen im vergangenen Jahr, in kürzester Zeit
Milliardenbeträge (also das Tausendfache) für den Krieg zu
bewilligen. Wenn es für den Krieg immer noch mehr Geld gibt
als für die präventive Bewahrung des Friedens, dann müsste
Deutschland dem Krieg den Krieg erklären.

E-Mail: scheffran@hrzpub.tu-darmstadt.de