Eugenik nach 1945

"Unwerturteile" in Ost und West

Die verweigerte Anerkennung der Zwangssterilisierten als NS-Verfolgte verweist auf die Kontinuität der Lebens(un)wert-Logik.

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Die Zwangssterilisationen wurden im Nationalsozialismus damit gerechtfertigt, dass Träger*innen sogenannter Erbkrankheiten eine Bedrohung für die Gesundheit des „Volkskörpers“ darstellten. Mit den Sterilisationsurteilen wurde daher nicht nur der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit beschlossen, sondern zugleich ein „Unwerturteil“ über die Betroffenen verhängt. Diese „doppelte Verletzung“ wirkte über die Zäsur 1945 hinaus, da das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) nicht als NS-Unrecht verstanden wurde.(1)

Recht- und unrechtmäßige Zwangssterilisationen

Nach Kriegsende wurde in den Besatzungszonen unterschiedlich mit dem GzVeN und den Zwangssterilisierten umgegangen. Im Januar 1946 setzte die Sowjetische Besatzungsmacht das Gesetz und sämtliche Verordnungen zur Sterilisation außer Kraft, die strafrechtliche Aufarbeitung sowie die Anerkennung der Betroffenen als Opfer des Faschismus wurden erwogen. Angesichts deutschlandpolitischer Überlegungen (2) setzten sich jedoch diejenigen durch, die bei der Sterilisation zwischen legitimen und illegitimen Eingriffen differenzierten: Nur noch die Eingriffe aus politischen oder „rassischen“ Gründen sollten strafrechtlich und ab 1950 für die Anerkennung als Verfolgte des Naziregimes relevant sein. In der DDR wurden die Zwangssterilisationen im Zuge der Kanonisierung des Antifaschismus nur noch als politisches und unwissenschaftliches Instrument gegen die NS-Gegner*innen dargestellt.
In der Bundesrepublik dominierte dagegen bis in die 1980er Jahre die Annahme, bei der NS-Sterilisationspolitik habe es sich um eine normale staatliche und mit dem Grundgesetz konforme Maßnahme gehandelt. Begründet wurde dies mit der internationalen Dimension von Sterilisation/Eugenik und deren Wissenschaftlichkeit, mit Verweis auf die vermeintlich rechtsstaatlichen Verfahren an den Erbgesundheitsgerichten, durch eine Bagatellisierung des Zwangs sowie der Folgen für die Betroffenen und nicht zuletzt wegen der Bemühungen um ein neues Sterilisationsgesetz. Aus der so unterstellten Normalität des GzVeN und seiner Anwendung folgte eine Unterscheidung in recht- und unrechtmäßige Eingriffe: jene mit und jene ohne Verfahren nach GzVeN. Mit dieser Deutung wurden die Zwangssterilisierten bewusst von der Anerkennung als NS-Verfolgte nach Bundesentschädigungsgesetz (BEG) ausgeschlossen, wie Sitzungen vom Wiedergutmachungsausschuss des Bundestages 1961 belegen.
Die „Unwerturteile“ behielten damit nach 1945/49 mehrheitlich ihre Gültigkeit. Allein in den Ländern der Britischen Zone waren sie im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren anfechtbar, wenn Verfahrensfehler oder Fehldiagnosen nachgewiesen wurden.(3) Hier wurde in den meisten Fällen die schwammige Diagnose „angeborener Schwachsinn“ verhandelt, wobei selten die Heil- und Vererbbarkeit (Kriterien des GzVeN), sondern oftmals die Frage der „Lebensbewährung“ entscheidend war: Unter dem Deckmantel medizinischer Diagnostik wurde die soziale Angepasstheit der Klagenden, ihre gesellschaftliche Nützlichkeit und Einhaltung bestimmter Normen beurteilt.(4) Damit zeigen die Wiederaufnahmeverfahren exemplarisch, dass die Zuschreibung einer Erbkrankheit auch nach 1945 dazu diente, bestimmte Gewaltanwendungen zu legitimieren, die „normalerweise“ nicht legitimierbar waren und die erst durch die wissenschaftlich fundierte Verteilung von Lebenswert möglich wurden.(5) Aus dieser Beobachtung folgt, dass die seit 1945 immer wieder geführte Diskussion darum, inwiefern die Liste der Erbkrankheiten sowie die Diagnose(verfahren) wissenschaftlich fundiert waren, eine produktivere Wendung nehmen könnte, wenn man die Funktion der Zuschreibung bestimmter Krankheiten zur Legitimation von Gewalt in den Fokus rückte.

Unerwünschter Nachwuchs

Seit den 1980er Jahren vollzog sich in der bundesdeutschen NS-Aufarbeitung ein Wandel: Die Zwangssterilisationen wurden als Unrecht anerkannt (1988), die Urteile aufgehoben (1998) und die Betroffenen eingeschränkt entschädigt (einmalig 1980, seit 1988 monatlich), wobei bis heute die Gleichstellung mit den NS-Verfolgten ausbleibt.(6) Insbesondere der veränderte Umgang mit dem GzVeN, das seit 1986 rückwirkend als niemals grundgesetzkonform betrachtet wird, wirft die Frage auf, inwiefern sich nicht nur der Umgang mit den Betroffenen, sondern auch die den Eingriffen zugrundeliegende Argumentationslogik änderte: Inwiefern blieb die Verteilung von Lebenswert auf Basis der Zuschreibung bestimmter Krankheiten ein sagbares und valides Argument in den Diskursen der deutschen Nachkriegsstaaten?
Blickt man auf die Diskussionen zu Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch in beiden Staaten, zeigt sich die Persistenz der Lebens(un)wert-Logik. Dies wird bereits daran ersichtlich, dass die Maßnahmen nicht primär als Instrumente selbstbestimmter Sexualität diskutiert wurden. Ihre Notwendigkeit wurde vielmehr angesichts der Verhinderung unerwünschten Nachwuchses begründet und dadurch an bestimmte, von der medizinischen Deutungshoheit abhängige Bedingungen geknüpft. 1969 wurde in der DDR die freiwillige Sterilisation als gesundheitserhaltende/-fördernde Maßnahme für die Frau legalisiert. Bereits 1950 hatte man die liberale Schwangerschaftsabbruchpolitik der Besatzungsjahre auf die medizinische und eugenische Indikation begrenzt, bevor 1965 die soziale ergänzt und schließlich 1972 die Indikationsregelung zugunsten eines Rechtes auf Abtreibung abgeschafft wurde.(7) Auch in der Bundesrepublik wurde 1969 über die freiwillige Sterilisation entschieden: Der Deutsche Ärztetag erklärte sie aus medizinischer, genetischer oder schwerer sozialer Indikation für zulässig. In den 1970er Jahren folgten die heftigen Diskussionen zum Schwangerschaftsabbruch. Als 1976 schließlich der § 218 des Strafgesetzbuchs reformiert wurde, wurde unter anderem auch die embryopathische Indikation aufgenommen. Damit leitete der Gesetzgeber aus der prognostizierten (A)Normalität des Fötus unterschiedliche und sich gegenüberstehende (Schutz)Rechte für die Schwangere und das werdende Kind ab.(8)
Die embryopathische Indikation im § 218 repräsentiert zwei Entwicklungen im Umgang mit der Verhinderung bestimmten Nachwuchses: den Wandel vom Zwang zur Freiwilligkeit sowie den Wandel vom Volk als argumentativer Bezugspunkt zum Individuum. Vor dem Hintergrund westdeutscher Liberalisierung wurde kranker Nachwuchs zwar weiter als ökonomisches Problem betrachtet, öffentlich aber vor allem als individuelle Belastung thematisiert, die dank Technik und Risikoberechnungen vermeidbar werden sollte. Dies zeigen die Ausbreitung und Normalisierung der Pränataldiagnostik (PND) seit den 1960er Jahren und die Etablierung humangenetischer Beratung in den 1970er Jahren. Flächendeckend wurden seit 1972 Beratungsstellen eingerichtet, die mit den geringeren Kosten für Staat und Gesundheitswesen im Vergleich zu potentiell pflegebedürftigem Nachwuchs begründet wurden. Ihr Ziel war es, die Individuen bei der Familienplanung mit Risiko-Wissen über die Vererbung auszustatten und so zu präventivem Handeln anzuregen. Dafür wurden in der Beratung wie auch bei der PND bestimmte Krankheiten selbstverständlich und ausschließlich mit Leid und Belastung assoziiert. Die Hamburger Beratungspraxis veranschaulicht zudem, wie diese Logik zur „freiwilligen“ Sterilisation zahlreicher als geistig behindert kategorisierter Frauen und Mädchen führte, um angesichts ihres zuvor erstrittenen Rechtes auf Sexualität nicht nur einer Vererbung ihrer Krankheit, sondern auch einer als unmöglich gedachten Mutterschaft vorzubeugen.(9) Diese Eingriffe an sogenannten einwilligungsunfähigen Personen wurden 1992 mit dem Betreuungsgesetz erschwert, jedoch nicht verunmöglicht.
Die Zuschreibung von Krankheit fungierte damit weiterhin als Argument für Gewaltanwendungen, die nun jedoch anscheinend im Interesse des Individuums vollzogen wurden und deshalb Fragen nach Verantwortung und Selbstbestimmung aufwerfen. Ferner ist nicht zu vernachlässigen, dass vor wie nach 1945 in der Frage der Verhinderung unerwünschten Nachwuchses die Körper von Frauen im Zentrum der Diskussionen und Eingriffe stehen. Eine Analyse solcher Politiken ohne die Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse griffe damit zu kurz.

Fußnoten:
(1)    Braun, Kathrin/Herrmann, Svea L./Brekke, Ole 2012: Zwischen Gesetz und Gerechtigkeit. Staatliche Sterilisationspolitiken und der Kampf der Opfer um Wiedergutmachung, in: Kritische Justiz 45: 3, S. 298-315, hier: S. 299f.
(2)    Sowjetische Besatzungsmacht und SED orientierten sich in der Opfer-Anerkennung bis 1947/48 an den Westzonen. Danach führte die Abkehr von einer gesamtdeutschen Staatenlösung zum auch für die NS-Aufarbeitung prägenden Konkurrenzverhältnis zwischen Ost und West.
(3)    In den Westzonen wurde unterschiedlich mit dem Gesetz umgegangen: Während es in Bayern außer Kraft gesetzt wurde, blieb es in der Britischen Zone gültig, wodurch nach § 12 Abs. 2 Verfahren wieder aufgenommen werden konnten. Bundesweit wurde das GzVeN erst 1974 vollständig außer Kraft gesetzt. 2007 ächtete der Bundestag das GzVeN dann als NS-Unrecht, verweigerte jedoch eine Nichtigkeitserklärung mit der Argumentation, dass das Gesetz mit Inkrafttreten des Grundgesetzes ungültig geworden sei.
(4)    Westermann, Stefanie 2010: Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln.
(5)    Zum (Selbst)Verständnis der Eugenik als Wissenschaft: Etzemüller, Thomas 2007: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld.
(6)    Ihre Entschädigung erfolgt nicht nach BEG als NS-Unrecht, sondern nach Allgemeinem Kriegsfolgengesetz als kriegsbedingter Schaden.
(7)    Die medizinische Indikation erlaubt Abbrüche bei Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Schwangeren, die embryopathische/eugenische Indikation, wenn der Fötus als behindert gilt, und die soziale, wenn die Lebensumstände der Schwangeren ein (weiteres) Kind unzumutbar erscheinen lassen.
(8)    Lemke, Thomas 2012: Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität, in: Bröckling, Ulrich et al. (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M., S. 227-264.
(9)    Schenk, Britta-Marie 2015: Bevölkerungspolitik im Kleinen: Sterilisation in der humangenetischen Beratungsstelle im Hamburger AK Barmbek, in: Thomas Etzemüller (Hg.): Vom „Volk“ zur „Population“. Interventionistische Bevölkerungspolitik in der Nachkriegszeit, Münster, S. 223-240.