Auf der Suche nach dem „wahren Sozialismus“

Das Geschichtsbewusstsein der Perestroikageneration

Die folgenden Überlegungen beruhen auf den persönlichen Erfahrungen des Autors in der Epoche der Perestroika. Damals begann mein Werdegang als Historiker. Mein Motiv ist jedoch nicht autobiografischer Natur. Der Grund ist eher ein pragmatischer: Jahr für Jahr muss ich meinen Studenten an der Universität das erklären, was für meine Generation damals auf der Hand lag und damit völlig selbstverständlich zu sein schien. Ich meine die weltanschaulichen und Verhaltensstandards der Perestroikaepoche, zu deren letzten und abschließenden Konzeptionen die vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ gehörte. Alles, was darauf folgte, gleich, ob es „das gemeinsame Haus Europa“, „Sprung in den Kapitalismus“ oder „eurasischer Sonderweg“ hieß, waren von Polittechnologen oder von oben durchgestellte Projekte, die das Volk kalt und gleichgültig ließen.

Weil die Vorstellung vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ eine ausgesprochen kurzlebige war, lässt sich schwer einschätzen, in welchem Maße sie die Gesellschaft in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in ihren Bann zog. Ein Vierteljahrhundert lang schrieben nur die ehemaligen Anhänger dieses Konzeptes darüber. Oder – im Gegenteil – sie schrieben nicht darüber und versuchten sogar, diese ihre Anhängerschaft zu vergessen. Denn es ist unangenehm und tut auch weh, sich an verlorene Illusionen zu erinnern. Doch solide Abhandlungen, die der historischen Komponente des Mythos von der Rückkehr zum wahren Sozialismus gewidmet sind, erlauben es, sich dem Thema ohne Scheu und vorurteilsfrei zuzuwenden.

Meine Recherche im russischen Internet erbrachte ein verblüffendes Resultat: Die meisten Autoren, die über die Generation der Perestroika schreiben, haben dabei entweder Menschen im Blick, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre geboren wurden oder solche, die damals erwachsenen geworden waren. Ob dieser unterschiedlichen Auslegungen und Lesarten sind einige Bemerkungen zur Begriffsbestimmung angebracht. Karl Mannheim definierte „Generation“ als „intellektuelle und geistige Gemeinschaft“. Ein Generationswechsel ist mit einem Wechsel der vorherrschenden Denkart verbunden und mit einer Weitergabe des akkumulierten kulturellen Erbes. Ulrike Jureit hingegen unterstreicht nicht die Altersbegrenzung, sondern weist auf die gemeinsame Selbstidentifizierung und die Abgrenzung von „anderen“ hin.1

Es handelt sich demnach um eine gefühlte Gemeinschaft, deren grundlegende Charakteristika sich im Prozess einer immanenten Kommunikation herausbilden. Ein symptomatisches, von Historikern und Philologen ausgiebig untersuchtes Beispiel hierfür ist die „Generation August 1914“, für die der Weltkrieg eigentlich nie zu Ende ging. Über den Einfluss der Russischen Revolution von 1917 auf die Herausbildung der Generation ihrer Anhänger als einem „neuen anthropologischen Typus“2 hatte der russische Philosoph Nikolai Berdjajew geschrieben. Michael Wildt skizzierte die Generation, die die Funktionärselite im „Dritten Reich“ stellte.3 Wladimir Buldakow hat mit seinen Studien über die „Zeit der roten Wirren“ den Nachweis erbracht, dass auch in der russischen Revolution nicht die Berufsrevolutionäre, sondern die Soldatenmasse den Ton angaben, die Soldaten repräsentierten eine Altersgruppe, ihr „Kitt“ waren die schrecklichen Kampfhandlungen, die sie gemeinsam erlebt und durchlitten hatten. Diese Erfahrungen nutzten sie zur Durchsetzung ihrer eigenen Vorstellungen von der „lichten Zukunft“.4

Eine Generation, bemerkt Jureit zurecht, strukturiert die Geschichte ebenso wie eine Klasse, eine soziale oder eine Geschlechtergruppe, sie formiert und legt im Gedächtnis ihre eigene, einzigartige und wiedererkennbare Schicht der angeeigneten gesellschaftlichen Erfahrung ab. Im Hinblick auf die geschichtlichen Wertungen geht es hierbei nicht nur darum, woran man sich erinnert oder was man vergisst, sondern auch darum, auf welche Art und Weise man sich erinnert. Es ist wie bei einer zufälligen Begegnung mit Landsleuten, mit Vertretern der eigenen Generation, sie können über das Erlebte einer Meinung sein oder streiten, aber sie werden es „auf einer Wellenlänge“ tun.

Bei der Bestimmung der Spezifik der Sicht einer Generation müssen drei Formen der Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart Beachtung finden, auf die bereits Nietzsche in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ hingewiesen hat: „In dreierlei Hinsicht gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen.“5

Es geht um die heutige Generation der Russen und um die Generation der Sowjetepoche. Eingeklemmt zwischen diesen beiden befanden sich die „Leidenden und der Befreiung Bedürftigen“, die Perestroika-Generation, für die die Erkenntnis der Vergangenheit jenes ersehnte Schlüsselchen war, das sie vor den Fesseln der verhassten Gegenwart befreite.

Die Perestroika-Generation im Kampf um die Geschichte

Der Ausspruch von Alexis de Tocqueville, dass jede neue Generation in einer demokratischen Gesellschaft ein eigens Volk bildet, bedarf keines Kommentars und gilt auch über die Grenzen klassischer Demokratien westlichen Typs hinaus. Arthur Schlesinger jun. hat Tocquevilles Überlegungen aufgegriffen und die These formuliert, dass in der amerikanischen Geschichte dreißigjährige Zyklen nachweisbar sind, die auf die Generationserfahrung zurückgehen, die Reform befördern und das Erreichte zementieren.

Dieses Schema passt auch auf den Verlauf der russischen Geschichte im 20. Jahrhundert: Stolypin, Stalin, Chruschtschow, Gorbatschow. Selbstverständlich geht es hier nicht um simple Additionen – jeder der genannten Führer reagierte auf die Signale der neuen Generation, die reif und in der Lage war, die Hebel der Macht in die Hand zu nehmen. Auf die Epoche der radikalen Reformen, die einer „Revolution von oben“ ähnelte, folgte stets eine Phase der Konsolidierung, die als Stagnation empfunden wurde. Diese Phase wurde in der Amtszeit Breschnews künstlich in die Länge gezogen, was eine Neutralisierung des schöpferischen Potenzials der sowjetischen „Schestidesjatniki“, also der Intellektuellen aus den sechziger Jahren, nach sich zog. Sie waren es, die vom Bruch des verhassten Systems träumten und den Vertretern der Folgegeneration in den Jahren der Perestroika vorwarfen, das wir – im Unterschied zu ihnen – die Prüfung nicht bestehen werden. Wir würden uns satt und zufrieden zurücklehnen und die Hände in den Schoß legen. Dabei ging es nicht so sehr um materiellen Wohlstand sondern um die Verweichlichung und Passivität jener, die zu Lebzeiten keine echten Prüfungen bestehen mussten, um das Zusammenfallen von äußeren Impulsen und der Mobilisierung im Inneren: politisches Tauwetter, Neulandgewinnung, Eroberung des Kosmos, Großbaustellen in Sibirien usw.

Das Signal für die Aktivierung der Generation, die auf die „Schestidesjatniki“ folgte, ging eigentlich nicht von Gorbatschow aus, sondern vom Tod seiner Vorgänger. Über die Beerdigungen, die wie am Fließband erfolgten und jeweils die Abriegelung der Innenstadt zur Folge hatten, gab es Anekdoten: „’Brauchen Sie eine Karte für die Beerdigung?’ ‚Nein, danke. Ich habe ein Abonnement.’“ Der Tod einer Generation sowjetischer Führer wurde zu einem wichtigen Faktor der Desakralisierung des sie umgebenden ideologischen Raumes und nährte die massenhaften Hoffnungen, dass jetzt endlich „unsere Zeit“ gekommen ist.

Mitte der achtziger Jahre war die Mentalität der 25- bis 45-Jährigen nicht nur von der Ablehnung des „verfaulten Systems“ geprägt, sondern auch durch die Vorahnung von irgendetwas Neuem. Zum ersten Mal verband sich der Durchbruch in die Zukunft nicht mit militärischen Aktionen (es gab ja das atomare Gleichgewicht) und auch nicht mit einer von Dissidenten vorgegebenen Perspektive (die Macht des KGB stellte niemand in Zweifel). Das Heraustreten aus der Illegalität, aus häuslichem Küchen-Untergrund und die längst überfälligen Reformen von oben führten zur Vervollkommnung, nicht zur Demontage des bestehenden Systems. Es bedurfte lediglich eines Führers, der in der Lage war, die Ungeduld des Volkes verständlich zu artikulieren und sich von der vorhergehenden Generation abzugrenzen. – Und er erschien dem Volke.

Die Generation der Perestroika hat viel zu lange auf ihre Stunde gewartet. Sie glich einer gealterten Jungfrau, die bereit war, jeden zum Manne zu nehmen. Das erklärt die für die Vertreter der Macht völlig überraschende Dynamik der mentalen Befreiung von der Last der toten Doktrin, die ungekannte gesellschaftliche Aktivität, die Bereitschaft, eine persönliche Mitverantwortung sowohl für die „Stagnation“ unter Breschnew als auch für die Konfrontation mit dem Westen auf sich zu nehmen. Dieses Potenzial war unschwer zu erkennen und Gorbatschows Bad in der Menge, die inhaltsleeren Gespräche dabei eingeschlossen, waren ein entsprechender Schachzug.

Die Herrschaft des ideologisierten Marxismus zog in der Bevölkerung die Überzeugung nach sich, dass die Zukunft konstruierbar ist. Das war gewissermaßen das verschleppte Finale der Aufklärung, einer linearen Fortschrittsauffassung, die davon ausging, dass der Mensch zum Guten strebt, ungeachtet aller Hindernisse und Wirren, die auf diesem Wege überwunden werden müssen. Tschernobyl sowie eine Serie von Havarien und Katastrophen führten Gorbatschow vor Augen, dass eine bloße Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung nicht die Lösung war. Es mussten nicht nur die körperlichen, sondern auch die geistigen Ressourcen und Potenzen des so genannten Sowjetmenschen mobilisiert sowie sein Denken und Fühlen, das längst nicht mehr den Kommunisten gehörte, zurückgewonnen werden.

Gorbatschow, der kein Historiker war, hatte intuitiv begriffen, dass man hierfür die Einheit zwischen Vergangenheit und Zukunft wiederherstellen muss, die durch den Dogmatismus und die Unbeweglichkeit der einstigen sowjetischen Führer zerstört wurde. Die „unvorhersehbare Vergangenheit“ brachte die neue Generation nicht minder auf, als die Luftschlösser der lichten Zukunft. Die Körnchen Wahrheit über die reale Lage des Landes und der Welt brachten erschreckende Parallelen zur tatsächlichen, nichterfundenen Vergangenheit an den Tag. Dass die Entlarvung des Sowjetsystems auf dem Gebiet der Geschichte erfolgte, dem Gebiet, das von zentraler Bedeutung für die Legitimation war, kann daher eigentlich nicht verwundern.

Die Situation am Vorabend der Perestroika ist mit der in Frankreich von 1940 vergleichbar. Die Verbitterung über die Niederlage brachte den Franzosen das Gefühl der Zugehörigkeit zur Vergangenheit zurück, einer Vergangenheit, die viele als fremd empfanden. „Von diesem Moment an konnte die Geschichte nicht mehr Gegenstand einer bloßen Spezialisierung sein. Sie wurde zu jener Art und Weise, in der die moderne Welt einem jeden von uns entgegentritt.“6

Das traf auch voll und ganz auf Gorbatschow selbst zu. In seinen Memoiren unterstreicht der letzte Sowjetführer, dass sein Verständnis der „Glasnost“-Politik nicht die Normen der Zivilgesellschaft und des Rechtsstaates zur Grundlage hatte, sondern die Neuinterpretation der Geschichte der KPdSU(B). In den innerparteilichen Auseinandersetzungen nach 1917 wurde die Glasnost – trotz Bürgerkrieg – nicht beschnitten. Der Generalsekretär erinnert sich an die Begeisterung, mit der er die Protokolle der Parteitage der KPR(B), die Anfang der 1920er Jahre stattgefunden hatten, las.7 In der Sowjetzeit auf den Index gesetzte Bücher und unveröffentlichte Archivdokumente wurden nun zugänglich gemacht, das schuf einen Nährboden für die Herausbildung einer neuen Erinnerungskultur, die auf eine radikale Umwertung der Vergangenheit zielte. Und den Worten folgten umgehend auch Taten. Am 28. September 1987 wurde in einer Sitzung des Politbüros des ZK der KPdSU beschlossen, eine Kommission zur Untersuchung der politischen Repressalien in der Sowjetunion einzusetzen.

Die Vorbereitung des Referates von Gorbatschow aus Anlass des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution wurde zu einer Art Ouvertüre der „Geschichtsrevolution von oben“. Gleichzeitig zeichnete sich der Versuch ab, das bisherige Geschichtsbild und seine richtige Lesart zu kodifizieren. Der Parteiführung ging es nicht um die Befreiung der Gesellschaft von den Fesseln der verrotteten Doktrin, sondern um deren Modernisierung. In der Sitzung des Politbüros vom 31. Oktober 1987 erklärte der Generalsekretär: „Wir haben Lenins Weg verteidigt, haben die Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Land unter Beweis gestellt“.8 Doch diese angestrebte begrenzte Modernisierung war nicht das Wichtigste. Das Wichtigste bestand darin, dass die Staatsmacht den Vektor für die Suche nach der geschichtlichen Wahrheit vorgegeben und die Öffentlichkeit dazu ermuntert hatte, worauf diese bereitwillig reagierte. Es entstand ein für die Selbstdarstellung der Generation der Perestroika günstiges Milieu.

Die Herausbildung des neuen Geschichtsbildes der sowjetischen Vergangenheit

Die grundlegenden Thesen des November-Referates wurden von Gorbatschow im Buch „Umgestaltung und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt“9 weiterentwickelt und konkretisiert. Ein Abschnitt war dem unbekannten Lenin, insbesondere seinen letzten Arbeiten, gewidmet: „Die Rückbesinnung auf Lenin als ideologische Quelle der Umgestaltung“.10 Ohne Stalin ein einziges Mal namentlich zu erwähnen, zählte der Generalsekretär alle seine Argumente für eine Politik der forcierten Industrialisierung und der vollständigen Kollektivierung auf. Sogar Stalins Äußerung über das fröhlicher gewordene Leben klang hier an: „Die Menschen [...] freuten sich des Lebens, amüsierten sich, zogen ihre Kinder groß und gingen ihrer täglichen Arbeit nach“.11

Um so verwunderlicher ist es, dass die erdrückende Mehrheit der Sowjetmenschen Ende 1987 an die Ernsthaftigkeit von Gorbatschows Unterfangen glaubte, lag doch die seiner Argumentation zugrundeliegende Glättung der Geschichte auf der Hand. Zum ersten Mal kamen die Signale nicht aus dem ZK der KPdSU oder von den Seiten der „Prawda“. Als in der Illustrierten „Ogonjok“ Artikel über Bucharin – lange vor dessen Rehabilitierung – erschienen und die Literaturzeitschriften Romane und Erzählungen wie die von Rybakow oder Pristawkin über die Stalinzeit veröffentlichten, löste das einen Begeisterungssturm aus. Die Staatsmacht gestatte es, Stalin zu entlarven und beschritt freiwillig den Weg der Entsakralisierung des Raumes der historischen Erinnerung.

Als leitende und lenkende Kraft dieses Prozesses wurde das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU ausgewählt, eine Einrichtung, die bis dahin als Gralshüterin der Parteiakten galt. Die Abteilungsleiter erhielten umfassende Aufgaben, die Geschichte der KPdSU, der Komintern, des Großen Vaterländischen Krieges usw., usf. musste neu geschrieben werden. Um an diesen Projekten mitzuarbeiten, wurden bekannte Historiker aus der Akademie der Wissenschaften sowie junge Wissenschaftler, die gerade ihr Studium beendet hatten, darunter auch der Autor dieser Zeilen, an das IML geholt. Wir parteilosen „grünen Jungs“ müssen den alten Mitarbeitern vorgekommen sein, wie die sprichwörtlichen grünen Marsmännchen.

Im Rahmen dieser Einrichtung begann eine Epoche der schöpferischen Kontroverse von alten und neuen Herangehensweisen. Das IML wurde zum ersten Mal in seiner Geschichte – aber auch kurz vor seinem Ende – zu einer wissenschaftlichen Einrichtung. Doch obwohl es über das Monopol an Archivgut verfügte, konnte es nicht die Führungsrolle bei der Etablierung der neuen Erinnerungskultur übernehmen. In einer Situation, in der plötzlich alle Historiker waren, traten die Berufshistoriker ihren Platz den Publizisten und Hobbyforschern ab.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1987 hatte Gorbatschow die Leitlinien für die Revision der Geschichte vorgegeben, doch bereits Ende des darauf folgenden Jahres verwies er – offensichtlich auch auf den Rat von Politbüromitgliedern hin – auf die Grenzen des Erlaubten. Auf dem Februar-Plenum des ZK der KPdSU waren Zugeständnisse an die Konservativen zu vernehmen: „die vaterländische Geschichte ist keine Aufeinanderfolge von blutigen Verbrechen“. In seinen Memoiren bringt Gorbatschow seine damalige Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass niemand auf ihn hören wollte, und dass sich nach dem Februar-Plenum eigentlich nichts änderte.12

Das Signal, die Grundfesten des Sozialismus zu verteidigen, wurde auf verschiedene Weise aufgenommen. Die Zeitung „Sowetskaja Rossija“ veröffentlichte den Brief von Nina Andrejewa „Ich kann meine Prinzipien nicht preisgeben“, der auch im „Neuen Deutschland“ in Übersetzung erschien. Ich erinnere mich an die damals im IML-Hause herrschende Stille, nur das Rascheln der Zeitungsseiten und Getuschel auf den Gängen war zu vernehmen. Das Signal von oben wurde richtig verstanden. In den Grundorganisationen der KPdSU begann die Diskussion des Briefes, er wurde als Direktive wahrgenommen, die Gegner und „Bremser“ des neuen Kurses erhoben die Köpfe. Doch ihre Freude währte nur kurz. Gorbatschow war über den Artikel entrüstet und schlug einen schroffen Ton gegenüber den Opponenten im Politbüro an. Die anschließenden Diskussionen über den Brief – sowohl im Führungszirkel der KP als auch in der Presse – glichen einem reinigenden Gewitter. Anatolij Tschernjajew, ein Mitarbeiter Gorbatschows notierte im Tagebuch: „Hätte es Nina Andrejewa nicht gegeben, dann hätte man sie erfinden müssen“.13 Damit waren die Fronten klar. In der öffentlichen Debatte gab es neue Symbolfiguren und Termini, die Illusion, „dass wir alle in einem Boot sitzen“, war ein für allemal Geschichte.

Dies war auch der entscheidende Faktor für die Selbstidentifikation jener sozial-psychologischen Bevölkerungsgruppe, die wir „Perestroika-Generation“ nennen. Gorbatschow und seine Anhänger standen damals vor der Wahl, entweder die „Pferde zu wechseln“, das Potenzial dieser Generation zu nutzen oder weiter auf den Parteiapparat zu setzen, auf dessen aktiven konservativen Teil. Wie immer, entschied man sich für eine Kompromissvariante, man wollte gleichzeitig auf allen Stühlen sitzen.

Die Intelligenz hatte an Entlarvungen Geschmack gefunden (im damaligen Sprachgebrauch war von der Tilgung „weißer Flecken“ die Rede), sie ging weiter voran, ohne sich um die Disziplinierungsversuche von oben zu kümmern. Sie stand im Bann der „kritischen Geschichte“, die dann zu Hilfe kam, wenn es darum ging, aufzuzeigen, „wie ungerecht die Existenz irgendeines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel, ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. Dann wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg“.14 Ein derartiges Herangehen zielt auf die Kritik am Ganzen, nicht auf die einzelner Teile. Die Väter der Perestroika begannen Rückzugsgefechte.

Um den Sozialismus als Ganzes aus der Kritik herauszuhalten wurde von Gorbatschow nahestehenden Ideologen der Begriff „Stalinschtschina“ in Umlauf gebracht. Da den Sowjetmenschen „ismen“ vertrauter waren, wurde er schnell durch den des „Stalinismus“ ersetzt. Die Epoche Stalins wurde nun zum Herzstück aller Entartungen und Verzerrungen des Sozialismus, der negative Ausgangspunkt in der Einschätzung der Vergangenheit. Weitaus komplizierter stand es um den positiven Bezug, den „wahren Sozialismus“. Ein Lieblingsthema der damaligen Publizistik war die Suche nach der „verlorenen Alternative“. Es geht hierbei um Lenins letzte Aufsätze, über das ungenutzte Potenzial der NÖP, um Bucharins Konzeption vom Hineinwachsen in den Sozialismus.

Das Wichtigste, worüber sich Staatsmacht und Gesellschaft damals einig waren, war das verzerrte Bild der sowjetischen Vergangenheit durch ein anderes, richtiges zu ersetzen, das die Apparatschiks dem Volk vorenthalten hatten. Dieses neue Bild wäre dann das einzig wahre, endgültige und unumstößliche. Es war ein für Russland typischer Archetypus der „verborgenen Wahrheit“. Die Feuilletonschreiber der Partei warfen den Fachhistorikern vor, prinzipienlose Konjunkturritter zu sein und belehrten sie, dass es eine ein für allemal gültige Wahrheit gibt.15 In Erwartung des baldigen Erscheinens der einzig wahren Geschichtsdarstellung wurden an den Schulen 1988 die Prüfungen im Fach Geschichte ausgesetzt.

Staatsmacht und Intelligenzija waren sich darin einig, „sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt“.16 Nietzsche, der Autor dieser Zeilen, wies zu Recht auf die Gefahr eines derartigen Konstruktivismus hin. Darin lag aber nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine einmalige Chance. Zum ersten Mal in der Geschichte Russlands wurde die richtige Vergangenheit nicht unter rigider Kontrolle der Staatsmacht, sondern in einem Dialog zwischen „oben“ und „unten“, im Ergebnis einer umfassenden gesellschaftlichen Debatte geschrieben.

Das daraus entstandene Konstrukt lässt sich wie folgt beschreiben. Die Bolschewiki waren die Verkünder einer neuen Gesellschaftsordnung, die von ihnen angeführte Revolution eröffnete Russland den Weg zum Sozialismus. Siebzig Jahre Entbehrungen und Kampf waren nicht vergebens, die sozial-ökonomischen Grundlagen der Sowjetordnung bedürfen keiner Revision. Stalins Sieg im innerparteilichen Kampf nach Lenins Tod hat dazu geführt, dass das positive Potenzial des Sozialismus für kurze Zeit eingefroren wurde; in den Vordergrund traten negative Momente eines „Regimes persönlicher Macht“. Für die Korrektur war es erforderlich, jene Weggabelung wiederzufinden, um den richtigen Weg einzuschlagen. Je stärker der Drang war, der Vergangenheit, Stalins System, den Rücken zu kehren, desto dringlicher wurde das Bedürfnis, zu den Quellen zurückzukehren, zu jenem Punkt zu gelangen, von dem aus die Entwicklung die falsche Richtung eingeschlagen hatte.

Der Prozess der Rekonstruktion der richtigen Vergangenheit erfolgte auf positivistische Art und Weise. Die „weißen Flecken“ sollten getilgt und gleich neuen erschlossenen Gebieten auf Karten übertragen werden. Der Dichter Jewtuschenko schrieb ebenso darüber – „wir müssen die Geschichte bis ins kleinste Detail kennen, sonst können wir sie nicht nach vorne bewegen“17 – wie der Generalsekretär in seinen Memoiren: „wir müssen die wahre und nicht die idealisierte, romantisierte Geschichte rekonstruieren“.18

Der Umbruch im Sommer 1988

Die Beschäftigung mit Geschichte wurde 1988 nicht zu einem von vielen Trends, die das Jahr 1988 prägten, sondern zum zentralen Faktor, der die Perestroika-Generation zusammenschweißte. Sie strömte geradezu in die Bresche, die die Macht aufgetan hatte, um den Wissensdurst zu stillen, um in der Vergangenheit Antworten auf die brandaktuellen Fragen zu finden. Ajtmatows Mankurt – jener künstlich seines Gedächtnisses beraubte Mensch – wurde zu einem populären Bild in der Publizistik.

Im Zuge der Ereignisse schien es so, das die Zeitung „Prawda“ („Wahrheit“) zu einem Ableger der Zeitschrift „Woprossy istorii“ („Fragen der Geschichte“) geworden war. Mitarbeiter des IML beim ZK der KPdSU bereiteten eine wöchentlich erscheinende „Geschichtsseite“ vor, in der wenig bekannte oder bislang tabuisierte Ereignisse dargestellt wurden. Die Historiker, die sich mit der Geschichte der KPdSU beschäftigten, riefen dazu auf, die Archive zu öffnen und der um sich greifenden Schwarzmalerei eine Absage zu erteilen.19 Dies kam einer präventiven Antwort auf den Vorwurf gleich, sie würden die „wahre Vergangenheit“ zu Gunsten einer Konjunktur verbergen. Sie wollten nicht die Rolle der Sündenböcke spielen, die zum wiederholten Male die Vergangenheit zu Gunsten der Machthaber umschreiben. Flinke Feuilletonisten hatte schon einen Namen für sie gefunden „Fedot-Herodot“.20

In der Ausgabe vom 26. Juli 1988 druckte die „Prawda“ den Brief von Juri N. Afanasjew, der eine Antwort auf den Vorwurf seiner Opponenten enthielt, er würde die sowjetische Geschichte zu kritisch darstellen.21 Als der Brief veröffentlicht wurde, war der Autor längst bekannt – nicht als Spezialist für die Geschichte Frankreichs, sondern als Herausgeber des Sammelbandes „Inogo ne dano“ („Etwas anderes ist nicht gegeben“), der zu einem echten Bestseller geworden war. Afanasjew hielt sich nicht damit auf, auf einzelne Argumente einzugehen. „Ich halte die bei uns geschaffene Gesellschaft nicht für eine sozialistische, auch nicht für eine deformiert-sozialistische“. Diese These war von rituellen Äußerungen begleitet wie „wir werden die Kraft und die adäquate Politik finden, um auf den sozialistischen Weg zurückzukehren“. Doch der Satz „Der König ist nackt“ war nun ausgesprochen.

Dieser Brief – wie zuvor der von Nina Andrejewa – bewies, dass die Staatsmacht auf das Monopol der Vergangenheitsauslegung verzichtete und bereit war, die konkurrierenden Auffassungen zur Kenntnis zu nehmen. Eine Entscheidungsschlacht stand bevor. Es gab nichts Wichtigeres, als die Feststellung, der König sei nackt. Doch die Zeit verging, und, wie Michail Gefter zu Recht bemerkte, reichte diese bald nicht mehr aus, um irgend etwas zu erklären.22

Die Richtung der historischen Suche änderte sich damit von Grund auf. Es ging von nun an nicht um die Suche nach dem richtigen Weg zum Sozialismus, sondern darum, diese Theorie aufs Neue zu formulieren. Der Mythos vom Oktober und dem Leninschen Sozialismus begann in der Perestroika-Generation zu bröckeln. Und sie forderte darüber hinaus, voranzuschreiten. Am Ende stand die Frage, ob es bei uns überhaupt Sozialismus gegeben hat und ob wir überhaupt Sozialismus – und sei es mit menschlichem Antlitz – brauchen.23

Die Losung „Etwas anderes ist nicht gegeben“ mündete in die Suche nach anderen Entwicklungswegen. Der Sozialismus war nicht mehr eine Erscheinung der geschichtlichen Vergangenheit, sondern eine der Zukunft. Es war eigentlich nicht Afanasjew, der diese Problemstellung als erster in der „Prawda“ aufgeworfen hatte. Sergej Michalkow hatte das vor ihm getan, als er dem Klempner Stepan in einer Fabel folgenden Satz in den Mund legte: „Wozu hier und da die Leitungen auswechseln, das ganze System muss erneuert werden“.24

Stepan war den Historikern meilenweit voraus. Seinen simpel auf den Punkt gebrachten Vorschlag mag man heute belächeln. Mit Koselleck gesprochen: Die Perestroika-Generation verfügte nicht über den „Erfahrungsraum“, sie hatte nur den „Erwartungshorizont“. Dieser schien ihr in unmittelbarer Nähe, er war gewissermaßen mit den Händen zu greifen. Es war nicht weit bis zu dem Horizont, hinter dem die lichte Zukunft begann.

Je deutlicher die Krise im Lande zu Tage trat, umso unbändiger äußerte sich der Optimismus der Perestroika-Generation. Viele ihrer Vertreter behaupteten, es wäre möglich, die allgemeine Wohlfahrt in weniger als 500 Tagen erreichen, von jener Frist war im von Schatalin und Jawlinski vorgelegten Programm die Rede.25 An die Lehren der Geschichte und die Spezifik der Zivilisation in Russland wollte sich niemand erinnern. Der „Generationszusammenhang“ im Sinne Karl Mannheims war verschwunden. Michail Gefter sprach demgegenüber und mit Blick auf die Nachkriegsgeneration vom „Generationsbruch“26. Die Staatsmacht stand abseits.

Gorbatschow und seine Anhänger beobachteten passiv, wie die Unterstützung durch die Bevölkerung dahinschmolz. Die Oberschicht der sowjetischen Nomenklatura peinigten Zweifel: „Früher oder später musste sich die Hoffnung auf den Sozialismus und die mobilisierende Kraft seiner ursprünglichen Ideen erschöpft haben“, behaupteet sein engster Mitstreiter Alexander Jakowlew.27 Doch der Generalsekretär der immer noch regierenden Partei bestand entgegen dem Drängen seiner liberalen Berater auf der Richtigkeit der „sozialistischen Wahl“. Gorbatschow wähnte dabei das Volk an seiner Seite. Doch damit erreichte er nur, dass die Bevölkerung gleichgültig zusah, wie der Staat in sich zusammenbrach. Gorbatschow und die „sozialistischen Wahl“ erschienen wie Zwillinge.28

Den Puls der Zeit spürte die Staatsmacht nicht mehr, die neue Elite begann untereinander Krieg zu führen. Die bekanntesten Vertreter tauschten ihre Popularität gegen Beamtensessel und Abgeordnetenmandate ein. Die Perestroika-Generation büßte ihre einigenden Werte ein und verlor die Orientierung. Anfang der neunziger Jahre hatte sie aufgehört, als sozial-psychologische Gemeinschaft zu existieren. Sie zog das schreckliche Ende einem Schrecken ohne Ende vor. Im Folgenden versuche ich zu erklären, warum dies so rasend schnell vor sich ging.

Das Auseinanderbrechen der Generation Perestroika

Unter den Ursachen für das Auseinanderbrechen der Generation Perestroika, das von innen heraus begann, waren ausgesprochen triviale Ursachen die dominanten. Etwas später als die Alten und die Jugendlichen verspürten auch die Vertreter der mittleren Altersgruppe materielle Sorgen. Ihre Vorstellung, dass ihre Lebensqualität unter den Bedingungen der Stagnation schlimmer nicht sein kann, und nur ein Ausweg nach oben möglich ist, hatte sich ob ihrer Erfahrungen mit der Sowjetunion Ende 1980 erledigt. Man musste in einem immer aggressiver werdenden gesellschaftlichen Umfeld ums Überleben kämpfen. „Bezugsscheine“, „Strassenhandel“, „Sonderzuteilungen“, „Rationierungen“ und andere Varianten der Versorgung in der sich verstärkenden Krise heizten die Stimmung auf. Die Staatsmacht, die nicht in der Lage war, das Volk zu ernähren, konnte kaum auf dessen Sympathien hoffen. Selbst die Leserschaft – ganz zu schweigen von der Bevölkerungsmehrheit – ließen die ständigen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt kalt, denn die anderen Geschäfte waren leer.29

Erneut waren Stimmen zu hören wie: Man hat uns betrogen, wir leben nicht in materiellem Wohlstand sondern schlechter als je zuvor. Gorbatschow wurde immer häufiger und in aller Öffentlichkeit mit dem Schwätzer Chruschtschow verglichen.

Die Perestroika-Generation hat Millionen Menschen aus ihrer Lethargie erweckt und zum Handeln motiviert. Diese Millionen waren eigentlich mit dem „real existierenden Sozialismus“ zufrieden und irgendwie sicher, auch wenn sie wenig oder mangelhaft arbeiteten, es reichte ihnen zum Überleben.30 Der eigentliche Grund für ihr Interesse an Politik und an der Vergangenheit war die Langeweile und Eintönigkeit der sowjetischen Lebensweise. Die Sympathie für die Perestroika mündete jedoch nicht in eine Strategie individueller und folgerichtiger Handlungen. An den Kundgebungen auf dem Manege-Platz in Moskau Anfang der neunziger Jahre beteiligten sich hunderttausende Menschen, doch sie gingen hin, weil es „modern“ war. Die Motivation unterschied sich kaum von der, ein Abonnement für die Literaturzeitschrift „Nowyj mir“ („Neue Welt“) zu erwerben oder diejenigen Abgeordneten gut zu finden, die Jelzin unterstützten.

Von der „Einheitsfront“ der sowjetischen Intelligenzija, die anfangs Gorbatschow unterstützt hatte, blieb nichts übrig. Die Aktivisten unter ihnen waren in Cliquen- und Richtungskämpfe verstrickt. Es ging um Führerschaft, Macht und Eitelkeit. Der einst anvisierte Bruderbund kam nicht zustande. Im Unterschied zu Russland setzten die „Volksfronten“ in den baltischen Republiken mit Erfolg auf die von der Perestroika-Generation verpönte nationalistische Ideologie.

Der Versuch, Stalin zu einer Art Blitzableiter umzufunktionieren, scheiterte ebenso wie der Versuch, Lenin und den Oktober als positiven Ausgangspunkt festzuklopfen. Das lesende Publikum interessierte sich kaum noch für die Schicksale einzelner Vertreter der Leninschen Garde, sie dachte – unter dem Eindruck des wiederentdeckten und wiederauflebenden satten und von Unruhen freien vorrevolutionären Russland – mehr über die Merkmale totalitärer Systeme nach.

In Gorbatschows Memoiren kann man nachlesen, wie erstaunt er darüber war, dass die Glasnost zur zunehmenden Differenzierung in den Auffassungen über die im Lande vor sich gehenden Prozesse geführt hat. Seine eigene Hinwendung zu allgemeinmenschlichen Werten, sein Suchen, alles das zog nicht den erhofften Effekt nach sich. Der Zerfall erfasste die Machtstrukturen, die Verteidiger des alten Systems warfen dem KP-Führer vor, die Ideale der Partei zu verraten. Die Frage, was die Perestroika ausgelöst hatte – eine Diskreditierung des Sozialismus oder seine Wiedergeburt – hatte für die intellektuelle Elite jeden Sinn verloren.

Die noch vor kurzem auf Händen getragenen Historiker sahen sich nun Angriffen von zwei Seiten ausgesetzt. Die einen warfen ihnen Schwarzmalerei vor, die anderen das Verschweigen der Schattenseiten der vaterländischen Geschichte. Allmählich wurde auch ihnen klar, dass die um die Geschichte geführten Schlachten nicht um die Wahrheit geführt wurden, sondern konjunktureller Natur waren, und so bitter diese Erkenntnis auch war, hauptsächlich den Interessen der Staatsmacht dienten. Es gelang den Historikern nicht, in der sich schnell verändernden Gesellschaft einen Diskurs zu verankern. Die Sprache der Perestroika war viel zu dynamisch, um als stabilisierender Faktor und Instrumentarium eines konstruktiven Dialogs mit der Vergangenheit wirken zu können.

Als ein wichtiger Faktor des Auseinanderbrechens der Perestroika-Generation erwies sich die Entdeckung der Landesgrenzen. Europa erschien den zehntausenden jungen Leuten, die sich irgendwie hervorgetan und eine Einladung zu einem Auslandsaufenthalt erhalten hatten, wie ein gewaltiger Kurort.31 Das am Vorabend des Untergangs der Perestroika propagierte „europäische Haus“ erschien nicht einmal als eine Illusion, es war ein langweiliges und langatmiges Projekt. Man wollte aber alles und auf einmal haben. An die Stelle der „gemeinsamen Sache“ traten individuelle Rettungsaktionen. Die Pessimisten zogen es vor, im Ausland zu bleiben, während die Optimisten auf eine „humanitäre Okkupation“ des Vaterlandes durch den Westen hofften.

Der Paradigmenwechsel erfasste nicht nur Historiker oder die intellektuelle Elite des Landes. Das Alte verschwand in Gestalt des auf einmal entwerteten akkumulierten Kapitals – der Ersparnisse, der gesellschaftlichen und kulturellen Werte. Betroffen waren vor allem die Alten, denen plötzlich ihre Überlebensgrundlage entzogen war. Die Reaktion bekamen sowohl die Historiker als auch Gorbatschow persönlich zu spüren. An die Stelle der einstigen Begeisterung traten Kritik und Schadenfreude. An die Stelle der Suche nach Möglichkeiten einer Vervollkommnung der „sozialistischen Wahl“ trat ihre völlige Negation. Im Verlauf dieser Krise wurden die Geschichte und ihre Überlieferung nicht nur radikal transformiert, sondern an den Rand gedrängt, sie wurde ebenso marginalisiert wie eine ganze Generation.

Was bleibt?

Die Generation der Perestroika hat es weder vermocht, ein ganzheitliches Geschichtsbewusstsein herauszubilden noch dessen Dominanz in der sowjetischen Gesellschaft Ende der achtziger Jahre herbeizuführen. Umfragen belegen, dass sie ständig Positionen im Kampf um die Auslegung der sowjetischen Geschichte aufgeben musste. 1990 schätzten 25% der Befragten die Oktoberrevolution als gesetzmäßiges Ergebnis der Entwicklung in Russland ein, über die Hälfte (54,4%) sahen die Ursache für den Zusammenbruch des Sozialismus in den Fehlern der politischen Führung und weniger als ein Drittel (31,6%) sahen die Ursachen für den Zusammenbruch des Sozialismus in seinem Wesen.32 Auf die Frage, was ihnen wichtiger sei, Freiheit oder Sicherheit im Leben, antworteten ein Jahr später 25% der Befragten „Freiheit“, über 54% entschieden sich für Sicherheit.33 Die romantischen Vorstellungen von den „Kommissaren mit ihren staubbedeckten Stahlhelmen“ verblassten, was blieb, war eine Art „spontane linke Haltung“, die Russlands Sonderweg an die kostenlose medizinische Versorgung und die unbeschwerte Arbeit entsprechend den Fähigkeiten band.

Für die heutige Generation, für die der materielle Erfolg im Leben das Entscheidende ist, ist die Geschichte eine der vielen Buden im intellektuellen Vergnügungspark. Und dennoch war die „Arbeit an der Vergangenheit“ in den Perestroikazeiten nicht umsonst, sie hat Spuren hinterlassen. Die Wichtigsten, die heute noch Einfluss auf die intellektuellen Debatten haben, seien im Folgenden skizziert.

An erster Stelle ist die Dominanz der moralischen Komponente in der Einschätzung von Ereignissen und Personen zu nennen, die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit, unabhängig davon, wie man diese letztendlich einschätzt. Alexander N. Jakowlew schrieb in seinen Memoiren, dass die Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressalien das Wichtigste in seinem Leben war. Der Begriff der „Reue“, nach dem gleichnamigen Film von Tengis Abuladse wurde und wird nicht als Anerkennung der individuellen oder kollektiven Schuld für das im Lande vor sich gegangene ausgelegt. Es geht eher darum, dass einer auf Gewalt, Zwang, Korruption und Lüge fußenden Politik die Fähigkeit abgesprochen wurde und wird, den Weg zur Kirche, d.h. den richtigen Weg – sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft – zu finden.

Bei einem derartigen Herangehen werden vor allem jene Auslegungen der russischen Geschichte abgefragt, welche die negativen Erfahrungen Russlands im 20. Jahrhundert herausstellen. Gleich, ob es sich um die Weltrevolution oder um Stalins „Präventivkrieg“ handelt, um die Zahl der Kriegsopfer oder sinnloser Investitionen, um die Mentalität der sowjetischen Nomenklatura oder um die Armseligkeit des homo sowjeticus, im Regelfall wird hier die in den achtziger Jahren akkumulierte Geschichte wie in einem Gruselkabinett verabreicht.

Die Historiker haben es bis heute nicht vermocht, die einmal verlorenen Positionen wieder zu erobern. Albert P. Nenarokow, einer der Vertreter der Perestroika-Generation, schreibt in seinen Memoiren, er sei der festen Überzeugung, dass es genau jene Zeit war, die die Schuld am völligen Desinteresse der Gesellschaft an der eigenen Geschichte trägt. Denn damals trat die Sensation an die Stelle geschichtlicher Tatsachen. Der Wunsch zahlloser Philosophen und Historiker, die „Stalins Schule der Fälschungen“ durchlaufen hatten, „weiße Flecken“ zu tilgen und „schwarze Löcher“ zu füllen, brachte die heute in der Presse und im Fernsehen vorherrschende Oberflächlichkeit und Unprofessionalität hervor. Heute gebe es wieder die Besser- und Alleswisser, die – wie früher – auf alles eine eindeutige Antwort haben. In dieser Hinsicht habe sich fast nichts geändert.34

Heute ist es so, wie zum Ende der Perestroika. Geschichte, die das kollektive Bewusstsein der russischen Gesellschaft bestimmt, schreiben und vermitteln Schriftsteller und Regisseure. Die Sprache der Perestroikaepoche harrt ebenso wie der Prozess der Rückkehr verfemter Personen und Begriffe noch der Erforschung. Ohne die Untersuchung der Sprache der Perestroika wird man nicht die Frage beantworten können, warum die Kommunisten im heutigen Russland als Konservative gelten und die Liberalen dem rechten Lager zugeordnet werden.

Spuren des Geschichtsbewusstseins der Perestroika-Generation sind gegenwärtig noch in der Mentalität und im öffentlichen Diskurs der Gesellschaft sowie in den Handlungen der Vertreter der Staatsmacht nachweisbar. Die Pragmatiker unter den Politikern haben sehr gut verstanden, dass unter Hinweis auf die sowjetische Vergangenheit so gut wie nichts zu holen ist. Jeder Versuch, ein Geschichtsbild vorzustellen, wird das Wahlvolk eher spalten als einen. Das Fehlen einer konsequenten Geschichtspolitik bremst die Herausbildung eines demokratischen Konsens in der russischen Gesellschaft. Das ist jedoch nicht nur von Nachteil. Erinnern wir uns an den gescheiterten Prozess gegen die KPdSU, den in diesem Zusammenhang unternommenen Versuch, die „dunkle Vergangenheit“ zu zeichnen. Die Jelzin-Administration verzichtete auf das Tribunal, weil es nichts eingebracht hätte. Die ernstzunehmende Konfrontation in der Bevölkerung war nicht der Grund, darauf zu verzichten.

Das Fehlen der ständigen Kontrolle von Seiten der Macht gestattet es den Historikern, weitgehend ungestört zu arbeiten und gab den gesellschaftlich aktiven Gruppen der Zivilgesellschaft die Möglichkeit, ihre Erinnerungskultur zu pflegen. Weder einheitliche Lehrbücher noch Lehrprogramme werden die „unvermeidliche Konkurrenz der Erinnerungslandschaften“ von der unlängst auf der Tagung der russisch-deutschen Historikerkonferenz in München die Rede war, aus der Welt schaffen. Die Verweise auf die deutsche Nachkriegserfahrung sind nur zum Teil berechtigt; der heutige Konsens zum „Dritten Reich“ formierte sich ja über Jahrzehnte. Heute haben wir es im geeinten Deutschland mit dem Ergebnis, nicht mit dem Prozess als solchem zu tun. Was den Prozess angeht, so genügt hier der Hinweis auf die Verschwörung des Schweigens in den fünfziger Jahren, auf die Vorwürfe an die Väter Ende der sechziger und an den Historikerstreit in den achtziger Jahren.

Die Herausbildung der politischen Opposition im heutigen Russland – in Gestalt der „kreativen Klasse“ – liefert genau genommen den Beweis, dass ein Interesse an sowjetischer Geschichte von unten wachsen kann. Eine Verklärung jener Aspekte der sowjetischen Vergangenheit, die im Dialog zwischen Enkeln und Großvätern zur Sprache kommen, ist absehbar. Es genügt auf die imperiale Auslegung dieser Vergangenheit hinzuweisen, die sich auf den hochgepriesenen proletarischen Internationalismus aus Sowjetzeiten beruft und derzeit hoch im Kurs steht.

Aus dem Russischen von Wladislaw Hedeler

Anmerkungen

1   Jureit U. Generation, Generationalität, Generationenforschung/. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, URL: https://docupedia.de/zg/Generation?oldid=75515.

2   Berdjaev, N. A.: Istoki i smysl russkogo kommunizma. Мoskva 1990, 101, 113-114.

3   Wildt Michael. Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002.

4   Siehe: Buldakov, V. P. Krasnaja smuta. Priroda i posledstvija revoljucionnogo nasilija. Мoskva 2010.

5   Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück. Vom Nutzen und Nachteil der Historie. In: derselbe, Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. Bd. 1, München 1977, 219.

6   Ar’es, F.: Vremja istorii. Мoskva 2011, 249.

7   Gorbačev, M. S.: Žizn’ i reformy. Т. 1. Мoskva 1995, 314.

8   Zit. nach: Černjaev, A. S.: Sovmestnyj ischod: dnevnik dvuch ėpoch, 1972–1991 gody. Мoskva 2010, 732.

9   Michail Gorbatschow: Umgestaltung und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt. Berlin 1987.

10 Ebd., 26-27.

11 Ebd., 47.

12 Gorbačev, M. S.: Žizn’ i reformy. Т. 1. Мoskva 1995, 379, 381.

13 Černjaev, A. S.: a.a.O., 752.

14 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück. Vom Nutzen und Nachteil der Historie. In: ders., Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. Bd. 1, München 1977, 229.

15 Korovin, E.: Fedot-Gerodot. Pravda. 8.7.1988.

16 Nietzsche, a.a.O., 230.

17 Čečel’, I.: Istoričeskie predstavlenija sovetskogo obščestva ėpochi perestrojki – Obrazy istorio­grafii. Sbornik statej. Мoskva 2000, 223.

18 Gorbačev, M. S.: Žizn’ i reformy. Т. 1. Мoskva 1995, 327.

19 Leonova, L. S.: Istorizm protiv stereotipov. Pravda, 19.7.1988.

20 Korovin, E.: Fedot-Gerodot. Pravda. 8.7. 1988

21 Afanas’ev, Ju. N.: Otvety istorika. Pravda. 26.7.1988.

22 Gefter, M. „Stalin umer včera“. In: Inogo ne dano, 297.

23 Černjaev, A. S.: a.a.O., 739.

24 Michalkov, S.: Dve basni. Pravda, 3.7.1988.

25 http://www.yabloko.ru/Publ/500/500-yavl-vs-110990.html.

26 Gefter, M. „Stalin umer včera“. A.a.O., 305.

27 Jakovlev, A. N.: Sumerki, 374.

28 Černjaev, A. S.: Dvojnoj portret: Brežnev – Gorbačev. Politija. 2012. Nr.3, 61.

29 Siehe: Batkin, L.: Vozobnovlenie istorii. In: Inogo ne dano, 155.

30 Zemskov, I. G. Krach ėpoci. Kniga vtoraja. Gorbačev: brosok čerez propast’. Мoskva 1999, 115.

31 Siehe: M. Majackij: Kurort Evropa. Мoskva 2009.

32 Umfrage in Leningrad. Vgl. Obscestvennaja zizn’ Leningrada v gody perestrojki 1985–1991, 15.

33 Umfrage in Sankt Petersburg. Vgl. Koposov, N. E. Istorija starogo režima. Istorija i politika v Rossii, 116.

34 Nenarokov, A. P. V poiskach žanra. Zapiski archivista s dokumentami, kommentarijami, fotografijami i posvjaščenijami. Kniga pervaja. Vdal’ k načalu. Мoskva 2009, 257-258.

Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL 25 (2014) 4, S. 103-113