Um China

Am selben Abend, an dem sich der chinesische Präsident Xi Jinping und US-Präsident Donald Trump in Buenos Aires am Rande des G 20-Treffens zusammensetzten, um einen Waffenstillstand im Handelskrieg zu vereinbaren, wurde in Vancouver (Kanada) die chinesische Spitzenmanagerin Meng Wanzhou festgesetzt. Sie wollte nicht einmal nach Kanada einreisen, sondern war nur im Transit auf einem Flug nach Mexiko. Gleichwohl erreichte sie der Bannstrahl der US-amerikanischen Anmaßung, das innerstaatliche Recht der Vereinigten Staaten auf den ganzen Globus auszudehnen. Die kanadischen Behörden kuschten und vermeldeten, das Rechtshilfe- und Auslieferungsabkommen lasse ihnen keine andere Möglichkeit, als die, Erfüllungsgehilfen des Großen Nachbarn zu sein.
Nun ist Frau Meng nicht irgendwer, obwohl sie außerhalb von Insider-Kreisen zuvor kaum bekannt war und nicht im Lichte der Öffentlichkeit stand: Sie ist Finanzchefin und stellvertretende Vorstandsvorsitzende des chinesischen Technologiekonzerns Huawei und zugleich die Tochter des Firmengründers Ren Zhengfei. Huawei gilt als weltgrößter Ausrüster für digitale Netzwerke und zweitgrößter Smartphone-Produzent. Aus Sicht der USA ist der chinesische Konzern der schärfste Konkurrent für amerikanische Hersteller; schneller als die US-Konkurrenz hat Huawei die Technologien für den neuen 5G-Standard entwickelt. Mit der Behauptung, Huawei arbeite eng mit den chinesischen Geheimdiensten zusammen, so dass alle sensiblen Daten, die über die kritische Internet- und Kommunikations-Infrastruktur von 5G-Netzwerken laufen, am Ende in Peking landen, hat die US-Regierung Huawei den Marktzugang in den USA verweigert und will dies auch global erreichen. (Wahrscheinlich erinnern sich die US-Behörden an die enge Kooperation ihrer Internetkonzerne mit NSA und CIA und unterstellen daher, anderenorts sei das auch so.) Australien, Neuseeland und britische Firmen haben in diesem Sinne mittlerweile den Verzicht auf Huawei-Technik beim 5G-Netzausbau erklärt. Deutsche Stellen gehen (noch?) davon aus, dass die Spionagevorwürfe nicht bewiesen seien und ohne Huawei der Ausbau des 5G-Netzes in Deutschland sehr viel teurer und langwieriger werde.
Vorwand für die Verhaftung von Frau Meng war jedoch ein anderer: Huawei oder ein Tochterunternehmen in Hongkong hätten Geschäfte mit dem Iran gemacht und damit gegen die wider Teheran verhängten US-Sanktionen verstoßen. Und dafür sei Meng Wanzhou maßgeblich verantwortlich. Nun hatte China diese „Sanktionen“ nicht anerkannt und Huawei damit nach chinesischem Recht nichts Rechtsbrecherisches getan, gleichwohl hatten die USA einen internationalen Haftbefehl ausgelöst und an die kanadischen Behörden ein Auslieferungsersuchen gerichtet. Ob sie auch gleich noch die Information mitgeliefert hatten, in welchem Flugzeug die Frau saß, wurde nicht bestätigt.
Der Vorfall zeigt schlaglichtartig, wie die USA mit Zähnen und Klauen ihre Weltmachtrolle zu verteidigen suchen und mit welchen Bandagen diese Kämpfe ausgetragen werden. Im Kern geht es darum, dass die chinesischen Hochtechnologie-Firmen dabei sind, sich einen Vorsprung gegenüber den westlichen Technologien zu erarbeiten, der auch am globalen Markt immer sichtbarer wird.
Ganz in diesem Sinne hat der österreichische IT-Manager, China-Experte und Autor Robert Fitzthum in seinem kürzlich erschienenen Buch „China verstehen“ festgestellt: „Diejenigen Teile der amerikanischen Industrie, die mit der chinesischen Wirtschaft nicht konkurrenzfähig sind, und Teile der Eliten, denen es schwer fällt, die Rolle der USA nach dem Ende des Kalten Krieges als weltweite ‚Nummer Eins‘ schwinden zu sehen und die den weltweiten Einflussverlust der USA in hard power und soft power nicht wahrhaben wollen, Beratungsunternehmen und Forschungsinstitute, die mit dem Aufbauschen von Problemen mehr Geschäft machen als mit friedlicher Entwicklung, das US-Militär, Geheimdienste und die damit verbundene Presse – alle diese Gruppen rüsten für eine hitzige Auseinandersetzung. Sie verstärken die Tendenzen des ‚China Containment‘, die Entwicklung Chinas einzudämmen und zu behindern.“ Die USA verstärken ihre internationale Druckpolitik, insbesondere auch gegen China und Russland, nicht weil sie stärker, sondern weil sie schwächer geworden sind.
Fitzthums Buch gibt einen guten Überblick über den grandiosen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg Chinas in den vergangenen vierzig Jahren. Das Wirtschaftswachstum lag zwischen 1980 und 2016 im Jahresdurchschnitt bei 9,6 Prozent (in Deutschland waren es 1,7 Prozent). 680 Millionen Menschen wurden von 1980 bis 2010 aus extremer Armut geholt, 2012–2017 nochmals 70 Millionen; die verbliebenen 30 Millionen sollen diesen Aufstieg bis 2020 erfahren. Die Reallöhne wurden 2006–2015 um 125 Prozent gesteigert, in Indien (das eher Vergleichsland ist als etwa Deutschland) nur um 60 Prozent. Die Zahl der Krankenversicherten in China stieg von 200 Millionen im Jahre 2004 auf 1,3 Milliarden Menschen 2014 – das sind faktisch alle. 840 Millionen Menschen waren 2014 vom Rentensystem erfasst, 2020 sollen es alle sein. Die Handelsüberschüsse betrugen laut Fitzthum 2016 510,7 Milliarden US-Dollar (USD), die Devisenreserven erreichten 2014 den Höhepunkt von etwa 4000 Milliarden USD; seither haben sie etwas abgenommen, auch wegen der großen Investitionen in die heimische Infrastruktur und in das internationale Projekt der „Neuen Seidenstraße“.
Dennoch ist China statistisch gesehen weiter ein „Entwicklungsland“: das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug 2016 15.400 USD, in Deutschland 48.110 USD und in den USA 57.400 USD. Nach den Plänen der Kommunistischen Partei soll China 2021 eine „Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand“ sein, 2049 (zum 100. Jahrestag der Volksrepublik) ein „modernes sozialistisches Land“. Dann wird nach Schätzungen das Land auch im Pro-Kopf-Einkommen die entwickelten Länder des Westens erreicht oder überholt haben.
Es ist dieser Aufstieg Chinas, auf den die USA mit militärischer Aufrüstung und Einkreisung, mit der Anzettelung regionaler Konflikte in geographischer Nähe Chinas – nicht nur im Südchinesischen Meer, auch in Taiwan und Korea, der Förderung sezessionistischer Kräfte in Tibet und Xinjiang, geheimdienstfinanzierten Operationen für eine „Farbrevolution“ in China, aber eben auch mit wirtschaftlichem und politischem Druck auf Drittländer reagieren.
Zu dem Buch sei noch angemerkt: Leider beweist Robert Fitzthum, dass ein guter Landeskundler und Wirtschaftsanalytiker nicht notwendig auch ein guter Kenner US-amerikanischer Politikformulierung, geopolitischer Zusammenhänge und militärischer Sachverhalte ist.
Zugleich sei nachgetragen: Das chinesische Außenministerium hatte die Botschafter Kanadas und der USA einbestellt und nachdrücklich gegen die Verhaftung von Frau Meng protestiert. Am 12. Dezember hat ein kanadisches Gericht sie gegen eine hohe Kaution und mit Fußfessel-Zwang freigelassen. Sie darf jedoch das Land nicht verlassen, bis über ihre Auslieferung in die USA entschieden ist. Dieses „Spiel“ geht damit in die nächste Runde. Das „große Spiel“ geht ohnehin weiter.

Robert Fitzthum: China verstehen. Vom Aufstieg zur Wirtschaftsmacht und der Eindämmungspolitik der USA, Promedia Verlag, Wien 2018, 222 Seiten, 17,90 Euro.