Personalwechsel

Im Juni veröffentlichte die Bundesregierung ihr neues „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“. Danach soll die Bundeswehr dem „sich dynamisch verändernden Umfeld“ angepasst werden und zugleich dem „Gestaltungs- und Führungsanspruch“ Deutschlands in NATO und EU entsprechen. Die Bundeswehr soll ein wirksameres Instrument einer neuen deutschen Weltpolitik und Weltgeltung werden.
In dem Weißbuch wird auch an das Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“ erinnert. Im Unterschied zum Kadavergehorsam der Vergangenheit wurde dieses Konzept in den 1950er Jahren von ehemaligen Offizieren der deutschen Wehrmacht entwickelt, die die frühere Praxis kannten. Zu nennen ist insbesondere der spätere Bundeswehr-General Graf von Baudissin, der nach Beendigung seiner Dienstzeit in der Bundeswehr Friedensforscher war. Die neue „innere Führung“ der Streitkräfte sollte sicherstellen, dass auch die Militärangehörigen Inhaber ihrer staatsbürgerlichen Rechte sind, ihre politische Urteilskraft behalten und nur Befehle ausführen, die dem Grundgesetz, der Rechtsstaatlichkeit und dem Völkerrecht entsprechen.
Die Frage nun ist, ob das in der Praxis nach all den Auslandseinsätzen der Bundeswehr seit der deutschen Vereinigung und vor allem nach 15 Jahren Krieg in Afghanistan noch so ist. Aufschlussreich in diesem Kontext ist ein Band mit Texten junger Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, der bereits vor zwei Jahren erschien, jedoch in der Öffentlichkeit praktisch nicht zur Kenntnis genommen wurde. Sie reflektieren ihre Erfahrungen mit „der Truppe“ und den geleisteten Auslandseinsätzen. So betont Marcel Bohnert (zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches im Rang eines Hauptmanns) in einem Vorwort, es sei eine „Generation junger Kampftruppenoffiziere“ herangewachsen. „Sie ist der Bundeswehr in vollem Wissen um die Intensität aktueller Einsätze beigetreten und trifft inzwischen in allen Bereichen der Streitkräfte auf die ‚Generation Einsatz‘ – auslandserfahrene Kameradinnen und Kameraden, die sie an ihrem Erfahrungsschatz teilhaben lassen. Hierdurch konnten sie sich bereits die Bedeutung der Pflicht zur Tapferkeit vergegenwärtigen, die Angehörige der Kampftruppen in besonderer Weise fordert. Sie verlangt die Überwindung der Furcht vor konkreten Gefahren und schließt ein hohes Risiko für das eigene Leben sowie die physische und psychische Gesundheit ein.“
Einige sehen hier ausdrücklich ein Spannungsfeld zum „Staatsbürger in Uniform“. So zitiert Leutnant Florian Rotter den früheren Inspekteur des Heeres, Generalleutnant a.D. Hans-Otto Budde, der bereits 2004 meinte: „Der Staatsbürger in Uniform hat ausgedient […]. Wir brauchen den archaischen Kämpfer und den, der den High-Tech-Krieg führen kann.“ Rotter fügt hinzu, dieses Zitat zeige „den Wandel, dem die Bundeswehr seit dem beginnenden 21. Jahrhundert unterliegt. Sicher wurde Generalleutnant Budde für diesen Ausspruch häufig kritisiert, aber er ist ganz sicher nicht der Einzige, der so denkt.“
Das Hauptproblem sieht Rotter in der Differenz zu „unserer hedonistischen Gesellschaft“. „Der frische Rekrut kommt eher aus einem Umfeld, in dem Selbstverwirklichung, Konsumlust, Pazifismus und ein gewisser Egoismus die Essenz gesellschaftlicher Werte bilden. Das mag für die Gesellschaft nicht zwingend negativ sein, aber eine Armee kann unter diesen Rahmenbedingungen nicht funktionieren. Eine Armee sollte bewusst einen Gegenpol dazu darstellen […].“ Es sei zwar nicht Aufgabe der Armee, das Volk umzuerziehen oder „die Gesellschaft grundlegend zu verändern“. Zum Soldatsein jedoch gehörten Werte wie Mut, Treue und Ehre. Es brauche einen „Stolz, für Werte und Grundsätze einzutreten, welche einen permanenten Gegenpol zu unserer Gesellschaft bilden“.
Das Problem der „postheroischen Gesellschaft als Herausforderung“ für das Militär greift Jan-Philipp Birkhoff noch zugespitzter auf. Nach zwei Weltkriegen sei die deutsche Gesellschaft „in weite geistige Distanz zu einer ideologischen Erhöhung von Patriotismus und Opferbereitschaft getreten. Wo frühe Vorgänger der bundesdeutschen Gesellschaft die Verehrung des Opfers im Namen des Vaterlandes, dem Sacrificium, als zentrale Quelle sozialen Zusammenhalts praktizierten, ist heutzutage eine sehr misstrauische Haltung gegenüber jedem kriegerischen Altruismus zu beobachten. Es findet eine Entzauberung des Helden an sich statt, welche auch eine fehlende Akzeptanz militärischer Verluste mit sich trägt. Diese werden nicht mehr als heroische Opfer, als Märtyrer sozusagen, betrachtet, sondern als tragische Opfer, als Victima.“ Das wiederum habe Folgen für den Erfolg militärischer Operationen. „Denn während in einer parallelen Gesellschaft wie der Bundeswehr mit ihren eigenen Werten und Normen der Verlust von Kameradenleben zwar als schlimm, aber nicht als grundsätzlich den Auftrag gefährdend betrachtet wird, werden Tote von ziviler Seite immer stärker als Symptome oder Signale eines Scheiterns aufgenommen. Der Rückhalt für den Auftrag schwindet […] Hier greift ein verhängnisvoller Teufelskreis in den Ablauf ein: Durch Tote sinkt die politische Unterstützung, gleichzeitig schwächt dies die Kampfmoral der Truppe, woraus gemäß dem Satz der Erhaltung der Kampfkraft auch diese schwindet. Mit schwindender Kampfkraft ist auch die Operationsfähigkeit vor allem im Angriff eingeschränkt. Dies führt unweigerlich zur Stärkung der Kampfkraft des Gegners, was wiederum die Gefahr von Eigenverlusten erhöht.“ Daraus folgert er, dass in der postheroischen Gesellschaft Aspekte des Krieges, ja der Krieg „nicht mehr akzeptiert werden. Das rührt teils aus einer grundsätzlich dekadenten Haltung […], teils aus einem Misstrauen gegenüber öffentlichem Altruismus. Der Krieg und damit auch die Konflikte, in welche die Bundeswehr verstrickt ist, sind jedoch alles andere als angepasst an diese Veränderung der Gesellschaft.“
Als Ausweg diskutiert Birkhoff „Professionalisierung statt Politisierung“. Sein Fazit lautet: „Die postheroische Gesellschaft mag uns mit Schwierigkeiten konfrontieren, die andere Generationen nicht hatten. Die aktuelle Situation ist mit Sicherheit eine Herausforderung und manchmal mögen Geist und Körper ermüdet sein und sich nach der verdienten Anerkennung sehnen. Ihr Ausbleiben ist nur eine weitere Prüfung unserer Entschlossenheit. Und diese Prüfungen machen uns stark.“
Diese jungen Offiziere betrachten ihr Soldatsein als einen „permanenten Gegenpol“ zur realexistierenden Gesellschaft, in dem ein eigener Wertekanon gilt, sie sehen die Bundeswehr als „parallele Gesellschaft“. Zugleich wird die (zivile) Mehrheitsgesellschaft als „dekadent“ wahrgenommen, der gegenüber man sich überlegen fühlt. Die fehlende „verdiente Anerkennung“ wird als weitere Prüfung angesehen. Man ist prospektiver „Held“ und steht als solcher jenseits des Misstrauens der Dekadenten.
Diese Tendenz hat sich offensichtlich mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr ausgeprägt und mit der faktischen Abschaffung des Wehrdienstes weiter verstärkt. Indem das Weißbuch die Erhöhung der Kampfkraft als das eigentliche Ziel bestimmt hat, wird diese Parallelgesellschaft immer mehr zur Bedingung der Zielerreichung. Das steht bisher nicht im Fokus der öffentlichen Debatten um Bundeswehr und Weißbuch. Es wäre aber dringend nötig. Bei der Auswahl von Offizieren für Führungsverwendungen sind die speziellen Erfahrungen bei Auslandseinsätzen kein ausdrückliches Kriterium. Faktisch jedoch rücken zunehmend Offiziere in die höheren Positionen ein, die derartige Erfahrungen mitbringen. Damit wird sich die Armee noch weiter im Sinne einer Professionalisierung entwickeln, die immer mehr mit dem „archaischen Kämpfer“ und immer weniger mit dem „Staatsbürger in Uniform“ zu tun hat. In der Bundeswehr versammelt sich heute ein anderes Personal, als es Graf Baudissin vorschwebte.

Marcel Bohnert / Lukas J. Reitstetter (Herausgeber): Armee im Aufbruch. Zur Gedankenwelt junger Offiziere in den Kampftruppen der Bundeswehr, Carola Hartmann Miles-Verlag Berlin 2014, 280 Seiten, 24,80 Euro (Taschenbuch-Ausgabe).