Ostdeutschland im Schatten gesamtwirtschaftlicher Entwicklung

Kann die „Angleichung der Lebensverhältnisse“ noch gelingen?

Ist der Aufbau Ost gescheitert?

Vor nunmehr einem Vierteljahrhundert wurde nach nur einer kurzen Phase transitorischer Reformen in der noch existierenden DDR mit dem Beitritt der wiedergegründeten ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes die deutsche Einheit vollzogen. Auch wenn in Feierstunden gern ein anderer Mythos beschworen wird – letzten Endes handelte es sich um ein profanes Tauschgeschäft: Das Versprechen einer baldigen Beteiligung am westdeutschen Wohlstandsniveau gegen den Verzicht auf jedwede staatliche Souveränität der DDR. Damit wurden historische Fakten geschaffen, die zum Teil bis heute nachwirken – im Positiven wie im Negativen.

Die an die Vereinigung geknüpften Erwartungen waren hoch, nämlich dass es schon bald zu „blühenden Landschaften“ in den damals noch „neuen“ Bundesländern kommen würde, weil sich lange Zeit unterdrückter Unternehmergeist nun zum allgemeinen Wohle würde entfalten können und weil westdeutsche oder ausländische Unternehmen die Gunst der Stunde nutzen würden, im vermeintlich kostengünstigen Ostdeutschland alsbald neue Produktionsstätten aufzubauen und damit den Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt zu stärken. Die allseits erhoffte „Angleichung der Lebensverhältnisse“ in Ostdeutschland, so die allgemeine Einschätzung, könne binnen weniger Jahre und nicht zuletzt wegen des erwarteten Wachstumsschubs in ganz Deutschland ohne spürbare Belastungen für die westdeutschen Steuer- und Beitragszahler erreicht werden. Auch wenn diese Erwartungen – wie man heute weiß – übermäßig hoch waren: Damals wurde der Grundstein dafür gelegt, dass das westdeutsche Wohlstandsniveau bis heute in der allgemeinen Wahrnehmung als die Norm dafür gilt, wie die Fortschritte des Aufbaus Ost zu bewerten sind.

Hieran gemessen, muss die Entwicklung in den vergangenen 25 Jahren jedoch enttäuschen. Zwar nahmen Bruttoinlandsprodukt je Einwohner und je Erwerbstätigen als gängige Wohlstandsindikatoren in den frühen 1990er Jahren stark zu, so dass sich das „Konvergenzniveau“ von ehedem rund 33% (1991)1 auf 60 bis 65% des westdeutschen Durchschnitts zur Mitte der 1990er Jahre nahezu verdoppelte. Seither ist die weitere Angleichung der wirtschaftlichen Leistungskraft jedoch nur noch langsam vorangekommen; aktuell beträgt das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in den fünf ostdeutschen Ländern (also ohne Berlin) 67% des westdeutschen Durchschnittswertes; beim Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen werden rund 76% erreicht. Selbst gegenüber den strukturschwächeren Bundesländern Westdeutschlands  beträgt die „Lücke“ in der Wirtschaftskraft nach wie vor rund 20 Prozentpunkte. Erstaunlicherweise gibt es dabei trotz unterschiedlicher standörtlicher Voraussetzungen und divergierender wirtschaftspolitischer Schwerpunktsetzungen kaum einen Unterschied zwischen den einzelnen ostdeutschen Ländern, was darauf hindeutet, dass der fortbestehende Rückstand des Ostens eine über alle Länder hinweg gemeinsame Ursache haben dürfte.

Freilich ist fehlende Konvergenz auch über längere Zeiträume nicht allein ein Merkmal Ostdeutschlands; auch in der Gruppe der westdeutschen Flächenländer gibt es beharrliche Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungskraft. Ein überproportionales Wachstum des Bruttoinlandsprodukts je Erwerbstätigen ist über einen Zeitraum von vierzig Jahren lediglich im Falle Bayerns und Hessens festzustellen, was jedoch überwiegend auf historische Zufälligkeiten zurückgeführt werden kann, die gerade diese beiden Länder begünstigten: Den durch Unternehmensverlagerungen aus dem Osten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und durch Rüstungsaufträge des Bundes in den 1970er und 1980er Jahren vorangetriebenen Strukturwandel Bayerns vom Agrarland zum Industrieland einerseits und den durch die Liberalisierung der Finanzmärkte vorangetriebenen Aufschwung des Finanzplatzes Frankfurt am Main andererseits. Da hiervon allerdings primär die jeweiligen wirtschaftlichen Agglomerationszentren in den beiden Ländern profitierten, sind sowohl Hessen als auch Bayern durch starke regionale Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie geprägt, die inzwischen sogar weit über die Ost-West-Unterschiede hinausgehen. Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen wiederum sind im Verlauf der letzten Jahrzehnte deutlich zurückgefallen, was vor allem auf die Folgen unbewältigter Strukturkrisen in ehemals dominierenden Wirtschaftszweigen zurückgeführt werden kann. Die übrigen Länder haben hingegen ihre relativen Positionen weitgehend beibehalten. Ein ähnlicher Befund gilt im Übrigen auch, wenn man einen kleinräumigeren Analyserahmen wählt: Schwache Regionen blieben in den meisten Fällen auch über mehrere Jahrzehnte hinweg schwach, starke Regionen hingegen stark. Ganz offenkundig gibt es also regionale bzw. standörtliche2 Determinanten wirtschaftlicher Entwicklung, die sich auch auf lange Sicht kaum beseitigen lassen, sondern eher zu „Pfadabhängigkeiten“ führen. Hieran haben auch regionalökonomische Förderprogramme unterschiedlicher Art kaum etwas ändern können; vielleicht sind diese auch der falsche Ansatz, da sie im Regelfall lediglich auf einen Ausgleich wirtschaftsstrukturell oder durch die räumliche Lage bedingter Nachteile hinwirken und insoweit keine dauerhaften Standortvorteile schaffen, die für Konvergenzprozesse notwendig scheinen.

Die Feststellung, dass das Konvergenzziel mit Bezug auf Ostdeutschland (bislang) nicht erreicht werden konnte, darf allerdings nicht so missverstanden werden, dass der Aufbau Ost gescheitert sei – immerhin vollzog sich die wirtschaftliche Entwicklung in den ostdeutschen Ländern (und ihren Regionen) in den vergangenen Jahren in etwa in gleichem Tempo wie in Westdeutschland; ein Zurückbleiben ist nur in wenigen regionalen Ausnahmefällen zu beobachten. Und auch ein Vergleich mit der Situation 1989/90 zeigt, dass die Transformation von einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu einem marktwirtschaftlich geprägten System trotz aller regionalen Verwerfungen letzten Endes überall zu erheblichen (materiellen) Wohlstandssteigerungen beigetragen hat – ganz abgesehen von den Fortschritten, die (nicht zuletzt aufgrund westdeutscher Hilfestellungen) im Bereich der Infrastrukturen, des Städtebaus oder der Umweltsituation erzielt worden sind. Offenkundig wird das von vielen Menschen in Ostdeutschland auch so gesehen – einschlägige Untersuchungen zeigen zumindest keinen systematischen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Leistungskraft (und daraus abgeleiteten Größen wie Löhne, Einkommen oder Beschäftigungschancen) und individueller Einschätzung der Lebensqualität auf einer regionalen Ebene.3

Erklärungen für den stockenden Aufholprozess

Dennoch bleibt die Frage offen, weshalb Konvergenz – wie von der neoklassischen Wachstumstheorie postuliert – ganz offenkundig nicht stattfindet. Eine mögliche Antwort auf diese Frage liefert die sogenannte „neue Wachstumstheorie“: Danach ist der wesentliche Treiber von wirtschaftlichem Wachstum der technische Fortschritt, der jedoch durch Forschung und Entwicklungsaktivitäten zunächst „produziert“ werden muss und schon allein deshalb vom anfänglichen Entwicklungsstand (und den daraus resultierenden verfügbaren Ressourcen) abhängig ist.4 Hinzu kommt, dass neue Forschungsergebnisse im Regelfall auf einem bereits vorhandenen Stand des technologischen Wissens aufbauen, der räumlich eben auch nicht gleich verteilt ist. Schließlich sind technologische Neuerungen aufgrund ihres Charakters als (halb-) öffentliches Gut mit positiven externen Effekten verbunden (beispielsweise indem sie weitere Innovationen bei Dritten auslösen); da deren Wirkung jedoch im Regelfall zunächst regional begrenzt bleiben (z.B. weil sie durch persönliche Kontakte in informellen Netzwerken weitergegeben werden), können technologisch fortgeschrittene Regionen ihren Vorsprung auch über diesen Wirkungsmechanismus im Zeitablauf vergrößern. Derartige „backwash-Effekte“,5 die mit einem ähnlichen Ergebnis noch durch wirtschaftskraftinduzierte Faktorwanderungen verstärkt werden, sind ein entscheidender Grund für fortdauernde Divergenzprozesse zwischen Zentrum und Peripherie.

Freilich liefert dieser Erklärungsansatz auch eine Rechtfertigung für regionalpolitisch motivierte Interventionen, denn wenn es gelingt, durch Förderung von unternehmerischen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten oder Ansiedlung von Forschungseinrichtungen rückständige Regionen zumindest auf das gleiche technologische Niveau zu heben wie die fortgeschritteneren Regionen, so ließen sich auf diese Weise auch Konvergenzprozesse anstoßen. Dieser Weg der „nachholenden Modernisierung“ wurde (und wird) auch in den ostdeutschen Bundesländern beschritten: Die Innovationsförderung gilt inzwischen als wesentlicher Ansatzpunkt für Maßnahmen des Aufbaus Ost (wie es zum Beispiel in entsprechenden Programmen des primär zuständigen Bundeswirtschaftsministeriums und in der Wirtschaftspolitik der Länder zum Ausdruck kommt); große Bedeutung wird zudem der Ansiedlung von Forschungseinrichtungen und der Förderung von Projekten der Spitzenforschung (beispielsweise in den Förderinitiativen „Spitzenforschung und Innovation in den neuen Bundesländern“ oder  „Zwanzig20“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung) zugemessen. Punktuelle Erfolge sind auch durchaus zu verzeichnen, so insbesondere an den Standorten Technischer Universitäten in Sachsen und Thüringen. Eine Strategie für ganz Ostdeutschland stellt dies jedoch nicht dar, denn für den Erfolg innovationsorientierter Regionalpolitiken bedarf es einer Reihe weiterer positiver Rahmenbedingungen: Hierzu zählen zum Beispiel das Vorhandensein eines einschlägig qualifizierten Fachkräftepotentials sowie unternehmerischer Potentiale, die Forschungsergebnisse auch in Markterfolge ummünzen können. In beiderlei Hinsicht weisen vor allem die eher ländlich geprägten Regionen Ostdeutschlands erhebliche Defizite auf. Mindestens ebenso wichtig ist aber auch, dass die wirtschaftlich stärkeren Länder in Westdeutschland in ihrer Förderpolitik eine im Kern ähnliche Strategie zur Erhöhung ihrer Wachstumsaussichten verfolgen und dass auch der Bund (sowie die Europäische Union) zur Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Wachstumskräfte verstärkt auf Forschung und Innovation setzen, dabei aber (naturgemäß) keine regionalwirtschaftlichen (sondern allein technologiepolitische) Zielsetzungen verfolgen und daher primär die Innovationsaktivitäten an den technologisch führenden Standorten unterstützen. Insoweit stehen Regionalpolitik und Technologiepolitik in einem gewissen Widerspruch zueinander; Konvergenz wird so nicht gefördert, sondern möglicherweise sogar unterdrückt.

Pfadabhängigkeiten der beschriebenen Art können darüber hinaus aber auch weitere Ursachen haben, die eher in der „Mentalität“ der jeweils ansässigen Bevölkerung liegen und teilweise über Jahrhunderte hinweg eine hohe Stabilität aufweisen. Zwar können großräumige Wanderungsbewegungen6 wie auch Veränderungen gesellschaftlicher Wertemuster darauf hinwirken, dass sich regionsspezifische Einstellungsmuster im Zeitablauf angleichen; soziologische Untersuchungen zeigen aber auch, dass diese zumindest in der „autochthonen“ Bevölkerung ein erhebliches Beharrungsvermögen aufweisen und zum Teil bis auf agrarhistorische Eigenheiten der jeweiligen Regionen im 16. Jahrhundert zurückgeführt werden können.7 Diese langanhaltenden regionalen Verhaltensmuster können Rückwirkungen sowohl auf Unternehmertum und Leistungsbereitschaft und damit auf die Wirtschaftsstruktur als auch auf den Bestand an regionalem Sozialkapital (das zum Beispiel Vertrauen und Offenheit gegenüber Fremdem beinhaltet) haben und damit die wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen. Insbesondere der Wohlstandsvorsprung des Südwestens Deutschlands gegenüber dem Norden kann hiermit zumindest zu einem Teil begründet werden, da hier aufgrund der vorherrschenden Realteilung unternehmerische Selbständigkeit unterstützt wurde, während es in den Gebieten Norddeutschlands, die weitgehend dem Anerbenrecht unterlagen, zur Herausbildung einer breiten Schicht von wirtschaftlich abhängigen Landarbeitern mit geringen unternehmerischen Ambitionen kam.

Auf Ostdeutschland übertragen bedeutet dies, dass Entwicklungsmuster aus der Zeit vor den Weltkriegen (fortdauernde Strukturschwächen in Mecklenburg-Vorpommern sowie Teilen Brandenburgs und Sachsen-Anhalts versus dynamischere, industriell geprägte Entwicklungen in Sachsen und Thüringen) offenbar auch in der Gegenwart zum Tragen kommen.8 Ergänzt man dies um die Überlegung, dass auch die jeweiligen Herrschaftsstrukturen vor der deutschen Reichsgründung 1871 (eher zentralistische Tendenzen in den preußisch dominierten Landesteilen versus eher kleinstaatlich-nationalistische Ansätze in Thüringen und Sachsen) regionale Mentalitäten beeinflusst haben dürften, könnte dieser Ansatz auch kleinräumigere regionale Unterschiede in der Wirtschaftskraft erklären helfen.

Mit Blick auf die Beharrungskräfte dieser langfristig wirksamen regionalen Mentalitäten wäre das sozialistische Interregnum in der DDR-Zeit insoweit folgenlos geblieben. Allerdings scheint es auch hier regionale Differenzierungen zu geben. So entsprach der Phänotypus des fürsorglichen Wohlfahrtsstaats, wie er in der DDR realisiert wurde, durchaus auch einer Anspruchshaltung der Bevölkerung, wie sie insbesondere im nördlichen Teil Ostdeutschlands aufgrund historischer Prägungen verbreitet war und durch den teils erheblichen Zustrom von Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg noch verstärkt wurde. Dieses Zusammentreffen von ohnehin schwach ausgeprägter individueller Eigenständigkeit (und daraus folgend, unternehmerischer Kompetenz) in der Bevölkerung und staatlicherseits bestehendem Misstrauen gegenüber jeder Form von Eigeninitiative könnte als Indiz gewertet werden, dass im Norden Ostdeutschlands sozialistisch geprägte Verhaltensmuster länger wirken als in den südlichen Landesteilen, wo staatlicher Führungsanspruch und individuelles Autonomiestreben eher in einem einander entgegengesetzten Verhältnis standen und sozialistisch geprägte Einstellungen sich daher nicht in gleichem Maße auch auf Dauer in der Bevölkerung durchsetzen konnten. Auch dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass Sachsen und Thüringen heute günstigere wirtschaftsstrukturelle Voraussetzungen für einen Konvergenzprozess aufweisen als die anderen ostdeutschen Länder.

Schließlich muss man hinzunehmen, dass weite Teile Ostdeutschlands seit 1989 einen massiven Bevölkerungsschwund durch Abwanderung haben hinnehmen müssen; vor allem die ohnehin schon dünn besiedelten Regionen abseits der Zentren sind hiervon betroffen. Problematisch ist dabei nicht primär der Bevölkerungsrückgang an sich, sondern vielmehr der damit verbundene Verlust an besser qualifizierten (und zumeist jüngeren) Bevölkerungsschichten, die häufig mangels beruflicher Perspektiven in den Westen abgewandert und in den meisten Fällen auf Dauer für den Osten verloren sind, sobald eine Integration in das neue soziale Umfeld erfolgt ist.9 Auch wenn die Wanderungssalden inzwischen für Ostdeutschland insgesamt wieder leicht positiv sind, hat in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren ein erheblicher Humankapitalverlust (brain-drain) stattgefunden, der die wirtschaftlichen Entwicklungschancen auch in Zukunft beeinträchtigen dürfte. Eine mittlerweile erhebliche Binnenwanderung innerhalb Ostdeutschlands zulasten der ländlich geprägten Regionen verstärkt den Prozess regionaler Disparitätenbildung: Gewinner dieser Binnenmigration sind nämlich die Agglomerationszentren insbesondere im Süden der ostdeutschen Länder, die durch den Zuzug von gut qualifizierten Fachkräften eine zusätzliche Stärkung ihrer wirtschaftlichen Potentiale gegenüber dem peripheren Raum erfahren; Verlierer hingegen sind gerade jene Regionen, die ohnehin schon aufgrund ungünstiger Lage und unvorteilhafter Wirtschaftsstruktur benachteiligt sind. 

Der beschriebene Verlust an Humankapital schmälert die Entwicklungsperspektiven weiter Teile Ostdeutschlands in mehrfacher Weise: Zum einen reduziert sich damit unmittelbar das Fachkräftepotential, das den ansässigen Unternehmen zur Verfügung steht. Dies kann sich nicht nur unmittelbar negativ auf deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auswirken, sondern mittelfristig auch Anlass zu einer Spezialisierung sein, die eben nicht auf Fachkräfte angewiesen ist, sondern verstärkt auf die verbleibenden (weniger gut qualifizierten) Arbeitskräfte setzt.10 Die vielfach als strukturelles Defizit Ostdeutschlands angeführte Dominanz „verlängerter Werkbänke“ ist insoweit nicht allein auf Standortentscheidungen von westdeutschen oder ausländischen Konzernmüttern im Zusammenhang mit der Treuhandprivatisierung oder einer förderbedingt überhöhten Sachkapitalbildung in den 1990er Jahren zurückzuführen, sondern spiegelt auch die unzureichende Verfügbarkeit qualifizierter Mitarbeiter wider. Hieraus können sich Teufelskreise negativer Art ergeben, weil eine weniger humankapitalintensive Wirtschaftsstruktur auch weniger qualifizierte Arbeit benötigt und damit die Abwanderung gut ausgebildeter Menschen möglicherweise sogar noch verstärkt. Hinzu kommt, dass Arbeitskräfte mit einer „Standardqualifikation“ im Prinzip ubiquitär sind, also insbesondere auch an Standorten mit deutlich niedrigeren Lohnkosten als in Deutschland in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Reine Produktionsstätten mit geringem Anteil von Fachkräften (und dementsprechend geringer Verankerung in der Region) sind daher in höherem Maße von Standortverlagerungen in das Ausland bedroht als hochspezialisierte, humankapitalintensive Produktionen – wie es in sie in Ostdeutschland zwar punktuell gibt, aber eben nicht in gleichem Maße wie in Westdeutschland.

Zum anderen führt eine im beschriebenen Sinne selektive Abwanderung aber auch dazu, dass regionale „Innovationsmotoren“ fehlen, da diese primär von gut qualifizierten Eliten gestellt werden.11 So lässt sich zeigen, dass Zuwanderungsregionen, die geprägt sind durch einen höheren Anteil mobiler und damit per se dynamischerer Bevölkerungsgruppen, auch hinsichtlich wirtschaftlicher Wachstumschancen, Innovation und Unternehmensgründung im Regelfall günstiger dastehen als Abwanderungsregionen. Was für wirtschaftliche Innovationen gilt, gilt in gleicher Weise aber auch für gesellschaftliche Innovationen, weshalb es gerade in den stark durch Abwanderung geprägten Regionen Ostdeutschlands oftmals schwer fällt, neuartige Entwicklungskonzepte auch nur in Erwägung zu ziehen, geschweige denn sie durchzusetzen. Auch dies kann zu den beschriebenen „vicious circles“ beitragen.

Die beschriebenen Erklärungsmuster für nur schwache Konvergenzfortschritte Ostdeutschlands erheben nicht den Anspruch auf Ausschließlichkeit. Die gängigen Argumente12 – Kleinteiligkeit der Unternehmensstruktur, ungünstige Branchenspezialisierung, hohe Transferabhängigkeit der ostdeutschen Wirtschaft usw.13 – gelten weiterhin, beschreiben aber in ihrem Kern eher Symptome als originäre Ursachen des strukturellen Rückstands der ostdeutschen Länder. Insoweit geht der hier gewählte Ansatz über die in der einschlägigen (wirtschaftswissenschaftlichen) Literatur typischen Erklärungsansätze hinaus – er gibt freilich auch wenig Hoffnung: Mentalitätsunterschiede wird man auch auf Dauer hinnehmen müssen, und ob der bereits weit vorangeschrittene Elitenverlust14 und der sich immer weiter vergrößernde Abstand zwischen technologisch führenden Regionen (zumeist im Westen) und zurückgeblieben peripheren Regionen (nicht nur, aber gerade auch im Osten) sich auf irgendeine Weise wird ausgleichen lassen, muss zumindest fraglich erscheinen.

Schlussfolgerungen für die Wirtschaftspolitik

Die beschriebenen Befunde führen zu der Schlussfolgerung, dass das Konzept der „nachholenden Modernisierung“ mit dem Ziel einer Angleichung an westdeutsche Verhältnisse ganz offenbar keinen geeigneten Bezugspunkt für die ostdeutschen Bundesländer (mehr) darstellt, jedenfalls nicht in der Breite. Lediglich für einzelne potentielle Wachstumspole – die sächsischen Metropolen, das unmittelbare Berliner Umland, die thüringische Städtekette entlang der Bundesautobahn A4, vielleicht auch Magdeburg – ist eine Entwicklung vorstellbar, die sich an den erfolgreichen Vorbildern (süd-)westdeutscher Regionen orientiert. Ob dies aber ausreicht, durch Ausstrahleffekte auch peripherer gelegene ostdeutsche Regionen zu erreichen und mitzuziehen, kann schon allein aufgrund gegenteiliger westdeutscher Erfahrungen und globaler Entwicklungen bezweifelt werden. Allerdings ist das Problem in Westdeutschland weniger stark ausgeprägt, weil aufgrund einer polyzentrischen Raumstruktur dort in zumutbarer Pendelentfernung im Regelfall noch wirtschaftliche Zentren vorhanden sind, die auch gut entlohnte Arbeitsplätze bereithalten; in dem weitaus dünner besiedelten Osten Deutschlands ist dies hingegen oftmals nicht der Fall. Gerade für peripher gelegene Regionen entlang der tschechischen und polnischen Grenze, aber auch in den zentraleren Lagen in Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern, muss daher nach alternativen Lösungen gesucht werden.

Dies führt zunächst zu der Frage, ob wirtschaftliches Wachstum (im klassischen Sinne) überhaupt ein erstrebenswertes Ziel darstellt. Die hierzu geführten Debatten laufen in ihrem Ergebnis darauf hinaus, dass sich zwar ein gesellschaftlich akzeptiertes weiter gefasstes Zielbündel beschreiben lässt (das neben einem hohen Einkommensniveau beispielsweise auch Faktoren wie eine intakte Umwelt, einen hohen Gesundheitsstand, eine als gerecht angesehene Einkommensverteilung und ähnliches mehr enthalten kann), dass aber nicht nur wegen der ungelösten Gewichtungsproblematik und unterschiedlicher Messkonzepte, sondern auch wegen divergierender Präferenzvorstellungen der gesellschaftlich relevanten Gruppen die Aggregation zu einem allseits akzeptierten Gesamtindikator nicht gelingen kann.15 Da überdies viele dieser Indikatoren eine positive Korrelation mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) als zentralem Wohlstandsindikator aufweisen, hat daher eine Orientierung am Wachstumsziel weiterhin seine Berechtigung. Bestenfalls erfolgt eine Ergänzung des BIP-Indikators um Nebenbedingungen, die sich unter dem Schlagwort „inclusive growth“ zusammenfassen lassen, womit gemeint ist, dass wirtschaftliches Wachstum nicht auf Kosten einer Zunahme (regionaler oder sozialer) Disparitäten angestrebt werden solle.16

Unabhängig von dieser eher auf Fachkreise beschränkten Debatte ist freilich zu berücksichtigen, dass weite Teile der Bevölkerung, stärker aber noch maßgebliche Vertreter aus Politik und bestehenden Funktionseliten, nach wie vor einem Wachstumsparadigma verhaftet sind. Ohne einen gesellschaftlichen Wertewandel – der derzeit bestenfalls in wenigen eng begrenzten Zirkeln zu erkennen ist – wäre daher ein Ersatz des Wachstumsziels durch einen wie auch immer definierten alternativen Indikator keine einer breiteren Öffentlichkeit und damit auch der Politik vermittelbare Option.

Wirtschaftliches Wachstum anzustreben heißt jedoch nicht, gleichzeitig das Konvergenzziel weiter in den Mittelpunkt des Zielkanons für Ostdeutschland zu stellen. Auch wenn in den vergangenen zwanzig Jahren der Osten dem Westen in wirtschaftlicher Hinsicht nicht wirklich näher gekommen ist, so hat sich im Durchschnitt der Bevölkerung die wirtschaftliche Situation dennoch immer weiter verbessert. Zudem reflektiert sich die geringe Wirtschaftskraft Ostdeutschlands ja nicht auch in einem ähnlich niedrigen materiellen Wohlstandsniveau, weil infolge der Progression des Steuersystems niedrigere Einkommen mit schwächeren Abzügen belegt sind und darüber hinaus häufig auch noch einen Anspruch auf ergänzende Sozialleistungen begründen. Der Angleichungsstand der Verfügbaren Einkommen (je Einwohner) liegt daher mit rund 84% des westdeutschen Durchschnittsniveaus um mehr als 15 Prozentpunkte höher als der Angleichungsstand des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts. Noch günstiger ist das Bild mit einem Angleichungsstand von mehr als 90%, wenn Unterschiede im Verbraucherpreisniveau (insbesondere Mieten) zwischen den beiden Landesteilen berücksichtigt werden.

Das aber bedeutet: Eine weiterhin positive wirtschaftliche Entwicklung ist zwar auch künftig anzustreben; vom Konvergenzziel der „Angleichung der Lebensverhältnisse“ jedoch sollte (auch in der politischen Kommunikation) Abstand genommen werden, zumal auch schwer vermittelbar ist, weshalb die „Angleichung der Lebensverhältnisse“ zwar für den Ost-West-Vergleich, jedoch nicht für den Nord-Süd-Vergleich oder kleinräumigere Regionalvergleiche relevant sein sollte. Eine Abkehr vom grundgesetzlichen Gebot der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ bedeutet dies jedoch nicht, da sich diese nicht auf die Gleichwertigkeit (oder gar Gleichheit) von materiellen Einkommensverhältnissen bezieht, sondern vielmehr Fragen der Teilhabe, Chancengerechtigkeit und des Zugangs zu Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge (im Sinne von Chancengleichheit) beinhaltet.

Für einen solchen Perspektivwechsel spricht auch, dass angesichts der absehbaren Bevölkerungsentwicklung in den kommenden Jahren mit einer weiteren Angleichung der Wirtschaftskraft zwischen Ost- und Westdeutschland in der Breite ohnehin nicht mehr zu rechnen ist. Einzelne Regionen werden allein bis zum Jahr 2015 Bevölkerungsverluste von bis zu 20% hinzunehmen haben, was sowohl das regionale Nachfragepotential dämpfen als auch den Fachkräftemangel massiv verstärken wird. Mit zunehmendem Anteil nicht erwerbsaktiver Bevölkerungsgruppen fehlt hier ganz einfach die Basis für weitere Konvergenzfortschritte bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, und es ist schlechterdings auch nicht vorstellbar, wie dies durch gängige Instrumente der Förder- und Standortpolitik ausgeglichen werden könnte. Es geht hier allein um Stabilisierung – und längst nicht mehr um das Erreichen eines – beweglichen! – Konvergenzziels, das maßgeblich geprägt ist durch die Dynamik in den strukturstarken südwestdeutschen Ländern.

Ausgehend von den oben angeführten strukturellen Ursachen des Entwicklungsrückstands weiter Teile Ostdeutschlands müssen – realistische – Entwicklungsoptionen und -strategien für die unterschiedlichen ostdeutschen Regionstypen abgeleitet werden. Diese differenzierte Betrachtungsweise scheint schon deshalb erforderlich, weil ausgehend von verschiedenartigen standörtlichen Bedingungen einerseits und daraus ableitbar unterschiedlichen Entwicklungsperspektiven andererseits von der Vorstellung Abschied genommen werden muss, dass es ein für alle Räume gleichermaßen erfolgversprechendes Handlungskonzept geben könnte:

In den (wenigen) ostdeutschen wirtschaftlichen Agglomerationsräumen – hier ist vor allem an die bereits jetzt wirtschaftlich starken Regionen um Dresden, Leipzig und Jena zu denken – erscheint es sinnvoll, tatsächlich auf eine Strategie der „nachholenden Modernisierung“ zu setzen und erfolgreiche westdeutsche Agglomerationsräume als Vorbild zu nehmen. Diese Standorte sind schon von ihren „weichen Standortbedingungen“ (wie zum Beispiel dem Angebot an Bildungs-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen) attraktiv für mobile, gut qualifizierte Bevölkerungsschichten und weisen daher auch für wirtschaftliche Aktivitäten ein hinreichend großes Potential auf – Fachkräftemangel wird hier auch in Zukunft ein eher geringes Problem sein. Unterstützt wird die positive Einschätzung der Zukunftsaussichten dieser Städte zudem dadurch, dass Standortentscheidungen des Bundes und der jeweiligen Landespolitiken für die Förderung und die Ansiedlung von Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Bundesbehörden dazu beigetragen haben, dass hier gute, teilweise sogar exzellente Forschungsinfrastrukturen entstanden sind, die es ermöglicht haben, auch überregional tätige technologieorientierte Unternehmen zu attrahieren. Insoweit besteht hier die Chance, in einem auf Technologievorsprüngen basierenden Wettbewerb mit westdeutschen (und ausländischen) Regionen mithalten zu können, auch wenn der Abstand in der Wirtschaftskraft zu „ähnlichen“ Agglomerationszentren in den westdeutschen Bundesländern derzeit noch groß ist.

Eine zweite Gruppe von ostdeutschen Städten – in der Größenordnung von Halle, Cottbus oder Rostock; auch Magdeburg, Chemnitz oder Erfurt sind zu dieser Kategorie zu zählen – weist in beschränkterem Rahmen ebenfalls Spezialisierungsvorteile in technologieintensiven Bereichen auf. Auch wenn diese Wirtschaftsräume vermutlich nicht mit den Spitzenregionen in Westdeutschland werden mithalten können – schon vom Bevölkerungspotential her sind hieran Zweifel angebracht – sind in Teilbereichen Entwicklungspotentiale im industriellen und technologischen Bereich oder im Dienstleistungssektor vorhanden. Notwendig wird es allerdings sein, die besonderen Stärken dieser ostdeutschen Großstädte zu identifizieren und noch stärker zur Geltung zu bringen. Vielfach besteht hier die Gefahr, sich zu verzetteln, weil man auf möglichst vielen Gebieten erfolgreich sein will – und sich an den wirtschaftlich starken Agglomerationsräumen zu orientieren, anstelle an Städte vergleichbarer Größe in Westdeutschland, die typischerweise auch nicht zu den wirtschaftsstärksten Standorten ihrer jeweiligen Bundesländer gehören.

Weitaus schwieriger ist die Situation demgegenüber in vielen – wenn auch nicht allen – ostdeutschen Klein- und Mittelstädten, die oft noch in einer Art Schockstarre verharren und häufig den Anschluss an die gesamtwirtschaftliche Entwicklung verloren haben. Weder ist es hier gelungen, eine exportbasisorientierte und technologisch fortgeschrittene Wirtschaftsstruktur aufzubauen, noch die Bevölkerungszahl durch Zuwanderung zu stabilisieren – beides verheißt nichts Gutes für die künftigen Entwicklungschancen.

Ein wesentlicher Grund für die ungünstige Situation in ostdeutschen Klein- und Mittelstädten ist das immer noch nachwirkende wirtschaftsstrukturelle Erbe der DDR: Oftmals wurden im Rahmen einer dem regionalen Ausgleichsziel verpflichteten Territorialplanung Zweigbetriebe großer Kombinate an Standorten angesiedelt, die unter marktwirtschaftlichen Bedingungen keine Zukunftschancen mehr hatten und im Zuge des Transformationsprozesses ersatzlos verschwanden. Damit gingen nicht nur Arbeitsplätze (und im Gefolge Bevölkerung) verloren, sondern zugleich auch kaufkräftige Nachfrage, was die Expansionschancen auch für regional orientierte Unternehmen schmälerte. Zusammen mit dem in vielen Fällen nur geringen Engagement auswärtiger Investoren hat dies dazu geführt, dass in diesen Städten heute nur eine schwache industrielle Basis vorhanden ist, die es ermöglichen würde, überregionale Nachfrage auf sich zu ziehen und damit Einkommen und Steueraufkommen zu generieren. In der Folge ist ein großer Teil der hier vorhandenen Unternehmen auf die Deckung regionaler Bedarfe ausgerichtet, was sich in hohen Beschäftigungsanteilen von Handel, Bauwirtschaft und (konsumnahen) Dienstleistungen widerspiegelt. Bei weiterhin rückläufiger Bevölkerungszahl (und künftig eher niedrigen Einkommen insbesondere der Rentenempfänger in diesen Regionen) droht damit eine fortgesetzte strukturelle und wirtschaftliche Schwäche.

Gleichzeitig leiden viele dieser kleineren und mittleren Städte an einer geringen Strahlkraft „weicher Standortfaktoren“ (wie attraktiver Kultur-, Bildungs- und Freizeitangebote oder eines ansprechenden Stadtbilds). Diese Faktoren sind nicht nur für die Attraktionskraft auf mobile Bevölkerungsgruppen wichtig, sondern stellen zugleich auch eine wesentliche Determinante für die Identifikation der Bürger einer Stadt mit ihrem Wohnort und damit für deren bürgerschaftliches Engagement dar. Auch hier ist ein Zusammenhang mit weit zurückliegenden Entscheidungen der Territorialplanung in der DDR vorhanden: Da sich städtebauliche Maßnahmen in der DDR nämlich zumeist auf wenige Vorzeigestandorte konzentrierten, wurde die Bausubstanz vieler Klein- und Mittelstädte und alter Industriezentren aufgrund von Ressourcenknappheit vernachlässigt. Wenn überhaupt investiert wurde, dann häufig in ideologisch überprägte Neubauprojekte, die aus heutiger Sicht auch den letzten Rest urbaner Lebensqualität in diesen Städten zunichte gemacht haben und ebenso ein Hemmnis für verstärktes Engagement renditeorientierter Wohnungsbauinvestoren darstellen können. Hinzu kommt, dass gerade die in der DDR neu aufgebauten Industriestandorte in peripheren Regionen zwar damals Neubürger anlocken konnten, die jedoch in den seltensten Fällen sich auch tatsächlich mit ihrer Stadt oder Region in ausreichendem Maße verbunden fühlen – ebenfalls ein Grund dafür, dass viele dieser Städte seither einen Großteil ihrer Einwohner auch wieder verloren haben.

Da unter marktwirtschaftlichen Bedingungen mit einer raschen Verbesserung der wirtschaftsstrukturellen Bedingungen in den meisten der betroffenen Städte kaum zu rechnen ist, muss hier weitaus grundsätzlicher über mögliche Entwicklungsstrategien nachgedacht werden als es bisher geschieht. Ein Ansatz wäre es, zunächst die Städte wieder lebenswert zu machen: Zum einen durch eine Stärkung der Attraktivität der Städte für ihre Bewohner (die gleichzeitig auch einen Anreiz für vermehrten Zuzug darstellen kann), zum anderen aber auch durch Maßnahmen zur Stärkung der regionalen Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt, die es individuell lohnenswert erscheinen lässt, sich für sein unmittelbares Umfeld stärker zu engagieren. Stadtumbauprogrammen kommt dabei eine herausragende Rolle zu; sie reichen aber wohl nicht aus. Da unternehmerisches wie bürgerschaftliches Engagement sich durch staatliche Mittel kaum unmittelbar schaffen lässt, bedarf es hier offenkundig eher indirekt wirkender Maßnahmen. Neben der Bereitstellung von Regionalbudgets z. B. für kulturelle Angebote müssen weiterhin Umbaustrategien (wie z. B. Städtebaufördermaßnahmen) zum Tragen kommen, um die Städte und Regionen überhaupt erst wieder lebenswert zu machen und ausgehend von dieser Basis aus dann auch Potentiale für eine erfolgreichere wirtschaftliche Entwicklung zu wecken.17

Auf schnelle Erfolge sollte man diesbezüglich aber nicht hoffen, Veränderungen brauchen Zeit – und völlig verfehlt wäre es, im Sinne einer „nachholenden Modernisierung“ auch hier auf eine technologiegetriebene Entwicklung zu setzen, da die grundlegenden Voraussetzungen hierfür in den meisten Fällen hier nicht vorliegen dürften. Man muss daher darauf setzen, dass zumindest einige der bestehenden, zumeist kleinen gewerblichen Unternehmen es schaffen, durch Übernahme anderswo bereits angewandter Technologien und Ausnutzung spezifischer Spezialisierungs- und Kostenvorteile soweit zu wachsen, dass sie auch der regionalen Entwicklung insgesamt einen Wachstumsimpuls geben.

Es bleiben die besonderen Probleme des ländlichen Raumes, weil hier zum einen die demographische Entwicklung zu einer Situation geführt hat, in der grundlegende Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge infolge von Kostenremanenzen bei verringerten Nutzerzahlen schon heute nur noch eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden können; zum anderen aber auch, weil bislang wohl noch nicht immer Klarheit darüber besteht, worin mögliche Entwicklungsperspektiven und besondere Standortvorteile dieser Regionen liegen könnten.

Um zumindest eine Stabilisierung dieser Regionen zu erreichen, bedarf es zuvörderst neuer Strategien zur Gewährleistung öffentlicher Daseinsvorsorgeleistungen. In den vergangenen Jahren sind in einer Vielzahl von Modellprojekten Lösungen hierfür entwickelt worden: Von der Schaffung von Dorfgemeinschaftszentren in leerstehenden Gebäuden, über neue (auch selbstorganisierte) Formen der Mobilitätssicherung für jüngere wie ältere Menschen bis hin zu temporär-mobilen Angebotsformen beispielsweise im Bereich der Gesundheitsversorgung oder der Schulbildung. Insoweit dürfte die Umsetzung geeigneter Strategien weniger an einem Mangel an Ideen als vielmehr an einem Mangel an Geld scheitern – was dafür spricht, hierfür eigenständige Anreizinstrumente und Förderprogramme aus Bundes- und/oder Landesmitteln aufzulegen. Auch hierfür wäre die Schaffung von (revolvierenden) Regional- und Kommunalbudgets ein denkbarer Ansatz, mit deren Hilfe betroffene Regionen die für sie geeigneten Projektideen in adaptierter Form finanzieren könnten. Nicht zu verkennen ist aber auch, dass es in vielen Fällen an geeigneten Akteuren mangelt, eine Folge des beschriebenen „Elitenverlusts“ in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren und eines unterdrückten Personalaustauschs in den öffentlichen Verwaltungen. Auch wenn sich hierfür keine schnellen Lösungen anbieten, gibt es inzwischen eine Reihe von Handlungsvorschlägen, die allerdings vielfach unbekannt zu sein scheinen, zumindest aber in ihrer Umsetzung offenkundig auf Widerstand stoßen.18

Noch viel schwieriger scheint es, wirtschaftliche Entwicklungspotentiale für diese Regionen zu eruieren und umzusetzen – schwieriger auch deshalb, weil eine günstige wirtschaftliche Entwicklung durch öffentliche Interventionen bestenfalls beeinflusst, nicht aber erzwungen werden kann. Notwendig ist es daher, sich auf regionaler Ebene darüber Klarheit zu verschaffen, welche ökonomischen Entwicklungspfade unter den jeweiligen standörtlichen Bedingungen Aussicht auf Erfolg haben und diese dann unter Bündelung finanzieller und personeller Kapazitäten stringent weiterzuverfolgen.

Man wird davon ausgehen können, dass die meisten ländlichen Regionen in Ostdeutschland durchaus Stärken aufweisen, die sie entwicklungsfähig (zum Beispiel im Sinne eines Exportbasiskonzepts) machen. Das können – im günstigeren Falle – Tourismus, Landwirtschaft oder auch Gesundheitswirtschaft sein; im ungünstigeren Fall allerdings auch nur Produktionen, die anderswo unerwünscht sind, wie Betriebe der großindustriellen Land- und Energiewirtschaft, Anlagen der Abfallwirtschaft, Justizvollzugsanstalten oder ähnliches – deren Ansiedlung hier mit einem geringeren Konflikt- und Risikopotential behaftet ist als in dichter besiedelten Regionen.

Zwischen diesen beiden Extremen stehen Regionen, die zwar für überregional orientierte Produktionen wenig interessant sind, aber dennoch Entwicklungschancen haben, wenn es gelingt, hier verstärkt regionale Wertschöpfungsketten aufzubauen. Ein Teil der verfügbaren Einkommen wird zwar immer abfließen, weil nicht alle benötigten und nachgefragten Güter in einer Region tatsächlich erzeugt werden können; hilfreich wäre es aber, wenn gerade in Bereichen wie der Nahrungsmittelerzeugung, der Energieversorgung oder des Handels eine gewisse „Autarkie“ erreicht werden könnte, um auf diese Weise den Abfluss von Kaufkraft zu begrenzen und damit die regionale Wirtschaft zu stabilisieren. Wie schon im Fall der regionalen Daseinsvorsorge gibt es auch hier bereits eine Vielzahl von Modellprojekten, die nunmehr aber auch in der Breite öffentlich zu machen und zu realisieren wären.

Dennoch: In diesem Zusammenhang muss man auch darauf hinweisen, dass die gegenwärtige Siedlungsstruktur so kaum auf Dauer wird erhalten werden können. Bei insgesamt stark rückläufiger Bevölkerung – aktuelle Bevölkerungsprognosen gehen in einzelnen Landkreisen von einem Rückgang der Einwohnerzahl um mehr als 20 Prozent bereits bis zum Jahr 2030 aus – werden einzelne Siedlungen deutlich zurückgebaut werden müssen – bis hin zu einer gänzlichen Aufgabe. Auch wenn es sich dabei in absehbarer Zeit wohl nur um kleinräumige Tendenzen handeln dürfte, wäre es falsch, diesem Trend entgegenwirken zu wollen. Im Gegenteil: aus Effizienzgründen sollten eher Anreize für eine zentrennähere Siedlungsstruktur gesetzt werden, zumindest aber eine koordinierte Raumplanung unter Berücksichtigung dieser Aspekte des demographischen Wandels vorgenommen werden. Nicht ganz unverständlicherweise ist die Neigung der Politik, dieses Thema anzunehmen, eher gering ausgeprägt; es scheint jedoch allemal günstiger, diese wohl unausweichlichen Folgen des demographischen Wandels aktiv zu gestalten als sie allein dem Zufall (oder dem an eigennützigen Interessen orientierten Tun von Kommunalpolitikern) zu überlassen. Insoweit sollte dieses zugegebenermaßen unbequeme Thema auf landes- und bundespolitischer Ebene vorausschauend alsbald aufgegriffen werden.

Fazit: Ein Plädoyer für eine regional stärker differenzierte Sichtweise des Aufbau Ost

Um es zusammenzufassen: Es ist wenig wahrscheinlich, dass es – sieht man von einigen wenigen Agglomerationsräumen einmal ab – in überschaubarer Zeit zu wirtschaftlicher Konvergenz Ostdeutschlands gegenüber Westdeutschland kommen könnte. Hiergegen spricht nicht nur der in vielen Bereichen – insbesondere technologisch begründete – inzwischen nahezu uneinholbare und aufgrund steigender Skalenerträge sogar zunehmende Abstand bei gängigen Indikatoren wirtschaftlicher Leistungskraft zwischen den beiden Landesteilen, sondern auch die historischen und transformationsbedingten Spezifika, die Ostdeutschland aufweist und die die wirtschaftliche Entwicklung mittel- bis langfristig weiterhin prägen werden. Die im Untertitel dieses Beitrags gestellte Frage muss daher wohl mit einem „Nein“ beantwortet werden. Aber ein Problem ist das nicht – es scheint vielmehr an der Zeit, vom Konvergenzziel Abstand zu nehmen und nach alternativen (und realistischeren) Entwicklungszielen für Ostdeutschland (wie natürlich auch für strukturschwache ländliche Regionen Westdeutschlands) zu suchen. Diese können nur darin liegen, (durchaus auch materielle) Wohlfahrtssteigerungen anzustreben, diese jedoch unabhängig von relativen Vergleichsmaßstäben wie dem durchschnittlichen Einkommensniveau in Westdeutschland zu machen.

Dabei ist es wichtig, Ostdeutschland nicht länger als einen einheitlichen Wirtschafts- und Entwicklungsraum zu betrachten, sondern die regionalspezifischen Gegebenheiten und die daraus resultierenden Entwicklungsmöglichkeiten (und -risiken!) stärker in den Blick zu nehmen. Entsprechend unterschiedlich müssen die Konzepte wie Strategien sein, die für die einzelnen Regionen zu identifizieren und zu verfolgen sind. Dies kann nicht von Bund oder Land vorzugeben sein, sondern bedarf sorgfältiger Prüfung (und entsprechender Kompetenz sowie Kompromissbereitschaft) auf der regionalen Ebene. An Bund und Land muss allerdings die Forderung gestellt werden, die für eine Umsetzung erfolgversprechender Konzepte notwendigen Instrumente des Wissenstransfers (einschließlich Moderation) sowie die erforderlichen Finanzierungsmittel zur Verfügung zu stellen.

Die Frage ist, ob die regionalen Akteure (oder allgemeiner: die ostdeutsche Bevölkerung) bereit und in der Lage ist, diese Freiräume auch zu nutzen. Zweifel hieran sind nicht unberechtigt, denn in weiten Teilen Ostdeutschlands herrscht noch immer eine eher „staatsorientierte“ Einstellung vor (nicht zuletzt aufgrund überlieferter oder erfahrener Prägungen aus früherer Zeit). Hinzu kommt, dass der abwanderungsbedingte Elitenverlust regional selbstverantwortliches Handeln erschwert. Auch die öffentlichen Verwaltungen sind hiervon nicht ausgenommen (teilweise sogar das wesentliche Problem), nicht zuletzt auch, weil infolge der auf Beschäftigungssicherung gerichteten Personalpolitik in der Vergangenheit und dem daraus resultierenden Personalabbaubedarf heute ein Personalwechsel nicht in erforderlichem Maße stattgefunden hat. Hieraus führt allerdings kein Weg heraus – letzten Endes müssen die jeweiligen Akteure es lernen, die ihnen zugestandenen Freiheiten auch zu nutzen. Hierin – und nicht in weiterer staatlicher Förderung – liegt die wesentliche Aufgabe des Aufbau Ost in den kommenden Jahren.

Anmerkungen

1   Der von der amtlichen Statistik für das Jahr 1991 angegebene Wert beinhaltet dabei natürlich den Einbruch der Produktion unmittelbar nach Einführung der Marktwirtschaft und ist insoweit kein geeigneter Indikator für die tatsächliche Leistungskraft der ostdeutschen Wirtschaft in diesem Jahr. Schätzungen des DIW zur Entwicklung des ostdeutschen Bruttoinlandsprodukts in den Jahren 1990 und 1991 gehen von einem transformationsbedingten Rückgang der Wirtschaftsleistung um rund ein Viertel aus, vgl. DIW/IfW, Gesamtwirtschaftliche und unternehmerische Anpassungsprozesse in Ostdeutschland, Zweiter Bericht, Kieler Diskussionsbeiträge Nr. 169, Kiel 1991.

2   Zu diesen standörtlichen Determinanten zählen neben naturräumlichen Faktoren (z.B. Verfügbarkeit von Rohstoffen) und Lage auch die sich historisch herausgebildete Wirtschaftsstruktur.

3   Vgl. aktuell z.B. Hiller, N.; Lerbs, O.,The capitalization of non-market attributes into regional housing rents and wages: evidence on German functional labor market areas, Review of Regional Research, vol. 1/2015, S. 49-72.

4   Unterschiede in der jeweiligen Ausgangssituation werden dabei entsprechend der „New Economic Geography“ primär durch historische Zufälligkeiten verursacht; vgl. P. Krugman, Geography and Trade, Cambridge (Mass.) 1993.

5   Vgl. Myrdal, G., Economic Theory and Undeveloped Regions, London 1957.

6   Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung in Sachsen, das in vorindustrialisierter Zeit stark durch konfessionell induzierte Zuwanderungen aus dem Südwesten Deutschlands und dem Alpenraum profitieren konnte. Hierdurch wurde die Basis für den nachfolgenden industriellen Aufschwung gelegt, weil sich damit Branchen wie das Textilgewerbe, die Uhrenindustrie oder auch die Musikinstrumentenindustrie in Sachsen etablieren konnten.

7   Vgl. Bohler, K. F.; Franzheld, T., Langlebige soziale Disparitäten, in: Bundeszentrale für Politische Bildung, Lange Wege der Deutschen Einheit, Berlin 2010 (http://www.bpb.de/system/files/pdf/L55WK1.pdf).

8   Insbesondere das Gebiet des heutigen Sachsens war allerdings seit jeher stärker industrialisiert als die übrigen Teile Ostdeutschlands und wies in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit die höchste Wirtschaftskraft in Deutschland auf. Unternehmensverlagerungen und Reparationsleistungen an die Sowjetunion haben den hieraus resultierenden Standortvorteil offenkundig nicht gänzlich beseitigen können; die bestehenden industriellen Traditionen in der Arbeiterschaft scheinen jedenfalls die DDR überdauert zu haben.

9   Nach Berechnungen des IAB sind von den im Zeitraum 1999-2007 aus Ostdeutschland abgewanderten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten bis 2012 knapp 15 Prozent zurückgekehrt, die meisten davon allerdings in den ersten Jahren nach der Abwanderung. Fünf Jahre nach Abwanderung findet eine Rückwanderung nur noch in sehr seltenen Fällen statt. Es ist daher nicht damit zu rechnen, dass Rückwanderungsinitiativen, wie sie bis heute von allen ostdeutschen Landesregierungen favorisiert werden, tatsächlich großen Erfolg haben werden. Vgl. zu den Berechnungen Bogai, D.; Wesling, M., Rückwanderung von Beschäftigten nach Brandenburg, in: IAB-Regional, Heft 3/2014.

10 Vgl. zu entsprechenden empirischen Nachweisen Ragnitz, J., Explaining the East German Productivity Gap – The Role of Human Capital. Kiel Working Paper No. 1310, Kiel 2007.

11 Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass es bereits in der Zeit zwischen 1945 und 1961 zu einem Exodus bürgerlicher Eliten aus Ostdeutschland gekommen ist. Die zwischenzeitlich als Ersatz fungierende Führungsschicht der DDR scheint demgegenüber nur eingeschränkt in der Lage, auch unter marktwirtschaftlichen Bedingungen eine innovationsorientierte Führungsrolle einzunehmen.

12 Vgl. hierzu z.B. IWH; DIW; HoF; IAB; ifo; RWI, Wirtschaftlicher Stand und Perspektiven für Ostdeutschland, IWH-Sonderheft 2/2011, Halle.

13 Vgl. hierzu den Beitrag von Udo Ludwig in diesem Heft.

14 Vgl. dazu den Beitrag von Raj Kollmorgen in diesem Heft.

15 Die in der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ geführten Debatten spiegeln dies eindrücklich wieder; vgl. BT-Drs. 17/13300.

16 Vgl. OECD, All on Board: Making inclusive growth happen, Paris 2014.

17 Vgl. zu Strategien für schrumpfende Regionen auch: Küpper, P.; Steinführer, A.; Ortwein, S.; Kieresch, M., Regionale Schrumpfung gestalten. Handlungsspielräume zur langfristigen Stabilisierung gesellschaftlicher Teilhabe schaffen und nutzen, Braunschweig und Bonn 2013.

18 Vgl. hierzu die Vorschläge und Beispiele in der in Fußnote 17 genannten Quelle.

 

Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL 26 (2015) 2, S. 5-16