Linke Positionen, linke Politik. Zur Programmdebatte der PDS

Programmdebatten sind stets Standortdebatten, analytische und politische.

Programmdebatten sind stets Standortdebatten, inhaltliche beziehungsweise analytische und politische. Von "aufgezogenen Bannern" war früher die Rede. (Friedrich Engels schrieb im März 1875 an August Bebel: "Aber ein neues Programm ist doch immer eine öffentlich aufgepflanzte Fahne, und die Außenwelt beurteilt danach die Partei."1) Solche jedoch hatten "heilig, die letzte Schlacht" zur Voraussetzung: aus der ruchlosen Welt untergehenden Kapitalismus durch das Fegefeuer der Revolution in das sozialistische oder kommunistische Paradies. Ein klares Woher, ein klares Wohin und ein eindeutiges Wer, nämlich durch "die Partei", die daher immer recht hatte, waren gleichsam gesetzt.

Dies ist entzaubert, nach dem Ende des kommunistischen Herrschaftssystems und des Realsozialismus. Nichts ist mehr gesetzt.

Wo aber kommt ein neues Programm her, wenn es mehr sein soll, als die Wiederholung der alten Glaubenssätze unter den gründlich gewandelten Bedingungen? Der Zeitgeist weht dem Vorhaben ins Gesicht. Nicht nur, daß die ostdeutschen Intellektuellen, die etwas beitragen könnten, weitestgehend von den Universitäten entfernt wurden; auch im Westen verschwindet ein Denken, das sich noch auf Marx bezog, mittels Pensionierung und Berufungspraxis von den Hochschulen. Die kulturalistische Wende in den Sozial- und Geisteswissenschaften stellt Erkenntnis als intellektuelle Vergewisserung überhaupt in Frage. Marx und Hegel wird schon vorgeworfen, daß sie überhaupt etwas zu wissen meinten; alles verschwindet im Grau der Kommunikation, ist schließlich nur noch Kommunikation, Vereinbarung, Konvention, Illusion. Auf der anderen Seite ist von Sachzwängen die Rede, die nicht mehr zu konterkarieren seien: der Technik, des Marktes, der Globalisierung. Aus beiden Perspektiven ist es altmodisch, nach Macht, Herrschaft, systemischer Fehlsteuerung zu fragen. So meinte Jürgen Habermas: "In komplexen Gesellschaften scheitern auch die ernsthaftesten Anstrengungen um politische Selbstorganisation an Widerständen, die auf den systemischen Eigensinn des Marktes und der administrativen Macht zurückgehen."2 Und Ulrich Beck sekundierte: "Handeln ist eine gefährliche Illusion. Es setzt ein Ich voraus, das es bewiesenermaßen schon lange nicht mehr gibt."3 Es gilt als ausgemacht, daß Politik nichts oder nur noch sehr wenig bewirken könne. Was also soll eine Partei, die noch etwas bewegen will? Wozu bräuchte sie ein Programm?
Gegenbewegung ist oft nichts anderes mehr als moralisierender Rigorismus. Da man den Staat nicht mehr "erobern" zu können glaubt, lehnt man ihn als "bürgerliche" Mißgestalt überhaupt ab. Da man die alleinseligmachende Versprechung des kommunistischen Garten Eden nicht mehr hat, werden die alternativen "Projekte" in die Kleingruppe verlegt. Das Sektentum, in intimer Runde sich des wahren Glaubens gegenseitig zu versichern, die Gemeinschaft des gegenseitigen Herzerwärmens, hat allerdings den Rückzug aus der Politik zur Folge, oder apolitische Störaktionen, wenn vorn einer steht, der Bezug auf die real existierende Gesellschaft, politisches Handeln einzufordern versucht. Die "linke" Linke ist müde geworden nach den Konvulsionen des 20. Jahrhunderts. Selbstzweifel wurden zur Zwillingsgestalt des Sektenglaubens, die Gewißheiten kehrten in alter Gestalt oder als deren Ableitungen zurück.

Auf diesem Wege wurden auch Deutungskompetenzen freiwillig aufgegeben. Gesellschaft, Demokratie, Freiheit werden kaum noch überzeugend von "links" definiert. Vom Begriff des "Fortschritts" ganz zu schweigen, der nunmehr in den Händen der neoliberalen Propheten des ungebremsten technischen Entwickelns und finanzmarktlichen Spekulierens ist. So scheint die "Linke" heute kulturpessimistisch, miesepetrig, kleinmütig. Mit dem Benennen allen Elends in der Welt, um sie ein Jammertal zu heißen, und dem Schluß, ein reines, asketisches Leben leben zu sollen, ist jedoch keine Politik zu machen. Und jede religiöse Sekte kann dies besser, hat sie doch die Möglichkeit, wenigstens im Jenseits das wahre Leben zu verheißen. Die Programmfrage wurde zur Frage nach der Politikfähigkeit. Wer die nicht will, soll sich in Programmfragen nicht ereifern.

Voraussetzungen
Ausgangspunkt jeglichen neuen Nachdenkens über politische Programmatik von "links" muß das Scheitern des Realsozialismus sein. Es sind Legenden, die mehr mit Freud als mit historisch-materialistischer Analyse zu tun haben, wenn behauptet wird, Lenin hätte nichts mit Marx, Stalin nichts mit Lenin und der westliche Marxismus nichts mit diesen zu tun gehabt. In diesem Sinne etwa sagte Monika Runge (MdL/Sachsen) auf einer Konferenz zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution - und dies soll hier nur exemplarisch zitiert sein: "Der Rückbezug des geschichtlichen Resultats am Ende des 20. Jahrhunderts auf den historischen Ausgangspunkt dieser Epoche und ihre theoretischen Repräsentanten läßt den Schluß zu: Wir sind wieder bei Marx Â…"4 Entgegen einer solchen Sichtweise ist zu betonen: Der Realsozialismus war durchaus die Probe aufs Exempel dessen, was von der proletarischen Revolution erwartet worden war: die Enteignung der "Kapitalistenklasse" durch den Staat der siegreichen "Arbeiterklasse", die Abschaffung der "Anarchie der Produktion" durch die "sozialistische Planwirtschaft", auf deren Grundlage die "Springquellen" des gesellschaftlichen Reichtums fließen sollten, wodurch freies Volk auf freiem Boden zu stehen kommen sollte. Am Ende war nicht einmal das Politbüro wirklich frei, geschweige das Volk; die Wirtschaft erstickte an bürokratischer Regulierung und erstarb schließlich an Innovationsschwäche. Das Scheitern von Gorbatschows Perestroika machte die schlußendliche Reformunfähigkeit des überkommenen Systems zur Genüge deutlich.

Was aber war da untergegangen? In der Stalinschen Interpretation, die sich in gewissem Maße auf Marxsche Aussagen beziehen konnte, war der Sozialismus das erste Stadium des Kommunismus, gleichsam dessen unvollkommene Phase. Der klassische Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus war jedoch ein anderer. Lorenz Stein definierte den Begriff des Kommunismus, indem er ausführte: Das "Bewußtsein des Proletariats von dem Widerspruch seiner Lage mit der Idee der Freiheit und Gleichheit, das sich negativ gegen Eigentum und Familie verhält, weil es in ihnen die absoluten Gegner der Freiheit und Gleichheit sieht, und die Gesamtheit der Systeme, Sekten und Bewegungen, welche aus diesem Bewußtsein hervorgehen, nennen wir den Kommunismus". Unter Sozialismus versteht er dagegen die "systematische Entwicklung der Idee des Kapitals, des Eigentums, der Familie, der Gesellschaft und des Staates unter der Herrschaft der Arbeit".5 Mit anderen Worten: die soziale Frage - der Besitzlosigkeit unter der Voraussetzung der (industriellen) Produktion - beantwortet der Kommunismus mit der Abschaffung privaten Eigentums, während der Sozialismus es unter die (politische) Kontrolle der "Herrschaft der Arbeit" zu stellen bestrebt ist.
Wird in diesem Zusammenhang die auf Ferdinand Tönnies zurückgehende Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft wieder aufgenommen, so ist Gesellschaft mit Rückgriff auf den Tausch - in dem Sinne, daß die Tauschpartner sich wechselseitig als die Eigner des Auszutauschenden anerkennen und durch äquivalenten Austausch den Wert ihres Vermögens zu erhalten bestrebt sind - zu definieren, während die Gemeinschaft an einheitliche Arbeit und gemeinsame Haushaltung gebunden ist. Gemeinschaft und Gesellschaft sind somit unterschiedliche Verbindungsarten zwischen Menschen, die durchaus gleichzeitig und einander überlappend auftreten. Gesellschaft ist stets gebunden an Eigentum, das wiederum nur als Privateigentum - gemeinschaftliches oder persönliches - realisierbar ist. Die (roh)kommunistische Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln hat daher notwendig die Abschaffung des Handels, des Geldes, der Rentabilität zur Voraussetzung. Es handelt sich hier folgerichtig nicht um eine "Vergesellschaftung", sondern um eine Vergemeinschaftung der Produktionsmittel.6
So ist Peter Ruben zu folgen, wenn er feststellt: "Die Wende 1989/ 91 war keine Entscheidung über den Sozialismus als eine Gesellschaftsordnung, sondern über den Kommunismus als eine Gemeinschaftsordnung."7 Die Inangriffnahme heutiger Probleme bedarf der Nutzung der Institutionen der Gesellschaft, nicht ihrer Abschaffung.

Die Spaltung der historischen Arbeiterbewegung im Umfeld des Ersten Weltkrieges erfolgte programmatisch genau an diesem Punkt. (Politisch geschah sie in Gestalt der Ermordung der sozialdemokratischen Novemberrevolution durch ihre sozialdemokratischen Führer, hier folge ich Sebastian Haffner,8 und der Gewalttaten an den Kommunisten in Deutschland einerseits und der Mordtaten der russischen Bolschewiki an Menschewiki und Sozialrevolutionären in Rußland andererseits, was in der Verfolgung erklärter Sozialdemokraten in der SBZ beziehungsweise frühen DDR seine spezifisch deutsche Fortsetzung fand.) Bestand bereits in der alten Sozialdemokratie eine Spannung zwischen der Demokratiefrage und der Eigentumsfrage, die Rosa Luxemburg bekanntlich in ihrer Kritik an Lenins und Trotzkis Oktoberrevolution deutlich gemacht hatte,9 so schlug sich diese ab 1918 in der Differenz und Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten nieder. Für die einen genoß die Demokratie Priorität, wobei durchaus auch der "Sozialismus" mit einem starken staatlichen Sektor in der Wirtschaft anvisiert war; Hilferding und vor allem Otto Braun verfolgten dieses Ziel, zumal in Preußen, während der zwanziger Jahre zielstrebig.10 Für die anderen lag die Priorität in der Enteignung der Produktivkräfte, wobei die Demokratie abgeschafft wurde und das Politbüro als alleiniger Akteur hinterblieb.11

Das Fiasko des Realsozialismus ist das Scheitern jener Annahme. Demokratischer Sozialismus kann lediglich noch bedeuten, daß stets nur soviel Sozialismus gewagt werden kann, wie die politischen Verhältnisse der Demokratie zulassen. Jeder Versuch, daß kleine Wunderheiler-Gemeinschaften gegen die Mehrheit die Macht an sich zu reißen versuchen, würde nurmehr erneut in eine Politbüro-Diktatur münden.

Insofern kann der immer wieder geltend gemachte Vorwurf, die PDS solle nicht versuchen, eine "bessere sozialdemokratische Politik" zu betreiben, sie nicht wirklich treffen. Programmatisch gibt es nach 1989/91 keine akzeptierbare Alternative zum Primat der Demokratie. Es kann höchstens gemeint sein, sie solle eine sichtbar andere Politik machen. Das ist jedoch nur zum Teil eine Programmfrage.

Die Aufgabenstellung des Parteitages, die PDS sei angehalten, "ihr programmatisches Selbstverständnis als sozialistische Partei in Deutschland links von der Sozialdemokratie zu profilieren", stellt sich so als recht problematisch dar.12 Es mag ja sein, daß Parteien sich auf einem Links-Rechts-Kontinuum untereinander abgrenzen müssen, um für die Wähler als voneinander Unterschiedene erkennbar zu sein. Eine Herleitung des Selbstverständnisses als Partei lediglich aus der Distinktion zur SPD ist jedoch ziemlich dürftig.13 Erforderlich sind konkrete Politikangebote, die auf einer besseren Problemanalyse und besseren Folgerungen aus der Sicht eines selbst definierten Politikansatzes resultieren, und zwar nicht auf der Ebene allgemein-politischer Bekundungen, sondern auf konkreten Politikfeldern und für konkrete Adressaten.
Solange weder klar ist, was "sozialistisch" ist, noch was "links", ist dies lediglich eine Willenserklärung. Eine, die suggeriert, die Sozialdemokratie sei nicht "sozialistisch" (genug?) und nicht genügend "links". Wenn man nicht stillschweigend den Eindruck erwecken möchte, man wolle heimlich doch eigentlich eine Partei kommunistischen Typs sein, kann es sich dann aber nur um einen Wettbewerb handeln, wer die bessere linke Politik macht, möglicherweise auch auf der Grundlage eines besseren Programms.

Die Partei zu sein, die "immer recht" hatte, bedeutete, daß aus der Perspektive einer kommunistischen Partei ein tatsächlich gleichberechtigter Dialog, auf gleicher Augenhöhe, nicht möglich war. Getreu dem Auftrag des Apostels Paulus, daß der Christenmensch, der hinausging, die anderen zu missionieren, der "neue Mensch" war, der das Himmelreich verdient hatte, war der überzeugte Kommunist der "neue Mensch", der die anderen zu überzeugen und zu Großtaten anzuspornen ausgezogen war. Und wer nicht wollte, der wurde im Zweifel als Klassenfeind erschossen. In einem Gespräch, in dem der eine der Wissende, die anderen die Unwissenden sind, der eine der Überzeugte, die anderen Die-Zu-Überzeugenden, findet ein gleichrangiger Meinungsaustausch nicht statt, nur Agitation. Das Verhältnis der PDS zu Wählern wie zu anderen politischen Kräften und Parteien kann grundsätzlich nur von der Möglichkeit des Irrens und von der Gleichrangigkeit der Argumente ausgehen. Für eine demokratische Partei in einer säkularisierten Welt, in der eben nicht mehr ein herrliches Jenseits nach der "sofortigen Durchführung der proletarischen Weltrevolution" versprochen werden kann, ist ein anderes Selbstverständnis von Politik in der Sache ausgeschlossen. Sollte es dennoch - mehr oder weniger stillschweigend - versucht werden, führt es lediglich zu einer Vergrößerung der Aversionen gegen sie.
Dies gilt selbstredend auch für die verschiedenen Strömungen innerhalb der PDS. Der Aufruf der Grundsatzkommission, endlich "aus den trennenden Gräben" herauszutreten,14 wird nur verständlich, wenn davon ausgegangen werden muß, daß der kommunistische Habitus des Besserwissers noch nicht einmal innerhalb der Partei der Vergangenheit angehört. Woher nimmt der aber seine Impertinenz im Angesicht des Scheiterns des kommunistischen "Projekts" (um es wertfrei und also euphemistisch auszudrücken)?

Freiheit und Herrschaft

Freiheit hat stets drei Dimensionen. Die erste ist abhängig vom Entwicklungsgrad der respektiven Gesellschaft mit ihren Produktionsmöglichkeiten. Ob die Gesellschaft als ganze - aus Gründen der Agrikultur - Hungersnöte gewärtigen muß oder nicht, ob sie über einen Stand der medizinischen Ausstattung verfügt, daß niemand an einfachen Krankheiten sterben muß, ist zunächst eine Frage der Produktivkräfte. Sie aber ermöglichen den Menschen mehr Leben, mehr freie Entscheidungen über ihr Leben, mehr Zeit zur freien Betätigung ihrer schöpferischen Kräfte. Ein Rückgang des produktiven Vermögens - im Rußland von heute fiel die Arbeitsproduktivität insgesamt um etwa ein Drittel im Vergleich zum Ausgang der Sowjetzeit - hat zweifelsohne eine Reduzierung der Freiheitsräume vieler Menschen der Gesellschaft zur Folge; die Zeit, die ich zusätzlich mit Anstehen oder einem unerquicklichen Zweitjob verbringe, bin ich nicht frei, meine eigenen Ziele zu verfolgen.
Die zweite Dimension ist die politische Freiheit im Sinne der liberalen Freiheitsrechte als auch im Sinne von Partizipationsrechten.

Die dritte sind die sozialen Rechte, die die reale Möglichkeit der Wahrnehmung der politischen Rechte erst möglich machen. Das gleiche Recht für alle, unter der Brücke zu schlafen, konstituiert keine Gesellschaft politischer Partizipation. Wenn Freiheit das Recht zur selbständigen Entscheidung über das eigene Leben ist, wird sie bei Ausschluß aus der Arbeitsgesellschaft, wenn diese das allgemeine Ansehen des einzelnen konstituiert, drastisch eingeschränkt. "Wer die Arbeitslosigkeit hat, braucht keine Stasi", hat Heiner Müller einst gesagt. (Was umgekehrt heißt, wer die Arbeitslosigkeit abschafft und sich der Zustimmung seiner Bevölkerung nicht sicher sein kann, braucht so etwas, sofern er nicht abtreten will.)
Das kommunistische Herrschaftssystem ignorierte, unterdrückte die politische Freiheit; die heutige bürgerliche Gesellschaft erklärt sie - weitgehend - zur einzig bedeutsamen. In diesem Sinne sei, exemplarisch nur, ein einschlägiger Kommentar zum Grundgesetz zitiert: "Das Grundgesetz beschränkt die Grundrechte im wesentlichen auf die klassischen Menschen- und Bürgerrechte. Rechte, die früher als soziale Grundrechte verstanden wurden, wie zum Beispiel die Rechte auf Arbeit, Wohnen oder angemessenen Lebensunterhalt, finden sich in den Verfassungen der neuen Länder als Staatszielbestimmungen."15 Fluchtpunkt des Nachdenkens über Gesellschaft und Politik kann aber nur die Freiheit als ganzheitliche sein, in allen ihren Dimensionen, als Freiheit zur Selbstverwirklichung. Diese im Marxschen Sinne verstanden, nicht im Sinne des verantwortungslosen Yuppie-Singles.

So finden Politikansätze zur Arbeitsförderung wie Nachdenken über Verteilungsfragen jenseits der Arbeitsgesellschaft (Gibt es ein finanzierbares Konzept der Grundsicherung?) ihren eigentlichen Ausgangspunkt in der Frage nach der Freiheit zur Selbstverwirklichung. Hier wiederum braucht es zugleich ein zeitgemäßes Menschenbild, nicht im Sinne eines normativen Erziehungskanons zur Heranzüchtung eines neuen "neuen Menschen", sondern im Sinne einer kulturell getragenen Ganzheitlichkeit jenseits der oktroyierten Konsumzwänge der gegenwärtigen Vergnügungsindustrie, in der viele Menschen nur noch etwas mit sich anzufangen wissen, wenn "man" etwas mit ihnen anfängt. Was natürlich reichlich zu bezahlen ist.
Zu den Annahmen der schönen neuen Welt des Neoliberalismus gehört, daß die Freiheit des Marktes und die Freiheit des Individuums in eins fallen würden.16 Die Frage, inwieweit die Einschränkung der Marktfreiheit - etwa für Großspekulanten, die mittels Währungsmanipulation ganze Völker um die Früchte zwanzigjähriger Arbeit gebracht haben und damit unglaubliche Gewinne machten, während die Kosten dann über den IWF letztlich auch den Steuerzahlern der Länder des "Nordens" aufgebürdet wurden - Bedingung für die Freiheit der vielen arbeitenden Menschen, der "kleinen Leute" ist, ist politisch nicht beantwortet. Sie ist auch nicht in der Theorie zu beantworten, sondern nur in den politischen Kämpfen.

Bei näherem Hinsehen sind die Rechte der Produzenten und Anbieter auf dem Markt und die politischen Rechte der Menschen in ihrer Gesellschaft zwei verschiedene Dinge, historisch und in der Logik gesellschaftlicher Entwicklung. Nicht zufällig ist das Idealbild des Akteurs im neoliberalen Kontext der mit der Marktfreiheit, der die Freiheit hat, gestützt auf eigenes Kapital Kontrakte zu schließen. Die demokratische Freiheit des Citoyen ist hier nicht vorgesehen.

Die "Herrschaft des Kapitals" ist daher stets konterkariert durch den Staat und den Wähler. Der Staat ist zunächst eine eigenständige Größe zwischen dem Kapital und der Arbeit, mit eigenen Interessen und der Kompetenz zur Rechtsetzung. "Lobby-Arbeit" auch der großen Firmen unterstellt schon dem Ansatz nach, daß die Lobbyisten sich ihrer Sache eben nicht von vornherein sicher sein können.17 "Herrschaft des Kapitals" war die in der Ostindischen Companie. Das demokratische Gemeinwesen von heute folgt ihm nicht unbedingt und nicht notwendigerweise. Gewiß ist "das große Kapital" ein gewichtigerer Einflußfaktor im politischen Kräftespiel als andere Akteure, aber durchaus konterkarierbar. (Man denke nur an das moralische Kapital, das Greenpeace in der Brent-Spar-Angelegenheit einzusetzen vermochte.)
Wer aber ist heute "das Kapital"? Sieht es so aus, wie die Reichen auf den Zeichnungen von George Grosz aus den zwanziger Jahren? Wohl nicht. Spätestens nachdem die amerikanischen Pensionsfonds auf den Kapitalmärkten erschienen, deren Eigentümer "kleine Leute", Lehrer und andere Angestellte sind, während die Fondsmanager eigentlich Angestellte dieser Fonds sind, ist die Antwort auf diese Frage schwieriger denn je. Auch wenn Herr Esser mit 60 Mill. DM für seine Managementtätigkeit bei Mannesmann abgefunden sein soll, so war er doch Angestellter. Insofern sind Fragen des Eigentums, des Besitzes und der Verfügungsrechte komplizierter denn je. Der Angestellte vom Bezirksamt, der ein paar Aktien besitzt, ist dann auch "Kapital". Und der Kleinsparer, der seine Lebensversicherung bei einer großen deutschen Versicherung hat, hofft auf deren hohe Kapitalerträge, damit er die avisierte Sparprämie erhält.
Ein "Antikapitalismus", der eine Analyse der realen Wirtschafts- und Finanzverhältnisse nicht neu zur Voraussetzung hat, erweist sich als populistische Phrase. Oder er ist das Unbewußte, das aus den Tiefen des kommunistischen Unterbewußtseins kommt. Dann muß es als solches thematisiert werden.

Vor diesem Hintergrund ist, zumal in der Ost-West-Distinktion innerhalb der PDS, die Denunziation des "Moderne"-Begriffs ein immer wieder beliebtes Thema. Er sei verwaschen, unklar, nicht antikapitalistisch genug. Gewiß, er steht quer zu den überkommenen kommunistischen Diskursen aus der real existiert habenden SED wie auch zu den traditionellen Debatten der 68er oder DKP-Marx-Rezeption.

Wenn der oben in Ansatz gebrachte Unterschied von Sozialismus und Kommunismus unterstellt wird, ist der Kontext jedoch nachvollziehbar. Das kommunistische Herrschaftssystem - im allgemeinen wie in der DDR - hatte von seinem Konzept her die Basisinstitutionen "der Moderne" abgeschafft: Gewaltenteilung, Wahlrecht und individuelle Freiheitsrechte im Bereich der Politik; Geld, Wert, Preis, Kredit und Zins in der Wirtschaft; den Rechtsstaat. Der Gesellschaftskörper war faktisch zur Gemeinschaft gemacht worden, in der das "monistische Zentrum" im Zentrum der Partei, das Politbüro entschied. Es war faktisch Exekutive, Legislative und Judikative in einem.

Nachdem, zumal in der Rezeption der Perestrojka-Debatten in der Sowjetunion, die allgemeine Krise des Realsozialismus in ihren Spezifika in Politik, Wirtschaft, Recht, Kultur usw. erkannt und diagnostiziert war, hat der Reformdiskurs in der SED der achtziger Jahre die Wiedereinführung der Basisinstitutionen der modernen Gesellschaft als die erforderliche Therapie angesehen, und das war aus dieser Perspektive im Kern die westliche, deren Wesensgehalt sich eben nicht auf "kapitalistisch" reduziert. Nur aus einer kommunistischen Perspektive heraus konnte dies die "Kapitulation vor dem Kapitalismus" sein. Unter der sozialistischen Perspektive war es die Beseitigung der Ursachen für die Gesellschafts- und Wirtschaftskrise, die der Kommunismus bewirkt hatte.18

Das mußte nicht von vornherein identisch sein mit der deutschen Vereinigung unter den von Kohl diktierten Bedingungen. Dazu kam es erst, als die Mehrzahl der DDR-Bevölkerung 1990 jeglichen weiteren Sozialismus ablehnte.
Die in dieser "Moderne"-Auffasssung aufgenommene Vorstellung einer funktionalen Differenzierung zielt eben nicht auf ein Abdanken politischer Gestaltungsmöglichkeiten, sondern darauf, daß es in der Ökonomie ökonomisch, im Rechtswesen rechtsstaatlich und im Politischen politisch zugehen muß. Welche Wirkungs- und Eingriffsmöglichkeiten zu eröffnen sind, um die Interessenartikulation unter der Perspektive besonders der unteren sozialen Schichten zur Geltung zu bringen, muß für die verschiedenen Politikfelder und gesellschaftlichen Bereiche je konkret erarbeitet werden.

Es ergibt, die Frage nach dem Kapital nicht vordergründig als Herrschaftsverhältnis zu stellen, sondern zunächst als Problem, inwiefern hier eine Universalie enthalten ist, die zuvörderst der Allokation der Produktivkräfte dient. "Die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit - erst das Setzen der Surplusarbeit - ist", schrieb Marx, "notwendige Bedingung für das Wachstum des Werts oder die Verwertung des Kapitals. Als unendlicher Trieb der Bereicherung strebt es also nach unendlicher Vermehrung der Produktivkräfte der Arbeit und ruft sie ins Leben."19

Diese Entwicklung der Moderne ist in der Tat ambivalent. In Realisierung des Profitstrebens können Verbrennungsöfen für KZ ebenso produziert werden, wie Medikamente gegen Aids, Atomkraftwerke wie Windkrafträder, Atomwaffen wie Anlagen zu deren Zerstörung. Es ist nicht "das Kapital", das die jeweiligen Zwecke setzt, sondern diese gehen aus einer jeweiligen Gesellschaft und dem in ihr waltenden politischen Herrschaftssystem hervor.
Sofern neuerliche kommunistische Enteignung als politische Option nicht zur Verfügung stehen kann, muß die Zwecksetzung des Produzierens auf die Tagesordnung der Politik rücken. Die ganze moderne Produktions- und Lebensweise ist Resultat der Produktivkraftentwicklung, spätestens seit dem 19. Jahrhundert. Gestiegene Lebenserwartung, bessere Ernährungs- und Bildungsmöglichkeiten auch für Arbeiterkinder, moderne Kommunikations- und Transportmittel sind Resultate dessen. Auch die Bevölkerungsexplosion in den Ländern des Südens ist in hohem Maße Ergebnis der modernen Medizin und der gesunkenen Kindersterblichkeit. Über sechs Milliarden Menschen sind nicht auf der Grundlage von Ökobauernhöfen postmoderner Subsistenzwirtschaft zu ernähren.
Zu den Ambivalenzen der Moderne gehören zugleich die ungelöste neue soziale Frage im Norden, die soziale Gewissenlosigkeit der postmodernen Eliten, die Not und der Hunger im "Süden", die Umweltzerstörung. Die Frage also ist, inwiefern die Akkumulationsweise des Kapitals so gesteuert werden kann, daß soziale und ökologische Nachhaltigkeit der weiteren Entwicklung in der "Einen Welt", also auch für den Süden erreicht werden kann.20
Daß die Kapitalförmigkeit der Akkumulations- und Produktionsweise sich eines Tages erschöpfen mag, wie sich die Sklaverei oder die Fronarbeit erschöpft haben, ist eine geschichtsphilosophische Frage. Aber keine regulative Idee für Programmatik und Politik heute.

Internationales

In Zeiten der Globalisierung ist es Interesse der Globalisierungsgewinner, den Staat, die Zivilgesellschaft, die Kommunen zu schwächen, um unregulierte Extraprofite zu erhaschen, möglichst noch unversteuert.
Insofern ist politische Steuerung, wie im Innern, also auch global, zunächst der Finanzmärkte, dringend erforderlich. Es geht also nicht um generell "weniger Staat", sondern welchen Staat, unter welcher demokratischen Kontrolle. Das Rechtsstaatsproblem stellt sich auf internationaler Ebene neu. Herrschaft des Rechts ist hier die Durchsetzung des Völkerrechts. Das heißt Verhinderung neuerlicher Kriegsaktionen à la Kosovo, aber auch, einem Milosevic in den Arm zu fallen. Es reicht nicht, gegen "den Krieg" zu sein, sondern es bedarf auch glaubhafter außenpolitischer Konzepte, wie internationale Regime der Friedenssicherung aussehen können, die demokratisch und nicht hegemonial sind; wie eine zivile Konfliktbearbeitung aussehen kann; wie Krisen und Konflikten präventiv gegengesteuert werden kann; wie deren Ursachen, auch durch wirksame "Entwicklungspolitik", rechtzeitig begegnet werden kann.

Das Faktum "Europäische Union" bedarf seinerseits von links einer neuen Bewertung. Nicht nur, daß Deutschland in diesem Integrationsverbund so eingebunden wurde, daß neuerliche Störungen des europäischen Gefüges durch seine Politik weitgehend ausgeschlossen sind. Auch in der Gestaltung internationaler Wirtschaftsbeziehungen, der Schaffung einer internationalen Wirtschaftsordnung der Nachhaltigkeit kann die EU eine prägende Rolle spielen.

Der "Sieg" des Neoliberalismus ist noch keineswegs sicher. Noch stehen unterschiedliche Modelle kapitalistischen Wirtschaftens in Konkurrenz zueinander. Im Vergleich zur Lage der Arbeitenden in den USA ist der "europäische Kapitalismus" durchaus noch "arbeitnehmerfreundlicher". Wo wird Japan in dieser Auseinandersetzung um die Modelle stehen? Was wird mit China? Wird Osteuropa sich eher in Richtung Westeuropa entwickeln oder in Richtung eines US-amerikanischen Typs oder aber mehrheitlich in die "Dritte Welt" abstürzen? Diese Auseinandersetzung wird nicht auf nationalstaatlicher Ebene in Europa beeinflußt oder gar entschieden, sondern auf Ebene der EU.

Diese zu beeinflussen ist eine politische Aufgabe, die in den EU-Ländern, so auch in Deutschland, ihren Ausgang nimmt, auf der EU-Ebene aber ihre Umsetzung finden muß.
Hier wiederum sind Sozialdemokraten und "linkere Linke" nicht notwendig Gegner, sondern haben möglicherweise größere Schnittmengen in ihrer Politik, als die tagespolitische Rhetorik vermuten läßt. Sind die Grünen schon eine zweite F.D.P., oder gibt es hier ebenfalls Schnittmengen? Existieren in Europa noch weitere Kräfte, die in die gleiche Richtung wirken?
Die politisch-programmatische Abgrenzung zur Selbstfindung und Selbstdefinition darf die Politikfähigkeit nicht nachhaltig behindern. Alternative wäre Wirkungslosigkeit, am Ende Bedeutungslosigkeit. Unter Verhältnissen einer Demokratie, die nicht Glaubensangelegenheit ist, sondern in der die real existierenden Menschen erwarten, daß ihre tatsächlichen Probleme gelöst werden, beziehungsweise deren Lösung wenigstens in Angriff genommen wird, hat eine Partei auf Dauer nur dann eine Chance, wenn sie die Verhältnisse politisch (mit)gestalten will.

1 Kark Marx, Friedrich Engels: Werke, Band 34, Berlin 1966, S. 130. Erich Honecker zitierte diesen Satz 1976 zur Begründung seines SED-Programms. (Protokoll des IX. Parteitages der SED, Band 1, Berlin 1976, S. 32.)

2 Jürgen Habermas: Volkssouveränität als Verfahren. Ein normativer Begriff der Öffentlichkeit, in: Ders.: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, Leipzig 1990, S. 187.

3 Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen, Frankfurt am Main 1993, S. 274.

4 Die Russische Revolution und die Linke auf dem Weg in das 21. Jahrhundert. Kolloquium, Leipzig 1998, S. 40.

5 Lorenz von Stein: Die industrielle Gesellschaft. Der Sozialismus und Kommunismus Frankreichs von 1830 bis 1848, zitiert nach: Peter Ruben: 10 Jahre danach. Bemerkungen zu "Später Aufbruch - frühes Ende", in: Berliner Debatte INITIAL, Nr. 2/2000, S. 22.

6 Peter Ruben: a.a.O., S. 24-26.

7 Ebenda, S. 23.

8 Vgl. Sebastian Haffner: Der Verrat, Berlin 1993.

9 Vgl. Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: Dies.: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 362.

10 Vgl. Peter Lösche, Franz Walter: Die SPD: Klassenpartei - Volkspartei - Quotenpartei, Darmstadt 1992, S. 6ff; Hagen Schulze: Am Beispiel von Weimar: Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft, in: Berlin und seine Wirtschaft, Berlin/New York 1987, S. 180ff.

11 Zur deutschen Sichtweise hier: Klaus Kinner: Der deutsche Kommunismus. Selbstverständnis und Realität, Band 1: Die Weimarer Zeit, Berlin 1999.

12 So der Eingangssatz der "Thesen zur programmatischen Debatte" der Programmkommission der PDS vom November 1999.

13 Das scheint in der PDS allerdings Konsens zu sein. Siehe den Beschluß der 1. Tagung des 6. Parteitages: "Organisation einer programmatischen Debatte in der PDS", Januar 1999, oder auch Angela Marquardt auf der 2. Bundeskonferenz der PDS, Dezember 1999. Sarah Wagenknecht meinte jüngst - mit Blick auf den Cottbuser Parteitag: "Ist das heute Machbare erst mal zur Richtschnur der eigenen Forderungen erhoben, läßt der Kniefall vor den heute Machthabenden nicht lange auf sich warten. Das zeigt die Geschichte der SPD. Das haben die Grünen hinter sich." (http://www.pds-online.de/kpf-mitteilungen/0008/07.htm).

14 "Heraus aus den trennenden Gräben". Erklärung der Grundsatzkommission beim Parteivorstand der PDS, Juni 2000.

15 Dieter Hesselberger: Das Grundgesetz. Kommentar für die politische Bildung, Bonn 1996 (10. Auflage), S. 59.

16 Dazu: Dieter Plehwe, Bernhard Walpen: Wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Produktionsweisen im Neoliberalismus, in: PROKLA, Berlin, Heft 2/1999.

17 Zur Darstellung der Marxschen Position, wonach der Staat in der bürgerlichen Gesellschaft mehr ist als lediglich "schlichter politischer Handlager der Bourgeoisie", siehe: Petra Dobner: "Soziales Verhältnis" und "politische Form": Kommentare zur aktuellen Staatsdebatte, in: Berliner Debatte INITIAL, Nr. 3/2000, insbesondere S. 22.

18 Vgl. die Beiträge von Dieter Segert und Rainer Land in: Hans Misselwitz, Katrin Werlich (Hg.): 1989: Später Aufbruch - frühes Ende? Eine Bilanz nach der Zeitenwende, Berlin 2000 (im Erscheinen).

19 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf). 1857-1858, Berlin 1974, S. 247.

20 Zu neueren Ansätzen vgl. Ulrich Brand, Achim Brunnengräber, Lutz Schrader, Christian Stock, Peter Wahl: Global Governance. Alternativen zur neoliberalen Globalisierung? Münster 2000.