Selig und heilig

"Selig sind die Barmherzigen."

Spricht der Papst jemanden selig, so ist das nicht nur für die gläubigen Katholiken von Bedeutung. Denn mit einem solchen Akt gibt die auch politisch und wirtschaftlich eminent mächtige römische Kurie zu erkennen, welche Taten und wen sie für vorbildlich hält.

Am 3. September hat Papst Johannes Paul II. einen seiner Vorgänger seliggesprochen: Pius IX., der von 1846 bis 1878 amtierte, die meiste Zeit als absoluter Herrscher des bis 1870 bestehenden großen Kirchenstaates. Kurz nach Amtsantritt floh dieses Kirchenoberhaupt wegen einer republikanischen Erhebung nach Neapel zu Kardinal Antonelli, der berüchtigt war für seine Liebesaffären. Den machte Pius zu einem seiner engsten Berater. Nach seiner Rückkehr zahlte er es den Republikanern und überhaupt allen von demokratischen Anwandlungen Befallenen erbarmungslos heim. Über 8000 politische Gefangene füllten während seiner Herrschaft die päpstlichen Gefängnisse. Mehrfach ordnete er öffentliche Hinrichtungen an. Er verdammte die "modernen Irrtümer" wie die Freiheit des Gewissens, der Religionsausübung (außer der katholischen) und der Presse sowie jeglichen Rationalismus und Liberalismus. Klar, daß er auch die im Kirchenstaat lebenden Juden unterdrückte. Schließlich ernannte er sich selbst auf dem Konzil von 1870 zum ersten unfehlbaren Dogmenverkünder und verlieh diese Unfehlbarkeit zugleich allen seinen Nachfolgern.

Den also hat Johannes Paul II. ob seiner Werke jetzt seliggesprochen.

Ach ja, die nicht ganz so mächtige, aber geistesverwandte russisch-ortho-doxe Kirche ging noch einen Schritt weiter und sprach Nikolaus II., den letzten Zaren, sogar heilig (s. OSSIETZKY 17/2000, Seite 604). Von dessen Taten sei nur der "Blutsonntag", 22. Januar 1905, in Erinnerung gerufen. Da zogen 200 000 Petersburger Arbeiter unter Führung eines Popen vor den Winterpalast, um ein Gesuch mit der Bitte um den Zehn-Stunden-Arbeitstag und etwas höheren Lohn zu überbringen. Väterchen Zar ließ mit Gewehrsalven antworten. Das Ergebnis waren an die 1000 Tote. Doch die sind für die orthodoxen Christenführer keine Märtyrer; sie wollten ja nur, daß ihre hungernden Kinder und Frauen einmal satt würden. Ihr Mörder aber gilt fortan als ein heiliger Märtyrer.

"An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Werner René Schwab

OSSIETZKY wird unter Mitarbeit von Daniela Dahn, Dietrich Kittner und Rolf Gössner herausgegeben von Rolf Gössner, Arno Klönne, Otto Köhler, Reinhard Kühnl und Eckart Spoo. Probehefte per e-mail beim OSSIETZKY-Abo-Service. Adresse:

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