Ein unvollendetes Projekt

Postdemokratie, struktureller Populismus und Demokratie im liberalen Staat

Ausgehend von dem Aufstieg populistischer politischer Bewegungen in Europa, den USA und Lateinamerika in den letzten 20 Jahren hat sich eine lebhafte und kontroverse Debatte um die Bestimmung des Populismus-Begriffes, auch in der Zeitschrift Forum Wissenschaft, entwickelt. An die Debattenbeiträge der Hefte 1/2017 und 2/2017 knüpft Kai Mosebach an und skizziert einige kritische Bemerkungen zu der Hoffnung, Populismus per definitionem auszutreiben. Den zweiten Teil seines Beitrags veröffentlichen wir in Forum Wissenschaft 1/2019.

Ohne Frage stellen die rechtspopulistischen Bewegungen in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika eine Herausforderung für die liberalen Demokratien dar. Dieser Punkt wird von keinem der beteiligten Diskutanten bestritten. Wo sich letztlich die Geister scheiden, sind die Fragen, wie der Rechtspopulismus aus demokratietheoretischer Perspektive interpretiert wird und ob es eines Linkspopulismus bedarf, um rechtspopulistischen Tendenzen entgegenzutreten. Carsten von Wissel hat in einem Beitrag für Forum Wissenschaft 2/2017 die These vertreten, dass ein Linkspopulismus Teil des Problems und nicht der Lösung sei.1 Merkwürdigerweise gelangt er zu dieser These, ohne sich mit jenen Positionen auseinanderzusetzen, die einen wie auch immer aussehenden Linkspopulismus inhaltlich zu bestimmen oder zu erörtern versuchen.2

Implizit vom Vorwurf ausgehend, diese Beiträge seien theoretisch flach3, bestimmt er den Kern des Populismus (egal ob Linkspopulismus oder Rechtspopulismus) darin, dass solche Positionen antipluralistisch seien.4 Ein Populist ist demnach ein Politiker, der - wie von Wissel in Anlehnung an Jan-Werner Müller formuliert - "andere Stimmen, die für anderes, als sie das tun, eintreten, zum Schweigen zu bringen oder zu delegitimieren"5 versucht. Eine solche Definition würde ausreichen, Populisten zu identifizieren, und zwar "unabhängig von Politikinhalten, politischen Projekten oder einen wie auch immer fehlgeleiteten Realitätsbezug von Politik"6. Eine solche rein formal-definitorische Populismusbestimmung und -kritik ist jedoch in dreifacher Hinsicht unzureichend: erstens basiert sie auf einem historisch als atemberaubend zu bezeichnenden naiven Verständnis pluralismustheoretischer Demokratiekonzeptionen; zweitens vermag sie nicht das aktuelle Aufkommen rechtspopulistischer Bestrebungen in irgendeiner Weise verstehen zu helfen, den "populistischen Moment" zu erklären - ein Vorwurf, den von Wissel den meisten anderen Beiträgen in der Debatte vorhält; drittens mag zwar eine solche Definition auf den ersten Blick hilfreich sein, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung wegen des "strukturellen Populismus" in parlamentarischen Massendemokratien jedoch als problematisch und unpraktikabel, um demokratiegefährdenden Populismus zu identifizieren. Hierzu bedarf es unweigerlich einer inhaltlichen Auseinandersetzung. Diese Thesen sollen im Folgenden begründet werden.

Postdemokratie als strukturelles Problem (neo)liberaler Demokratien

Das von Dirk Jörke und Veith Selk verwendete Konzept der Postdemokratie bleibt in seinen Implikationen für die liberalen Demokratien reichlich unverstanden.7 Natürlich hat Carsten von Wissel recht, wenn er die These der Postdemokratie als eine empirische Hypothese charakterisiert.8 Es zeugt jedoch von einer reichlich fragwürdigen Argumentationsstrategie, die empirische Gültigkeit der von dem britischen Soziologen Colin Crouch bekannt gemachten These der postdemokratischen Situation im globalen Kapitalismus unter Verweis auf einen Feuilleton-Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu desavouieren.9 Mit dieser läppischen Geste erweist sich von Wissel einen Bärendienst, denn damit stellt er seine differenzierte Darstellung der Debatte um die populistische Herausforderungen in der liberalen Demokratie abschließend in ein recht trübes Licht. Man muss nämlich keineswegs Zuflucht zu neo- oder postmarxistischen Theoriepositionen suchen (die von Wissel offenbar scheut wie der Teufel das Weihwasser), um zu erkennen, dass es mit der faktischen Pluralität in liberalen Demokratien nicht so weit her ist.

Zwar ist zuzugestehen, dass von Wissel hier von einer normativ-pluralistischen Position aus argumentiert, allerdings hätte es genügt, die Argumente des Doyen der (neo)pluralistischen Demokratietheorie10 in den USA, Charles Lindblom, wahrzunehmen, um zu erkennen, dass in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft, in der die Verfügung über die wirtschaftlichen Produktionsmittel im Privateigentum großer Konzerne ist, die (auch: politische) Macht wirtschaftlicher Akteure strukturell angelegt ist.11 Wirtschaftliche Akteure verfügen demnach über eine "privilegierte Position"12, die erheblichen Einfluss auf den politischen Verhandlungsprozess hat13 und damit ein "beschränktes Bewusstsein"14 politischer Handlungsmöglichkeiten bewirken kann. Charles Lindblom weist auch darauf hin, dass diese wirtschaftliche Macht oftmals mit der politischen Macht von Mandatsträgern verknüpft ist. Daher spricht er in Bezug auf die "liberalen Demokratien" des Westens auch nicht von Demokratie, sondern von polyarchischen Systemen, die von (politischen und wirtschaftlichen) Eliten gesteuert werden. Demokratie als emphatischer Ausdruck der Kontrolle der Regierenden durch die Regierten harrt daher noch ihrer Realisierung und wurde bereits von Lindblom unter der Frage: "Hat die Demokratie noch eine Zukunft?" recht skeptisch diskutiert.15

Zwar ehrt von Wissel das Einstehen für die Gewährung politischer Pluralität und zweifellos ist diese Norm ein Bestandteil normativ verstandener pluraler Demokratien, aber die Reflexion der - wie es die beiden kanadischen Politikwissenschaftler Stephen Gill und David Law nennen - "strukturellen Macht des Kapitals"16 hätte sprichwörtliches Wasser in den Wein seiner (recht dünnen) pluralismustheoretischen Erkenntnis schütten können. Daher ist es auch notwendig, Politikinhalte, politische Projekte und den Realtätsgehalt von Politiken in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit populistischen Thesen zu stellen und sie nicht - überflüssigem Ballast gleich - über Bord zu werfen. Dafür eignet sich das kritisch gemeinte Konzept der Postdemokratie sehr wohl.

Die Postdemokratie-These des britischen Soziologen Colin Crouch17 behauptet, dass formal-demokratische Prozesse leerlaufen, weil der "Einfluss privilegierter Eliten" zunehme und daher das "egalitäre Projekt [der Demokratie; KM] zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert" werde.18 Neben kulturellen Gründen der Erosion demokratischen Engagements ist seiner Meinung nach vor allem der Aufstieg des "globalen Unternehmens"19 für die Entstehung und Stabilität der postdemokratischen Konstellation ursächlich. Dabei geht es ihm weniger um die konkrete Macht eines einzelnen großen Unternehmens - eine verschwörungstheoretische Leseweise seiner These wäre ein großes Missverständnis -, sondern um das globale Unternehmen als einer "sozialen Institution", das auch als "Modell für die Umgestaltung von Ökonomie und Staat" stehe.20 Diese viele Liberalkonservative verprellende These steht ganz in der Tradition der neopluralistischen Theorie von Lindblom und der deutscher Adepten dieser Theorierichtung, die in der "komplexen Demokratietheorie"21 und ihrer "postdemokratischen" Wende22 mündete.

Die bereits von Charles Lindblom stark gemachte These der Verschmelzung ökonomischer und politischer Macht sieht Colin Crouch in den postdemokratischen Konstellationen bestätigt.23 Erstens erscheinen die Regierungen gegenüber der geballten und globalisierten Macht der transnationalen Konzerne ohne Selbstvertrauen, indem sie von der Steuerungsmacht dieser privatwirtschaftlichen Akteure abhängig bleiben. Zweitens verbandeln sich ökonomische Eliten in diesem Prozess der Delegitimierung von Regierungshandeln mit der politischen Macht (Parteienfinanzierung, Lobbyismus, Öffentlich-Private Partnerschaften), was die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen fördere. Drittens behauptet Crouch, dass die "besondere Rolle der Medienunternehmen"24 für die zunehmend gestörte politische Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten mitverantwortlich sei. Daher findet es Colin Crouch überhaupt nicht überraschend, "dass Regierungspolitik inzwischen als eine Mischung aus Inkompetenz (im Hinblick auf die effiziente Bereitstellung von Leistungen), parasitärer Strippenzieherei und Wahlpropaganda betrachtet wird."25

Politökonomischer Hintergrund sei der Aufstieg des [i]Neoliberalismus[/i] als politisches Projekt im Anschluss an die Krise der Sozialdemokratie und der keynesianischen Strategie des Klassenkompromisses. Den Neoliberalismus betrachtet Crouch im zweiten Buch seiner Postdemokratie-Trilogie als umherirrenden Untoten, da er trotz der im Jahr 2008 von ihm verursachten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise scheinbar ewig lebe.26 Der Neoliberalismus vertrete die ideologische These, dass Privatunternehmen effizienter und wirtschaftlicher seien als öffentliche Unternehmen27; die neoliberale Ideologie werde dank der politischen Macht der großen Unternehmen auch massiv verbreitet. Abgesehen davon, dass Crouch’s Thesen kongruent gehen mit ähnlichen Diagnosen neo- und postmarxistischer Autoren28, lässt sich auch wegen der zahlreichen und praktisch nie endenden Skandale im politischen und wirtschaftlichen Tagesgeschäft des demokratischen Kapitalismus an der Grundtendenz seiner Aussage kaum zweifeln (siehe: Lobbycontrol29; Transparency International30).31

Die gerne erhobene Gegenthese, dass in einer mit partizipatorischen Formen der Beteiligung reichlich ausgestatteten politischen Demokratie, gern auch als "multiple Demokratie"32 geadelt, kaum ernsthaft eine postdemokratische Konstellation identifiziert werden könne - wie nicht nur von Wissel meint - , geht an dem Kern des Argumentes vorbei. Ohne Zweifel haben die Mitentscheidungs- und Wahlmöglichkeiten in vielen Bereichen zugenommen (u.a. Wahl von öffentlichen Dienstleistungen; Mitbestimmung bei lokalen Entscheidungen), aber kein seriöser und ernst zu nehmender politischer Beobachter wird bestreiten können, dass zentrale politische und wirtschaftliche Entscheidungen nicht "vom Volk" entschieden oder auch nur kontrolliert werden. Das Argument, dass dieses gar nicht dazu in der Lage wäre, mag zwar sachlich richtig sein, ist aber genau der Grund, warum Charles Lindblom den westlichen Polyarchien nicht attestieren wollte, im emphatischen Sinne des Wortes wirkliche Demokratien zu sein. Auch Colin Crouch ist der Auffassung, dass die egalitäre Vision der Demokratie auf der Idee beruhe, dass "die Masse der normalen Bürger wirklich die Gelegenheit hat, sich durch Diskussionen und im Rahmen unabhängiger Organisationen aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen."33 Dass diese Gelegenheiten in kapitalistisch strukturierten Gesellschaften (Charles Lindblom) oder im Rahmen ihrer neoliberalen Revitalisierung (Colin Crouch) strukturell eingeschränkt werden, ist die konvergente Erkenntnis der beiden neopluralistischen Sozialwissenschaftler.

›Global Trumpism‹ als Problem - It’s the economy, stupid!

Die These von der postdemokratischen Situation frischt die alte These von Charles Lindblom auf und gibt ein Interpretationspotential an die Hand, den Aufstieg des Rechts- und des Linkspopulismus gleichermaßen zu verstehen: Demokratie-Entleerung. In der Diskussion um den Aufstieg von Donald Trump hat der an der Brown-University lehrende Politikwissenschaftler Mark Blyth den bedenkenswerten Vorschlag unterbreitet, dass die populistischen Tendenzen in den liberalen Demokratien "des Westens" in der Tat nur unter Berücksichtigung der in der Postdemokratie-These vorausgesetzten politökonomischen Prozesse und Effekte der letzten 30 Jahre richtig verstanden werden könnten: dem Aufstieg des neoliberalen Globalkapitalismus.34 Seine Argumente sind mit der Postdemokratie-These weitgehend kompatibel, denn sie beruhen auf der gut belegbaren Annahme, dass die populistischen Bewegungen sich dem Aufstieg und der Krise des Neoliberalismus verdanken. Sie sind ein globales Phänomen und müssen als solches begriffen und analysiert werden.

In pointierter Weise spricht er - und das bereits vor der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten - von einem "globalen Trumpismus", den es als die nationalistische Infragestellung des globalen Kapitalismus zu verstehen gelte.35 Ohne Zweifel sei der Aufstieg populistischer Positionen einem gefühlten sozialen Abstieg und rassistischen Ressentiments sowie Attacken geschuldet, aber das Phänomen des Populismus bleibe unverstanden, wenn nicht globale ökonomische Prozesse selbst als notwendige Bedingungen mitgedacht würden. Insofern legt Blyth ebenso die Finger in die Wunde des Neoliberalismus wie Crouch, um die Krise der liberalen Demokratien zu begründen.

Allerdings bestehen Unterschiede zwischen beiden Interpretationen. Während Colin Crouch auf die Schwäche der sozialdemokratischen Regierungen gegen die globalen wirtschaftlichen Kräfte verweist, unterstreicht Mark Blyth die Komplizenschaft von Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Regierungen für die Durchsetzung anti-inflationärer und austeritätsorientierter Wirtschafts- und Sozialpolitiken seit den Krisen der 1970er Jahre.36 Deren Zielsetzung war und ist die Verbesserung der Gewinnmöglichkeiten für privatwirtschaftliche Unternehmen, die in den inflationären 1970er Jahren in Frage gestellt war.37 Sinkende Inflationsraten und steigende Gewinnmöglichkeiten erschufen ein Paradies für Gläubiger (creditors) und bewirkten zusammen mit sinkenden Reallöhnen eine Verschuldungsblase privater Schuldner (debtors). Eine ökonomische Konstellation, die Wolfgang Streeck treffend als "privatisierten Keynesianismus" bezeichnet und die als ein ökonomischer Blasenboom mit der 2008er-Krise zerplatzte.38 Die Krise verschärfte den Druck der Gläubiger auf die Schuldner, ihre Schulden zu begleichen (in den sozialen Milieus der Sub-Prime-Sektoren, den wirtschaftlich abgehängten Regionen Europas ebenso wie in den Krisenländern Südeuropas), damit die Gläubiger liquide blieben.39 Populismus von rechts und links sei die Folge; dieser sei trotz aller bedeutsamen ideologischen und politischen Unterschiede darin vereint, dass sie "anti-creditor-pro-debtor"-Koalitionen bildeten und sich der finanziellen Austerität und der globalen "creditor-class" entgegenstellten.40 Die etablierten Parteien werden daher - zurecht wie er findet - als Vollzieher des globalen Austeritätsregimes angeprangert, welches die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zum Ziel hatte und nicht als bedauerlicher Betriebsunfall abgetan werden könne.41

Das heuristische Gerüst der politökonomischen Rahmung politischer Auseinandersetzungen in den liberalen Demokratien von Mark Blyth zur Erklärung des Verständnisses des "populistischen Moments" muss allerdings - gerade im Hinblick auf Deutschland - modifiziert werden. Denn es kann weder die Entstehung der AfD in Deutschland noch die Trump’sche neoliberale Rückwärtsrolle in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen erklären.42 Die AfD in Deutschland (wie auch die "wahren Finnen" in Finnland) war ursprünglich eine klare pro-creditor-Partei, welche die (vermeintlich) zu geringe Härte der etablierten Parteien gegen die südeuropäischen Krisenländer und insbesondre Griechenlands anprangerte und dabei auch vor nationalistischen Stereotpyen nicht zurückschreckte.43

Diesen Aspekt des Geldnationalismus hat sie nicht aufgegeben, allerdings übernehmen zunehmend rassistische und menschenfeindliche Einstellungen gegen "Flüchtlinge", "Muslime" oder auch grundsätzlich anders denkende Politikerinnen und Politiker44 die Funktion der ideologischen Einigung. Was sich folglich aufgrund der besonderen ökonomischen Stellung des Modell Deutschland im Kriseneuropa auftut, ist (eben auch) eine Radikalisierung der spezifischen "creditor-class" im Gegensatz zu den von Blyth herausgearbeiteten Konfliktlinien, die es unzweifelhaft gibt und die - gerade auch ideologisch - in den Links- und Rechtspopulismus hineinstrahlen (z.B. bei Le Pen und den Brexit-Befürwortern). Hierin könnte eine veritable Sprengkraft für die am 24.09.17 als drittstärkste Partei in den Bundestag gewählte rechtspopulistische AfD liegen, liegen doch ideologisch zum Teil höchst gegensätzliche (pro-creditor vs. pro-debtor-Positionen) wirtschafts- und sozialpolitische Positionen in ihrem Wahlprogramm vor.45 Nach dem Ausscheiden großer Teile der ursprünglichen, die Parteigründung initiierenden "pro-creditor"-Positionen aus der AfD, die im Austritt der (rechtszentristischen) Ko-Vorsitzenden der Bundespartei, Frauke Petry, aus der AfD-Fraktion kulminierte, ist allerdings zu befürchten, dass diese manifesten wirtschafts- und sozialpolitischen Differenzen aus der AfD verschwinden und sich ein - im wörtlichen Sinne - nationalistisch-sozialpolitisches Profil bildet, das vor allem auf rassistische und sexistische Ausgrenzungsdiskurse und Ideologeme setzt. Die jüngsten Entwicklungen bestätigen diese Befürchtung.

Auch Trump scheint sich eher wieder dem neoliberalen Untoten, von dem Colin Crouch spricht46, anzunähern, nachdem er in seinem Wahlkampf noch (rechts- und linkspopulistische Ideologeme nutzend) gegen "Washington" und "Wall Street" gewettert hatte.47 Was vor allem bleibt sind mehr oder weniger offen rassistische und sexistische Stereotype, die er über Twitter und Presse-Statements bedient. Das alles reduziert keineswegs die politische Bedeutsamkeit der globalökonomischen Beziehungen zwischen Kreditgebern und Kreditnehmern, Gläubigern und Schuldnern im globalen Kapitalismus, aber es stellt sich in der Tat die Frage, wie diese widersprüchlichen Konfliktlinien politisch vermittelt sind und aufgefangen werden können. Ohne dies an dieser Stelle angemessen erörtern zu können, ist wichtig festzustellen, dass eine Bestimmung des "populistischen Moments" eben sehr wohl einer Auseinandersetzung mit politischen Projekten und Politikinhalten bedarf und dass dabei auch eine Berücksichtigung globalökonomischer Zusammenhänge (d.h. die "richtigen" Realitätsinterpretationen) unerlässlich ist. Formalismen und definitorische Leerhülsen helfen hier nicht weiter.

Anmerkungen

1) Carsten von Wissel 2017: "Teil des Problems. Warum Linkspopulismus nicht Teil der Lösung sein kann", in: Forum Wissenschaft 2/2017: 44-47.

2) Vgl. die Beiträge von: Dieter Boris 2017: "Aspekte von Linkspopulismus", in: Forum Wissenschaft 1/2017: 12-16., Christina Kaindl 2017: "In die Mitte des Handgemenges. Warum die Linke Kämpfe auch führen muss", in: Forum Wissenschaft 1/2017: 8-11 und Janis Ehling: "Populismus. Ein taugliches Konzept für Linke?", in: Forum Wissenschaft 1/2017: 33-35.

3) Carsten von Wissel bezeichnet sie ohne jede Begründung als "Populismusapologetik" (siehe Fn1): 46.

4) Ebd.: 46f.

5) Ebd.: 46. Carsten von Wissel bezieht sich hier auf: Jan-Werner Müller 2014: Was ist Populismus, Berlin.

6) Ebd.

7) Dirk Jörke / Veith Welk 2017: "Populismus verstehen", in: Forum Wissenschaft 1/2017: 4-7.

8) Carsten von Wissel 2017 (siehe Fn 1): 47. Im Artikel für Forum Wissenschaft verwenden Dirk Jörke und Veith Selk den Begriff Postdemokratie nicht, wohl aber den Begriffsinhalt; siehe aber: Dirk Jörke 2011: "Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie", in: APuZ 1-2/2011: 13-18.

9) Carsten von Wissel 2007 [(siehe Fn 1): 47, Fn 25] macht aber genau das.

10) Um Begriffsverwirrung hier zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass sich die neopluralistische Demokratietheorie von Charles Lindblom in zentralen Punkten von dem in Deutschland staatstheoretisch aufgeladenen Begriff des Neopluralismus unterscheidet. Während letzterer mit dem Namen Ernst Fraenkel verbunden ist und im Gegensatz zum protofaschistischen Staatsbegriff von Carl Schmitt den Staat als Ort des gesellschaftlichen Interessenausgleichs zu bestimmen versuchte, geht der Lindblomsche Neopluralismus darüber hinaus, was sich insbesondere in seiner Rezeption als Ansatzpunkt für Kritik am Fraenkelschen Staatskonzept in der deutschen Debatte zeigte (vgl. Carl Böhret / Werner Jann / Eva Kronenwett 1988: Innenpolitik und Politische Theorie. Ein Studienbuch, 3., neubearbeitete und erweiterte Auflage, Opladen: 174ff.; auch: Klaus von Beyme 2000: Die politischen Theorien der Gegenwart. Eine Einführung, 8., neubearbeitete und erweiterte Auflage, Opladen: 277f.).

11) Charles E. Lindblom 1983: Jenseits von Markt und Staat. Eine Kritik der politischen und ökonomischen Systeme, Frankfurt a.M./Berlin/Wien; siehe auch: Charles E. Lindblom 2001: The Market System. What it is, How it Works, and What to Make of It, New Haven & London: Yale University Press.

12) Charles E. Lindblom 1983 (Fn 11): 270ff.

13) Ebd.: 299ff.

14) Ebd.: 318ff.

15) Ebd.: 538ff.

16) Stephen Gill / David Law 1989: "Global Hegemony and the Structural Power of Capital", in: International Studies Quarterly 33: 475-499.

17) Vgl. Colin Crouch 2008: Postdemokratie, Frankfurt a.M.; Colin Crouch 2011: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus - Postdemokratie II, Berlin.

18) Colin Crouch 2008 (siehe Fn 17): 13.

19) Ebd.: 45ff.

20) Ebd.: 50.

21) Vgl. Fritz W. Scharpf 1975: Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Konstanz.

22) Fritz W. Scharpf 1999: Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch?, Frankfurt a.M./New York; Wolfgang Streeck 2016: "Die Demokratie in der Krise", in: Daniel Brühlmeier / Philippe Mastronardi (Hg.): Demokratie in der Krise. Analysen, Prozesse und Perspektiven, Zürich: 67-76.

23) Colin Crouch 2008 (siehe Fn 17): 57ff.

24) Ebd.: 63.

25) Ebd: 59f.

26) Colin Crouch 2011 (siehe Fn 17).

27) Ebd.: 49f.

28) Aufmerksame Beobachter des pluralen Erkenntnisstrebens in den Sozialwissenschaften können sogar zu der Beobachtung gelangen, dass die (grundlegende) These von der Postdemokratie von neo- bzw. postmarxistischen Autoren bereits wesentlich früher benannt und entwickelt wurde als im Crouch’schen Oeuvre (vgl. für viele: Nicos Poulantzas 2002 [1978]: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Mit einer Einleitung von Alex Demirovic, Joachim Hirsch und Bob Jessop, Hamburg: 231ff.; Bob Jessop 1990: "The democratic state and the national interest", in: ders.: State theory. Putting capitalist state in its place, Cambridge/Oxford: 170-189; Joachim Hirsch 1995: Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus, Amsterdam/Berlin: 136ff.; Frank Deppe 1997: Fin de Siécle. Am Übergang ins 21. Jahrhundert, Köln: 22ff.). Ein systematischer wissenschaftssoziologischer Vergleich neopluralistischer und neomarxistischer Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft wäre sicherlich angebracht und würde vermutlich interessante Konvergenzlinien aufzeigen.

29) Lobbycontrol ist eine unabhängige Nicht-Regierungs-Organisation, siehe: URL: https://www.lobbycontrol.de (02.09.18).

30) Transparency International ist eine international tätige Nicht-Regierungs-Organisation, siehe: URL: https://www.transparency.de (02.09.18).

31) Zweifellos bezieht sich Colin Crouch in seinen Analysen vor allem auf den angloamerikanischen Kontext. Es ist jedoch ein gern verbreiteter Irrtum zu glauben, dass die kontinentaleuropäischen Verhältnisse und Erfahrungen grundsätzlich anders wären.

32) Vgl. Paul Nolte 2011: "Von der repräsentativen zur multiplen Demokratie", in: APuZ 1-2/2011: 5-12; Paul Nolte 2012: Was ist Demokratie. Geschichte und Gegenwart, Bonn.

33)[ Colin Crouch 2008 (siehe Fn 17): 8.

34) Mark Blyth 2016: "Global Trumpism. Why Trump’s Victory Was 30 Years in the Making and Why It Won’t Stop Here", in: Foreign Affairs, URL: http://www.relooney.com/NS3040/Foreign-Affairs-Global-Trumpism.pdf (15.08.18).

35) Ebd. In diesem Beitrag spricht er von einer neuen Ära des Kapitalismus, die er als neonationalistische Epoche bezeichnet. Diese These, die sich vor allem auf die veränderten Ideologiestrukturen, Diskurse und Rhetorikstrategien bezieht, scheint etwas verfrüht zu sein, verdankt sich aber seinem konstruktivistischen Wissenschafts- und Politikverständnis, demzufolge radikale Veränderungen politischer Ideen und Diskurse einem (möglichen) Politikwandel vorangehen (vgl. Mark Blyth 2003: "Structures Do Not Come with an Instruction Sheet: Interests, Ideas, and Progress in Political Science", in: Perspectives on Politics 1(4): 695-706).

36) Ebd.

37) Vgl. auch seine großartige vergleichende Studie zur "zweiten großen Transformation" der Durchsetzung dieser neoliberalen Politiken in Großbritannien und Schweden, wo insbesondere große Unternehmen, Unternehmerverbände und wirtschaftsnahe Think Tanks den diskursiven Pfad ebneten: Mark Blyth 2002: Great Transformations. Economic Ideas and Institutional Change in The Twentieth Century, Cambridge et al.: Cambridge University Press.

38) Wolfgang Streeck 2013: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin.

39) Faszinierend nachzulesen in: Yanis Varoufakis 2016: And The Weak Suffer What They Must? Europe, Austerity and the Threat to Global Stability, London: 146ff.; ders. 2017: Adults in the Room. My Battle with Europe’s Deep Establishment, London: 19ff.

40) Vgl. Mark Blyth 2016 (siehe Fn 30).

41) Mark Blyth 2013: Austerity. The History of a Dangerous Idea, Oxford: Oxford University Press; siehe auch: Thomas Piketty 2014: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München.

42) Auch die ausbleibende "Linkswende" lässt sich mit dem angebotenen Modell von Mark Blyth nicht vollständig erklären. Für eine bedenkenswerte Interpretation ausbleibender linkspopulistischer Bewegungen in Deutschland (die Linkspartei ist keineswegs vergleichbar mit der Bewegung um Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn) siehe den Beitrag von Caspar Shaker: "Und ausgerechnet ihr bleibt still!", in: DIE ZEIT 38/2017 (14.11.17): 15-17.

43) Auch die Bundeskanzlerin nahm vor der sog. "Flüchtlingskrise" gegenüber den "faulen Griechen" kein Blatt vor den Mund. Vgl. Philip Faible 2011: "Merkel und das Märchen vom faulen Griechen", in: Der Tagesspiegel, URL: http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/euro-krise-merkel-und-das-maerchen-vom-faulen-griechen/4192684.html (20.09.17). Möglicherweise hat sie wegen dieser offen wohlstandschauvinistischen Bemerkungen den in den konservativ-liberalen Parteien zum Teil vertretenen Positionen öffentliche Weihung gegeben und nationalistischen Stereotypen im öffentlichen Diskurs Tür und Tor geöffnet. Dies wird nur eine detaillierte medien- und kommunikationswissenschaftliche Diskursanalyse zeigen können.

44) So sprach etwa der AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland nach der für ihn erfreulich ausgegangenen Wahl davon, die mögliche (erneute) Bundeskanzlerin Angela Merkel zu jagen und sich sein Land wiederzuholen. Vom Aufruf zur Anwendung physischer Gewalt zur Durchsetzung politisch-ideologischer Interessen ist dies nicht mehr weit weg, URL: http://www.focus.de/politik/deutschland/bundestagswahl_2017/soll-das-der-ton-der-auseinandersetzung-sein-er-will-merkel-jagen-gauland-aussage-laesst-schlimmes-fuer-bundestag-befuerchten_id_7632697.html (02.09.18). Eine solche Wortwahl ist eines Demokraten nicht würdig und kann nur als sprachliche Gewaltphantasie bezeichnet werden, die strukturell-physische Gewalt legitimiert (siehe auch: Nancy S. Love 2017: "Back to the Future. Trendy Fasicm, the Trump Effect and the Alt-Right", in: New Political Science 39(2): 263-269).

45) Siehe die Darstellung der Wahlprogramme durch die Landeszentrale für Politische Bildung Berlin-Brandenburg: https://www.politische-bildung-brandenburg.de/node/13280 (02.09.18).

46) Colin Crouch 2011 (siehe Fn 17).

47) Die Ermordung einer Demonstrantin im texanischen Charlottesville durch einen bekennenden Neofaschisten, die im Kontext von inszenierten Protesten offen rechtsextremistischer und neofaschistischer Organisationen gegen die Abschaffung des Denkmals für einen rassistischen Südstaaten-General geschah, kulminierte in einer recht schlaffen, um nicht zu sagen widerwilligen Verurteilung der rechtsextremistischen Gruppierungen durch US-Präsident Donald Trump. Er wurde - insbesondere nachdem er zugunsten der offen rechtsextremistischen Gruppierungen nachgelegt, deren Motivation gewürdigt und den Gegendemonstranten ebenfalls Gewaltprovokationen unterstellt hatte - dafür von vielen liberalen US-Medien hart kritisiert und in politisch orientierten TV-Comedy-Shows als "heimlicher Faschist" dargestellt (https://www.nytimes.com/video/business/media/100000005367135/tv-hosts-react-trumps -charlottesville-remarks.html [02.08.18]).

Dipl. Pol. Kai Mosebach ist Politikwissenschaftler und Dozent an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein.