Martin Luther und die Reformation der Finanzmärkte

Als Martin Luther 1517 Erzbischof Albrecht seine 95 Thesen zur Reformation der christlichen Kirche übersandte, hatte er eine klare Vorstellung davon, was er wollte und wogegen er sich wandte: Die Thesen richteten sich gegen den religiösen und finanziellen Ablassmissbrauch, wie er ihn im Handel mit Ablassbriefen durch den Dominikanermönch Johann Tetzel vor Augen hatte. Obwohl in den Thesen nicht namentlich genannt, sind es doch Tetzel und sein Auftraggeber, der Erzbischof, gegen die sich Luthers harsche Kritik richtet. Dahinter stand die katholische Kirche mit Papst Leo X. aus dem Hause Medici an der Spitze, den Luther freilich nicht direkt angreift, dessen Verantwortung für den Ablasshandel er aber kannte und auch benennt.
Seitdem sind 500 Jahre vergangen und die Welt ist eine andere geworden; sie ist deshalb aber nicht weniger kritikwürdig. Diesmal ist es nicht ein Magister der Theologie, der im Namen von Jesus Christus vor die Mächtigen hintritt, um seine Kritik vorzubringen, sondern es sind sieben mutige Streiter, die mit ihren Thesen „für eine neue und solidarische Reformation wider die Herrschaft der Finanzmärkte“ antreten, um die Welt zu verändern: Michael Brie, Peter Wahl, Rudolf Hickel, Ulrich Duchrow, Gregor Gysi, Ingrid Mattern und André Brie. War es damals „die Käuflichkeit des Seelenheils der Gläubigen“, die Ausdruck einer Systemkrise war, so ist es heute „die Unterordnung der Politik unter die Vorgaben der Finanzmärkte“. Ob die Veröffentlichung der 95 neuen Thesen ähnlich viel Aufsehen und ein ebenso spektakuläres Ergebnis erzielen wird, wie einst Luthers Thesenpapier, ist eine offene Frage. Aber Luther hatte ja zunächst auch nicht viel mehr im Sinn als eine öffentliche Disputation über erlaubten, also „dem Geiste und der Auffassung des Papstes gemäßen“, Ablass und unerlaubten Handel damit, wie ihn Tetzel betrieb. Dass daraus dann viel mehr wurde, war der historischen Situation geschuldet, der „Überreife“ der Verhältnisse als Bedingung für eine soziale Revolution. Der „Weltuntergang“ der alten Feudalordnung stand einfach auf der Tagesordnung. Ob das heute analog zutrifft, ist eine Diskussion wert.
Das vorliegende Thesenpapier bietet dafür jedenfalls eine hervorragende Vorlage. Bei einem Vergleich beider Disputationspapiere, dem von Luther mit dem von Brie und Co., werden jedoch Unterschiede sichtbar, die sich weder theologisch noch historisch begründen lassen. So bleibt bei den aktuellen Thesen zum Beispiel im Dunkeln, gegen wen sich der Vorstoß eigentlich richtet. Als zu reformierende Objekte werden „Märkte“ genannt – der Geldmarkt, der Devisenmarkt, die Kapitalmärkte –, aber wer sind die Subjekte? Allein gegen „Märkte“ zu Felde zu ziehen, hat doch wohl etwas von Donquichotterie! Bei Martin Luther heißen die Gegner Johann Tetzel, Erzbischof Albrecht und Papst Leo X. Bei Karl Marx richtet sich die Kritik gegen das „Kapital“, als dem bestimmenden sozialen Verhältnis der kapitalistischen Produktionsweise und Gesellschaft, und natürlich gegen die Kapitalisten, als personifiziertem Kapital. Niemals aber gegen „Märkte“! Und hier? Sind es die „acht reichsten Männer der Erde“, gegen die sich der Angriff richtet? Oder geht es gegen Merkel und Schäuble? Ist Donald Trump der Gegner oder vielleicht der Ex-Deutschbanker Josef Ackermann? Oder ist es „das Geld“ als solches, das „Finanzsystem“, die „Wirtschaft“, die „Globalisierung“? Die Antwort bleibt unklar. Zumeist sind es „die Finanzmärkte“, die hier genannt werden, aber diese sind eine anonyme Institution, eben Märkte, auch wenn sie wie ein „Monster“ die Welt beherrschen.
Mit ihrer Rolle als vermeintlichem „Gegner“ ist ein weiteres Problem verbunden, das der klaren Trennlinie: Denn wer kann von sich behaupten, nichts mit dem Finanzwesen zu tun zu haben, nicht in wenigstens einen der Finanzmärkte involviert zu sein und keinerlei Anteil an Finanzgeschäften zu haben? Wohl niemand! Schon gar nicht die Sparkassen, Landesbanken und Genossenschaftsbanken, die im Papier ausdrücklich genannt werden und deren „Privilegien“ die Verfasser gewahrt wissen wollen. Und auch nicht die Notenbanken, die, wie zum Beispiel die Europäische Zentralbank, als Krisenmanager und „Retter in der Not“ zu Recht gelobt werden, die aber auch als Global-Player an den Finanzmärkten agieren. Aber auch nicht die Bürgerinnen und Bürger, die tagtäglich Zahlungen tätigen, Ersparnisse bilden, Geld anlegen, Devisen tauschen, Kredite aufnehmen und abzahlen, Zinsen, Kursgewinne und Renditen realisieren und so weiter. Sie alle partizipieren an der Geldwirtschaft und sind damit Teil der Finanzmärkte, wenn auch als Einzelne betrachtet nur in sehr bescheidenem Umfang.
In unserer Gesellschaft, wo alles „Schlechte“ und „Negative“ gern dem Geld angelastet wird, gibt es so etwas wie einen „negativen Geldfetischismus“ (siehe: Philosophische Gespräche, Heft 45, Helle Panke e.V., Berlin 2017). Die aktuellen 95 Thesen setzen hier noch eins drauf, indem sie einen „negativen Finanzmarktfetischismus“ vertreten und für viele überzeugend propagieren. „Gott oder Mammon!“ – das war vor 500 Jahren, also zu Luthers Zeiten, die große Frage, woran sich die Reformation entzündete. Gott ist inzwischen tot, das Geld aber zirkuliert, und ist heute üppiger und mächtiger denn je. Die Verfasser der Thesen sprechen daher von einem „Monopol des Geldes“, welches die Demokratie ernstlich gefährdet. Das Finanzwesen muss deshalb substanziell reformiert, stärker reguliert und wirksamer demokratisch kontrolliert werden. Dies ist eine große Aufgabe unserer Zeit, worüber es unter gesellschaftskritischen Geistern kaum Meinungsverschiedenheiten geben dürfte.
Die Differenzen treten jedoch sofort zutage, wenn es um konkrete Maßnahmen geht. So plädieren die Thesenverfasser ausschließlich für ein restriktives Vorgehen: Verbieten, Abschaffen, Einschränken, Aufheben, Schließen, Zurückschrumpfen, Einstellen, Entschleunigen, Reduzieren und so weiter. Das sind ihre Schlagworte. Ihr Ziel ist es, nicht nur die Finanzmärkte substanziell zu reformieren, sondern den (Finanzmarkt-)Kapitalismus gänzlich zu beseitigen. „Demokratie oder Finanzmarkt-Kapitalismus“ – dies sei „die Frage unserer Zeit“, so ihre programmatische Formulierung. Ob das wohl aufgeht? Mit derart radikalen Alternativen ist die Linke schon mehr als einmal gescheitert. Das sollte die Befürworter der 95 Thesen nachdenklich stimmen.