Ethnisierung und Ökonomie

Editorial

in (27.10.2000)

Das umstrittene Erd-Kunstwerk von Hans Haacke im Lichthof des Reichstages ist nun doch installiert worden....

Das umstrittene Erd-Kunstwerk von Hans Haacke im Lichthof des Reichstages ist nun doch installiert worden. Es waren in diesem Fall weder die Kosten (375.000 DM) noch die Ästhetik (eine grüne Leuchtschrift auf einem überdimensionierten Beet), die zu heftigen Debatten im Bundestag Anlaß gaben, sondern es war vor allem die inhaltliche Aussage, an der sich FAZ wie CDU/CSU-Fraktion stießen. Die Inschrift Der Bevölkerung ist vom Künstler als gezielter Kontrapunkt zu derjenigen des Portals Dem deutschen Volke gemeint - dies aber schien den konservativen Kritikern eine Beleidigung eben dieses Volkes zu sein, und im übrigen bräuchten die Abgeordneten in dieser Hinsicht von niemandem Nachhilfeunterricht. Was CDU/CSU auf der symbolischen Ebene noch verteidigen, geben sie derzeit auf der praktischen preis. Nachdem sie jahrzehntelang unbeirrt verkündeten, Deutschland sei kein "Einwanderungsland", ist diese Position offenbar ins Wanken gekommen, da die CDU jetzt eine "gesteuerte Zuwanderung von Ausländern einer qualifizierten, gebildeten und leistungsbereiten Mittelschicht" anstrebt (so Berlins Innensenator Werthebach) und die CSU immerhin eine "Blue Card", eine unbürokratisch zu erlangende befristete Aufenthaltserlaubnis für erwünschte Experten. Darin drückt sich zwar die längst überfällige Erkenntnis aus, daß man auch in Deutschland auf Einwanderung angewiesen sein wird, doch geht dies gleichzeitig mit der Hoffnung auf scharfe Selektionskriterien einher. Das individuelle Grundrecht auf Asyl, das zu Beginn der 90er Jahre schon weitgehend ausgehöhlt wurde, könnte in diesem Zusammenhang vollständig unter die Räder kommen.

Nicht nur Konservative, auch Teile der Sozialdemokratie beschwörten in der Vergangenheit beim Thema Migration die Angst vor "Überfremdung" und warnten vor den "Grenzen der Belastbarkeit". Nicht zuletzt dadurch schufen sie ein gesellschaftliches Klima, in dem die Ausländerfeindlichkeit, die nach jedem Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim lautstark beklagt wurde, richtig gut gedeihen konnte. Den mehr oder weniger aggressiven Formen der Deutschtümelei, stellte das grün-alternative Spektrum den Multikulturalismus gegenüber: kulturelle Vielfalt statt nationaler Einfalt. Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensformen und Alltagskulturen ist sicher nichts Schlechtes. Doch wenn, wie beim Berliner Karneval der Kulturen, schwule Aidshilfeaktivisten gemeinsam mit argentinischen Tangogruppen und mit Teilen der CDU-Basis im Country-Look paradieren, dann stellt dies zwar eine willkommene kulturelle Öffnung gegenüber dem früheren folkloristischen Einheitsbrei der Egerländer Musikanten dar - aber auch nicht mehr. Nicht nur dass dieser frohsinnige Multikulturalismus die wirtschaftlichen und politischen Diskriminierungen, welche die Mehrzahl der in Deutschland lebenden AusländerInnen erfährt, hinter seinem bunten Mantel verschwinden läßt. Es sollte auch zu denken geben, dass Teile der neuen Rechten den in die Jahre gekommenen Biologismus gleichfalls durch Kulturalismus ersetzt haben: Man habe gar nichts gegen kulturelle Vielfalt, im Gegenteil, alle Kulturen seien gleichwertig und jeder solle seine eigene Kultur nach Kräften pflegen, dies aber bitte schön, am besten bei sich daheim, die Türken also in der Türkei, die Russen in Russland - und die Deutschen in Deutschland.

Gleichermaßen wird in diesen Ansätzen auf eine ethnisch bestimmte Kultur rekurriert, die sich aus einem einheitlichen Fundus von Werten und Traditionen speisen soll, der einer Gruppe von Menschen durch ihre gemeinsame Abstammung in die Wiege gelegt worden sei. Dieser Fundus bilde den unverrückbaren Rahmen für ihr Denken und Handeln, für ihre Vorstellungen von Essen und Bekleidung, von Arbeiten und Feiern, von Heiraten und Sterben. Dekonstruktivistische Ansätze wie auch die "post-colonial studies" kritisierten derartige Konzepte von Ethnizität als essentialistische Fiktionen: gemeinsame ethnische Wurzeln seien imaginär, Kulturen hybrid und nicht einheitlich geschlossen, die "Heimat in der Fremde" ein Mythos.

An diese Diskussionen wird in den Beiträgen von Albert Scherr und Kien Nghi Ha angeschlossen. Albert Scherr fragt nach der Bedeutung der Begriffe Ethnizität und Ethnisierung innerhalb der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung. Er bestreitet die Gültigkeit von Ansätzen, die moderne Gesellschaften auf eine Ansammlung von "vereinzelten Einzelnen" reduzieren wollen, die sich aus früheren kulturellen Einbettungen durch Prozesse der Individualisierung endgültig herausgelöst hätten. Wenn Klasse und Geschlecht als wesentliche Strukturierungsmerkmale anzusehen seien, so gelte dies gleichfalls für Ethnizität. Um jedoch essentialistische Fallstricke zu vermeiden, soll Ethnisierung als ein Sammelbegriff für intern heterogene Praktiken der sozialen Konstruktion kollektiver Identitäten verstanden werden, auf dessen Grundlage dann die anhaltende Bedeutung kultureller Orientierungen für individuelles und kollektives Handeln untersucht werden kann. Demgegenüber wirft Kien Nghi Ha das Problem auf, inwieweit Identitätspolitik möglich ist, wenn grundsätzlich nicht von einer Kultur als vergemeinschaftetem Gut und einem fraglosen "Wir" ausgegangen werden kann. Er hält fest, daß es einen Kernbestand von gemeinsamen Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten gibt, die ethnische Identifikation, Solidarität und Handlungsfähigkeit ermöglichen.

Gleichzeitig stelle die Vorstellung einer ungebrochenen Einheit von "Schwarzen" oder anderen Gruppen aber eine Fiktion dar; daher sei es notwendig die unterdrückten Differenzen zur Kenntnis zu nehmen. Ethnisierung als partikularistische Identitätspolitik lebe ihrerseits von Ausgrenzungen und könne somit keine gesellschaftliche Utopie darstellen. Statt dessen wird eine Gratwanderung für unumgänglich gehalten, die eine Selbstformierung des Subjekts in den Kategorien der Differenz, der Selbstkonstruktion und der Unbestimmtheit zulasse. Umstritten ist aber nicht nur die Bedeutung von Ethnizität und Ethnisierung, sondern auch ihr Zusammenhang mit der ökonomischen Entwicklung. "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen ist, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose `bare Zahlung´."

Diese oft zitierten Worte von Marx und Engels aus dem Kommunistischen Manifest ließen vermuten, daß Wirtschaft im Kapitalismus aus dem bisherigen gesellschaftlichen Zusammenhang herausgelöst und als eigene Sphäre konstituiert würde, jenseits von Religion und Politik, von lokaler Verwurzelung und regionaler Zugehörigkeit, von Verpflichtung und Unterwerfung, von Verwandtschaft und Familie. Auch spätere bürgerliche Theoretiker sahen im Anschluß an Max Weber die Durchsetzung der Moderne als einen Prozeß zunehmender funktionaler Differenzierung, bei dem wirtschaftliche Beziehungen mehr und mehr durch Verträge geregelt wurden, während persönliche Bindungen und Loyalitätsverhältnisse nur noch für den Bereich des Privaten von Bedeutung sein sollten. Stellen Ökonomie und Kultur mittlerweile tatsächlich "zwei Reiche" dar, und ist es gerechtfertigt, von "ethnischer Ökonomie" allenfalls dann zu reden, wenn es sich um Koreaner in Los Angeles oder Nordafrikaner in Lyon handelt, nicht aber, wenn es um französische Ökobauern oder englische Wett-Shop-Besitzer geht? Sind "ethnisch" immer nur die Anderen?

Diese Fragen bringen Elisabeth Timm zu einer grundsätzlichen Kritik an diesem Begriff. Als Alternative schlägt sie die Orientierung an Bourdieus Kapitalsorten vor. Dorothea Schmidt befaßt sich mit dem Zusammenhang von Unternehmertum und Ethnizität in Geschichte und Gegenwart und kommt dabei ebenfalls zu dem Schluß, daß bestimmte kulturelle (etwa religiöse) Fundierungen in gewissen Grenzen zwar für die wirtschaftliche Selbständigkeit von Minderheiten eine Rolle spielten, dass Ähnliches aber auch in den Mehrheitsgesellschaften zu registrieren sei. Im übrigen werden hier die Ergebnisse der neueren Ethnisierungsdiskussion bestätigt, wonach ethnische Gemeinschaften weder als homogen noch als dauerhaft anzusehen sind. Im Anschluß daran präsentiert Stefan Laube einen konkreten historischen Fall für den Zusammenhang von Unternehmertum und Ethnizität, wobei letztere im Vergleich zu anderen Fällen eine bemerkenswert geringe Bedeutung hatte. In Lódz trafen während der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von Unternehmern verschiedener Religionen und Nationalitäten aufeinander und bildeten nach zeitgenössischem Urteil einen neuen Sozialtyp aus, den "Lódzer Menschen", der zuerst und vor allem sein Geschäftsinteresse im Auge hatte.

Ethnizität war und ist schließlich auch für die Strukturierung von Arbeitsmärkten von erheblicher Bedeutung, was von Felicitas Hillmann für die neuere Zeit am Beispiel von Berlin untersucht wird. Sie geht der Frage nach, in welche Bereiche des Arbeitsmarktes welche Typen von Zuwanderung integriert werden, und durch welche besonderen Merkmale diese gekennzeichnet sind. Dabei wird insbesondere auch gezeigt, wie verschiedene "ethnische Ökonomien" quasi als Drehtüren zwischen formellen und informellen Arbeitsmarktsegment für bereits im Land lebende Minderheiten funktionieren.
Außerhalb des Schwerpunkts erscheinen zwei Artikel. Mit dem Beitrag von Emine Asli Odman über den Zusammenhang von staatlicher Regulation und Informalisierung in der Türkei, knüpfen wir an PROKLA 117 (Dez. 1999) an, wo das Thema Informalisierung im Mittelpunkt stand. Erich Ott setzt sich mit den Umweltfolgen des Kosovokrieges auseinander und führt damit die in PROKLA 115 (Juni 1999) begonnene Diskussion fort.