Das Scheitern der Sanktionspolitik

Für eine neue Strategie für den Irak

* Dagmar Schmidt, MdB, Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Stellvertretende entwicklungspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagfraktion

Die Sanktionspolitik des Westens gegenüber dem Irak steckt in einer Sackgasse. Das seit zehn Jahren geltende Embargo der Vereinten Nationen hat nicht zu einem grundlegenden Wandel in Bagdad geführt. Die Sanktionen haben das Regime von Saddam Hussein und seine Position nicht im Geringsten geschwächt. Gleichzeitig hat sich die humanitäre Lage der Bevölkerung dramatisch verschlechtert. Die europäischen Staaten müssen daher gemeinsam mit den Amerikanern eine neue Strategie gegenüber dem Irak entwickeln, die sich von der bisherigen erfolglosen Politik löst und Ergebnisse bringt.

Unerträgliche Folgen des Embargos

Das Wirtschaftsembargo hat die Infrastruktur des Landes zerstört und den Irak auf das Niveau der am wenigsten entwickelten Länder der Welt zurückgeworfen. Die industrielle Produktion musste auf rund 30 Prozent zurückgefahren werden. Das Erziehungs- und Gesundheitswesen ist zusammengebrochen. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 300 bis 320 US-Dollar im Jahr schaffen es die Menschen kaum, sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Das Trinkwasserproblem verschärft sich von Jahr zu Jahr. Wegen anhaltender Dürre und fehlender Ersatzteile für Pumpen und Rohre können etwa 20 Prozent der Bevölkerung nicht mehr ausreichend mit Wasser versorgt werden.

Besonders erschreckend ist die Entwicklung der Kindersterblichkeit. Nach einer Studie des Kinderhilfswerks UNICEF vom Juli 1999 hat sich die Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren von 56 Todesfällen pro 1000 Geburten von 1984 bis 1989 auf 131 Todesfälle von 1994 bis 1999 mehr als verdoppelt. Fast 20 Prozent der Kinder sind als Folge der Sanktionen unterernährt. Mehr als eine halbe Million Kinder könnten nach Ansicht von UNICEF noch am Leben sein. Damit ist der Irak in diesem Bereich mit Entwicklungsländern wie Haiti oder Pakistan vergleichbar.

Das UN-Hilfsprogramm "Öl für Lebensmittel" soll eine minimale Grundversorgung gewährleisten. Doch genau das gelingt nicht. UN-Generalsekretär Kofi Annan hat den Weltsicherheitsrat bereits mehrfach aufgefordert, das Lebensmittelprogramm für den Irak auszuweiten, um das Leid der Bevölkerung zu lindern. Die starre Haltung der Amerikaner und Briten auf der einen Seite und die ebenso kompromisslose Haltung des irakischen Diktators auf der anderen machen es den Helfern der Vereinten Nationen unmöglich, ihre Arbeit zu tun. Die deutschen Diplomaten Hans von Sponeck, UN-Koordinator für die humanitäre Hilfe, und Jutta Burghardt, Leiterin des UN-Welternährungsprogramms (WFP), haben mit ihren Rücktritten die Konsequenzen daraus gezogen. Ihre Protestreaktionen dürfen nicht im Sande verlaufen.

Wem nützt das Embargo?

Der Konflikt mit Saddam Hussein, der sich nicht auf den mit der UN-Resolution 1284 verbundenen Kompromiss einlässt und keine UN-Inspekteure zur Kontrolle des irakischen Waffenprogramms ins Land lässt, darf nicht weiter auf dem Rücken der Menschen ausgetragen werden. Gerade die Erfahrungen im Irak machen deutlich, dass Sanktionsregime nicht der richtige Weg sind, um Diktatoren in die Knie zu zwingen.

Solange das Embargo in dieser Form besteht, kann der Irak seine riesigen Erdölvorkommen nicht unbegrenzt vermarkten und soll dies wohl auch nicht. Es stellt sich die Frage, wem die bisherige Strategie nützt. Sie kommt amerikanischen und britischen Konzernen entgegen, denen der Abschluss von Ölabkommen mit Frankreich, Russland, China und anderen Ländern nicht gefällt. Auch die Erdöl-Exporteure Kuwait und Saudi-Arabien haben kein sonderlich großes Interesse, dass der Irak wieder auf dem für sie so lukrativen Markt mitmischt. Solange Saddam Hussein als Sicherheitsrisiko Nr. 1 in der Region dargestellt werden kann, brauchen sich auch die amerikanischen und britischen Rüstungsunternehmen keine Absatzsorgen zu machen. Für die potenziellen Gegner des Regimes erhalten die Rüstungsexporte zudem eine gewisse Plausibilität in der Öffentlichkeit.

Alternativen sind erforderlich

Um aus der Sackgasse herauszukommen, müssen konzeptionelle Konsequenzen gezogen werden. Deutschland muss sich im europäischen Kontext für eine Verbesserung der humanitären Lage einsetzen. Lebensmittel und Medikamente müssen vom Embargo ausgenommen werden. Eine Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung im humanitären und medizinischen Bereich, insbesondere über Nichtregierungsorganisationen und karitative Organisationen, ist dringend erforderlich.

Zu den notwendigen langfristigen Veränderungen zur Sicherung von Frieden und Stabilität in der Region zählen u.a.:

· die Stärkung der Zivilgesellschaft,

· die Förderung von Demokratisierungsprozessen und Menschenrechten,

· die Forcierung eines intensiven interkulturellen Dialogs zwischen Europa und den arabischen Ländern,

· die Unterstützung regionaler Bemühungen um Frieden und Sicherheit,

· die drastische Reduzierung von Rüstungsexporten.

Festzuhalten ist, dass die Kombination aus Sanktionen und Inspektionen keinen Erfolg hatte und die Hauptleidtragende des Konfliktes die Bevölkerung ist. Statt sie weiter in der Geiselhaft eines Diktators zu belassen, müssen Wege gefunden werden, den Menschen klar zu machen, dass nicht allein die Sanktionen an ihrem Elend schuld sind. Sie müssen durch eine gewisse Lockerung der Sanktionen die Chance erhalten, die zerstörte soziale und humanitäre Infrastruktur wieder aufzubauen. Dabei können die Vereinten Nationen, aber auch bereits im Irak tätige entwicklungspolitische Organisationen wesentlich beitragen.

Hervorhebung:

Die Kindersterblichkeit hat sich von 1994 bis 1999 mehr als verdoppelt. Fast 20 Prozent der Kinder sind als Folge der Sanktionen unterernährt. Mehr als eine halbe Million Kinder könnten nach Ansicht von UNICEF noch am Leben sein.