Jenseits von Markt und Staat

Saatgut als Gemeingut


Eine neue Open-Source-Lizenz schützt Saatgut vor Sortenschutz und Patenten. Die Initiative dahinter sieht in der Lizenz einen möglichen Ausweg aus der zunehmenden Monopolisierung und der Vereinheitlichung von Saatgut, Pflanzenzüchtung und Landwirtschaft.

www.gen-ethisches-netzwerk.de/publikationen/gid/242

 

Jeder kennt Wikipedia. Die Einträge der bekanntesten und meistgenutzen Enzyklopädie dürfen von allen genutzt, weiter verbreitet und verändert werden. Sie stehen unter einer Creative Commons (CC) Lizenz, die kreativen Werken den rechtlichen Status eines Gemeingutes verleiht.(1) Ähnliche Lizenzen existieren auch für Computerprogramme: Das Betriebssystem Linux beispielsweise darf genauso wie der Internetbrowser Mozilla Firefox weiterentwickelt und an andere weitergegeben werden. Da ihr Quellcode offen zugänglich ist, hat sich hierfür auch der Begriff Open Source eingebürgert. Wichtiges Merkmal vieler Open-Source-Lizenzen ist das so genannte Copyleft: Wer ein Computerprogramm verändert, auf Basis des offenen Quellcodes ein neues Programm erschafft oder ein kreatives Werk in seine eigenen Werke einbaut, darf diese Folgeprodukte nur zu den gleichen Bedingungen weitergegeben. Dadurch soll eine Re-Privatisierung der Gemeingüter verhindert werden. Egal ob Künstler, Wissenschaftlerin, Hobby-Informatiker oder Big-Data-Unternehmen: alle dürfen das Ausgangsmaterial nach Belieben verändern und weiter entwickeln, müssen das Ergebnis jedoch ebenso frei verfügbar und zugänglich machen wie das Ausgangsprodukt. Viralität lautet hier das Stichwort: Einmal als Gemeingut anerkannt, kann dieser Status nicht rückgängig gemacht werden, alle Folgeprodukte unterliegen denselben Bedingungen. Idealerweise führt das zu einem positiven Dominoeffekt, der möglichst große Teile der Produktentwicklung in die Hand der Community gibt.

Ausweg aus der Krise?

Dass das Open-Source-Prinzip auch für Saatgut interessant sein könnte, ist keine ganz neue Idee. Bereits vor zehn Jahren trafen sich Aktive aus der deutschen Gemeingüter-Szene mit Open-Source-Enthusiast_innen und überlegten, wie es gelingen könnte, voneinander zu lernen und „Software und Saatgut zusammenzudenken“.(2) Denn die globale Saatgutzüchtung steckt in der Krise: Der Klimawandel sowie der globale Verlust der Biodiversität erfordern eine größtmögliche Vielfalt an verfügbarem Saatgut. Benötigt werden Sorten, die an Standortfaktoren wie Boden und klimatische Bedingungen angepasst sind, und die auch mit möglichst wenig erdölbasierten Agrarchemikalien stabile Erträge liefern. Benötigt wird außerdem eine Vielfalt auf dem Acker, die auch dann eine ausreichende Ernte garantiert, wenn einzelne Kulturen durch Extremereignisse wie Hagel, Hitze oder Spätfrost vernichtet werden.

Ganz im Gegensatz dazu geht der globale Trend in den letzten Jahrzehnten jedoch in die andere Richtung. Heute beherrscht eine Handvoll multinationaler Konzerne das Geschäft mit Saatgut; wenn nach der Übernahme von Syngenta durch ChemChina auch die geplanten Fusionen zwischen Dow/DuPont und Bayer/Monsanto vollzogen sind, werden diese drei Agrargiganten über 60 Prozent des globalen Saatgutmarktes unter sich aufteilen.(3) Im Kampf um Marktanteile setzen sie auf Einheitlichkeit statt auf Vielfalt. Dabei wird bereits heute etwa die Hälfte des globalen Kalorienverbrauchs durch nur drei Kulturpflanzenarten - Mais, Reis und Weizen - gedeckt, und lediglich ein Dutzend Arten sorgt für drei Viertel der Welternährung. Eine Umkehr dieser Vereinheitlichung und Standardisierung auf dem Acker ist im Rahmen der konzerngetriebenen globalen Landwirtschaft nicht zu erwarten.

Statt regional angepasste Sorten zu entwickeln, züchten Saatgutkonzerne möglichst einheitliche Kulturpflanzen, die in möglichst großen Gebieten angebaut und mit deren Saatgut möglichst große Märkte bedient werden können. Im Ergebnis entstehen Sorten, die vor allem an Gunststandorten und unter Verwendung von Agrarchemikalien gute Erträge liefern. Hinzu kommt die immer stärkere Durchdringung des Saatgutmarktes mit Hybridsorten, die sich nur schwer als Ausgangspunkt für Neuzüchtungen verwenden lassen, sowie - global gesehen - das Vordringen gentechnisch veränderter Sorten, für die dasselbe gilt. Da die Konzerne ihr Zuchtmaterial nur unvollständig an öffentliche Genbanken oder andere Züchter weitergeben, gerät die Sortenzüchtung zunehmend zur Einbahnstraße, an deren Ende nicht nur eine reduzierte Vielfalt verfügbarer Sorten, sondern auch die Reduktion des Zuchtmaterials steht.

Wie also einen Ausweg aus dieser Krise finden? Die staatliche Sortenzüchtung bietet keine Lösung, spätestens seit den 1980er Jahren wurde sie immer mehr zurückgefahren und die Züchtung weitgehend dem Markt überlassen. Was also benötigt wird, sind Alternativen zu Markt und Staat - zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich einer gemeinwohlorientierten Saatgutzüchtung verschreiben.

Saatgut als Gemeingut

Wird Saatgut als Gemeingut (oder Commons, wie der englische Begriff lautet) verstanden, muss zum Einen der freie Zugriff auf das Saatgut beziehungsweise Zuchtmaterial gesichert werden - das Saatgut muss Open Source sein. Zum Anderen muss dieser Zugriff durch Copyleft-Vereinbarungen vor der Vereinnahmung und (Re-)Privatisierung durch Konzerne geschützt werden: Niemand soll das Recht haben, auf Open-Source-Zuchtmaterial zurückzugreifen und die daraus entwickelten Sorten unter restriktive geistige Eigentumsrechte zu stellen.(4) Aufgrund dieser Einschränkung ist auch gern von „protected commons“ die Rede.

Dass sich die Lizenzen für Computerprogramme, Fotografien oder wissenschaftliche Texte jedoch nicht ohne Weiteres auf Saatgut übertragen lassen, liegt auf der Hand. Die bestehenden Lizenztypen basieren auf dem Urheberrecht und funktionieren deshalb, weil dem Erfinder oder Entwickler automatisch Urheberrechts-Ansprüche zustehen. Anders ist das bei der Pflanzenzüchtung, bei der das Urheberrecht nicht anwendbar ist. Um geistige Eigentumsrechte an einer neuen Sorte zu erwerben, könnten Züchter_innen ihre Sorte mit Sortenschutz versehen lassen. Tun sie dies, können sie Lizenzgebühren für die Nutzung der Sorte als Vermehrungsmaterial erheben. Tun sie dies nicht, ist der Zugang und die Verwendung der Sorte völlig frei und ungeregelt: Die neue Sorte kann von jedem beliebig verwendet, vermehrt, weitergezüchtet und vermarktet - aber durch Weiterentwicklungen eben auch privatisiert werden.(5)

Um beides - den völlig ungeregelten Zugang ebenso wie die Privatisierung - zu verhindern, hat eine Gruppe von Pflanzenzüchtern, Agrarwissenschaftlern, Juristen und Commons-Aktivist_innen unter dem Dach des Vereins Agrecol eine an das deutsche Recht angepasste Open-Source-Saatgutlizenz entwickelt, die an die Stelle des Sortenschutzes tritt. Mit der Lizenz werden exklusive Nutzungsrechte durch die Verpflichtung ersetzt, freien Zugang zur Sorte sowie allen Weiterentwicklungen und Folgeprodukten zu gewähren - was jedoch nicht heißt, dass das Saatgut gratis abgegeben werden muss. Für die Produktion, Vermehrung und den Vertrieb von Saatgut kann durchaus eine Vergütung verlangt werden.

Als zivilrechtliche Vereinbarung ist die Lizenzierung vergleichbar mit Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB): Wird das so lizenzierte Saatgut verschenkt, verkauft oder gegen andere Waren eingetauscht, müssen die Lizenzbedingungen explizit erwähnt werden. Mit der Annahme des Saatguts stimmt der Empfänger diesen Bedingungen zu (siehe Kasten).

Recht statt Moral

Mit dem Weg einer rechtlich fundierten Lizenz und der Möglichkeit, Verstöße strafrechtlich zu verfolgen, haben die deutschen Aktivist_innen einen anderen Weg eingeschlagen als beispielsweise die US-amerikanische Open Source Seed Initiative (OSSI). Diese stellte bereits 2014 ihr Open-Source-Saatgutversprechen vor. Statt auf rechtliche Absicherung setzte OSSI damit - entgegen der ursprünglichen Absicht der Initiative - auf moralische Verpflichtung: Nutzer_innen geben das Versprechen ab, die Open-Source-Bedingungen einzuhalten. Denn zum Einen sei es unrealistisch, dass jede_r, der das Saatgut erhält, die mehrseitige Lizenz lese und verstehe. Zum Anderen missfiel den Aktivist_innen die „kontrollierende und bürokratische Rolle“, in die sie durch den Fokus auf Lizenzierung gedrängt werde, schrieb Jack Kloppenburg damals im GID.(7)

Open-Source-Tomate

Um Pflanzenzüchter_innen die Open-Source-Lizenzierung so einfach wie möglich zu machen, wurde die Organisation OpenSourceSeeds gegründet, die sich um alle administrativen Aufgaben rund um die Lizenzierung kümmert. Bisher sind zwei Sorten mit der Open-Source-Lizenz versehen: der Sommerweizen Convento C und die Tomate Sunviva.(7) Diese „sehr aromatische, süß-saftige Cocktailtomate (...) mit lockerem Laub und hoher Feldresistenz gegenüber der Kraut- und Braunfäule“ wurde im April der Öffentlichkeit vorgestellt.(8) Gezüchtet wurde Sunviva im ökologischen Freiland-Tomatenprojekt der Universität Göttingen, Saatguterzeugung und -vertrieb übernimmt das Öko-Saatgut-Unternehmen Culinaris.

Mit der Open-Source-Saatgutlizenz zeigen die AkteurInnen einen gangbaren Weg auf, wie Saatgut als Gemeingut verstanden und rechtlich verankert werden kann. Nun hoffen sie auf Nachahmer und Mitstreiterinnen: Zwanzig neue Sorten sollen noch in diesem Jahr mit der Lizenz ausgestattet werden, dieses Ziel haben sie sich selbst gesteckt. Langfristig hingegen hoffen sie auf einen gesellschaftlichen Wertewandel, der zunächst exklusive geistige Eigentumsrechte und in der Folge davon auch die Open-Source-Saatgutlizenz überflüssig macht.

 

Anne Bundschuh ist Mitarbeiterin im GeN und Redakteurin des GID.

 

Fußnoten:

(1)                  Je nachdem wie die Rechte der Nutzer_innen genau definiert sind, existieren verschiedene CC-Lizenzen. Wikipedia steht unter der sogenannten „CC-BY-SA“ Lizenz, siehe www.wikimediafoundation.org/wiki/Terms_of_Use/de.

(2)                  Siehe www.commons.blog/2017/04/14/bio-linux-oder-saatgut-als-commons.

(3)                  Siehe dazu auch den Artikel von Andreas Riekeberg auf Seite 35 in diesem GID.

(4)                  Siehe auch Gregor Kaiser: Alternativen zu geistigem Eigentum. In: Brandl/Schleissing, Biopatente. Saatgut als Ware und als öffentliches Gut. Nomos, 2016.

(5)                  Siehe Johannes Kotschi: Die Open-Source-Lizenz - ein Beitrag zur Bildung von Saatgut-Commons. Ländlicher Raum 4/2016. Download unter www.opensourceseeds.org oder www.kurzlink.de/gid242_w.

(6)                  „Ja zur Saatgut-Souveränität“, GID 226 (Oktober 2014), S. 23-25. www.gen-ethisches-netzwerk.de/GID/226.

(7)                  www.opensourceseeds.org.

(8)                  „Saatgut als Gemeingut. Die Open-Source Lizenz als Antwort auf die zunehmende Monopolbildung bei Saatgut“. 15. Zivilgesellschaftliches Außenwirtschaftsforum in Berlin.

 

KASTEN

Saatgut mit gleichen Rechten und Pflichten für alle

(Kurzversion der Open-Source-Saatgutlizenz)

Mit Erwerb des Saatguts oder bei Öffnung der Verpackung dieses Saatguts akzeptieren Sie im Wege eines Vertrages die Regelungen eines kostenfreien Lizenzvertrages. Sie verpflichten sich vor allem, die Nutzung dieses Saatgutes und seiner Weiterentwicklungen nicht zum Beispiel durch Beanspruchung von Sortenschutzrechten oder Patentrechten an Saatgutkomponenten zu beschränken. Zugleich dürfen Sie das Saatgut und daraus gewonnene Vermehrungen nur unter den Bedingungen dieser Lizenz an Dritte weitergeben. Die genauen Lizenzbestimmungen finden Sie in der Packung und unter www.opensourceseeds.org/lizenz. Wenn Sie diese Bestimmungen nicht akzeptieren wollen, müssen Sie von Erwerb und Nutzung dieses Saatguts Abstand nehmen.