Die nordostdeutsche Lektion

„Wenn die Welt untergeht, sollte man nach Mecklenburg gehen, da passiert alles 100 Jahre später.“ Otto von Bismarck irrte: Zumindest in der Landespolitik ist Mecklenburg-Vorpommern up to date – seit dem 4. September 2016 besitzt es als zweites Bundesland einen Landtag, in dem die AfD die zweitstärkste Fraktion stellt. Mit 20,8 Prozent der Wählerstimmen verwies sie die CDU auf den dritten Platz. In Sachsen-Anhalt platzierte sie sich am 13. März mit 24,3 Prozent genau acht Prozentpunkte vor der LINKEN. Die SPD landete dort abgeschlagen auf Platz vier. Auch im Musterländle Baden-Württemberg schob sich die neue Rechtspartei vor die Sozialdemokraten: Mit 15,1 Prozent Stimmen erzielte sie Platz drei.
Es ist also Unsinn, der MV-Wahl einen besonders herausgehobenen Stellenwert verpassen zu wollen. Der bundesweite Dammbruch passierte am 13. März. Mecklenburg-Vorpommern bestätigt lediglich einen Trend. Auch wenn der für das politisches System der Bundesrepublik desaströs ist und deren „politische Klasse“ scheinbar immer noch nicht begreift, was die Stunde geschlagen hat.
Wenn von links nun gejubelt wird, dass es wenigstens gelang, die NPD aus dem Landtag herauszuhalten, dann ist das kein Verdienst der Demokraten. Es scheint wie ein Stück Realsatire, wenn ein verzweifelter Udo Pastörs im ARD-Magazin „panorama“ dem AfD-Frontmann Bernd Höcke vorwirft, dass „der mit seinen Reden irgendwo am rechten Rand“ abfische. Aber kaum jemand hat deutlicher beschrieben, was da jetzt in den Schweriner Landtag einziehen wird, als der dortige NPD-Chef Pastörs: „Die nehmen eins zu eins das, was wir seit Jahrzehnten fordern, und sind damit offensichtlich erfolgreich. Die AfD ist eine Kopie der NPD.“
Aber sie kommt biedermännisch daher. Ihre neuen Landtagsabgeordneten sind Bürokauffrau, IT-Fachleute, Angestellte, Polizeibeamter, Historiker, Unternehmer, Rechtsanwälte, Handwerker, Familienrichter, Naturwissenschaftler. Das sind nicht mehr die glatzköpfigen Schlagetoteriche des „braunen Randes“. Man muss genauer hinsehen. Der Greifswalder Abgeordnete Ralph Weber ist an der dortigen Universität als Jura-Professor tätig. Gelegentlich soll er in „Thor Steinar“-Klamotten durch die Gegend laufen. Er lässt schon mal „Reichsbürger“ in seinen Lehrveranstaltungen auftreten und ist Förderer der rechten Burschenschaft „Rugia“. Außerdem kämpft er gegen die „Umvolkung“ der Deutschen. Damit ist er – Pastörs hat Recht – sehr nah bei der praktizierten Politik der NPD. Die betreibt 2012 eine Kampagne „Deutsche Kinder braucht das Land – Volkstod stoppen“ und hat nach Recherchen des Vereins „Lola für Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern e.V.“ durchaus erfolgreich völkischen Ideen Boden aufbereitet. Das Wahlkampf-Schlagwort „Merkels Flüchtlingspolitik“ ist für die Rechts-Wähler keine technizistische Frage des „Wie schafft man das?“ – sie wollen gar keine Fremden im Land zwischen Kreidefelsen und Elbe. Allenfalls als zahlende Touristen möglichst „deutscher Herkunftssprache“. Bei insgesamt fast einem Viertel der Wählerstimmen kann von „Rand“ auch bei der AfD-Anhängerschaft keine Rede mehr sein.
Und die LINKEN? Die waren und sind inzwischen vielerorts nicht häufiger anzutreffen als ein Streifenwagen der Landespolizei. Zwischen 2007 und 2015 verlor die Partei ein Drittel ihrer Mitglieder. Vor einem knappen Jahr zählte der Landesvorstand noch knapp 4.100 Genossinnen und Genossen – angesichts der dramatisch wachsenden Überalterung und der Konzentration in den größeren Städten ist es inzwischen um die Mobilisierungsfähigkeit der Parteibasis in der Fläche schlecht bestellt. Aber nicht nur der demographische Faktor macht der Partei zu schaffen. Nachdem man sich 2006 aus der Regierung verabschieden musste, entbrannte auch in Mecklenburg-Vorpommern ein heftiger Streit um die linke Gretchenfrage „Regieren – Ja oder Nein?“ Als ob das nicht genug war, zerlegte man sich in Sachen Kreisgebietsreform. Wie auch immer man diese teils recht unappetitlichen Auseinandersetzungen bewertet: Im Ergebnis konnte die von Ex-Vizeministerpräsident Helmut Holter und Landesvorsitzender Heidrun Bluhm geführte Phalanx der „Regierungssozialisten“ das Feld behaupten. Kritiker des Holterschen Kurses, so auch die ehemalige Stralsunder Kreisvorsitzende und letzte rot-rote Sozialministerin Marianne Linke, verloren ihre Posten und zogen sich grollend zurück. Apropos Stralsund: Hier ist – oder war? – die Merkel-Hochburg. Gewonnen hat den Wahlkreis Stralsund II (das ist die Hansestadt) die CDU-Kandidatin mit 22,2 Prozent. Ihr Vorsprung zur AfD-Konkurrenz beträgt satte 0,3 Prozent … DIE LINKE landete bei 12,3. Diese Relationen finden sich auch auf der Insel Rügen. Hier war die LINKEN-Politikerin Kerstin Kassner von 2001 bis 2011 eine durchaus populäre Landrätin, eine der wenigen Politikerinnen dieser Partei mit einem solchen Amte. Kassner verlor dieses im Zuge der erwähnten „Kreisgebietsreform“ – Nordvorpommern, Rügen und Stralsund wurden zusammengelegt – knapp gegen einen CDU-Konkurrenten.
Verlorengegangener kommunalpolitischer Einfluss fällt der „Kümmererpartei“ immer auf die Füße: Auf Rügen büßte DIE LINKE in beiden Wahlkreisen bei den Zweitstimmen jeweils über acht Prozent ein und belegt dort inzwischen den vierten Platz in der Parteienpräferenz der Wählerinnen und Wähler.
Geradezu skurril mutet angesichts dieser Faktenlage das Verhalten der Schweriner LINKEN-Landesspitze um Helmut Holter an. Bereits am Tag nach dem Wahldesaster der Partei erklärte er in Berlin, „wir haben beschlossen, dass wir für eine Regierungsbeteiligung zur Verfügung stehen“. Wir? „Rot-Rot“ hätte im Landtag eine Mehrheit von zwei Stimmen. Rechnerisch ginge das. Politisch wäre es der letzte Schritt in die Bedeutungslosigkeit. Tom Strohschneider zitierte in neues deutschland den Rostocker Sozialsenator Steffen Bockhahn – der durchaus um den politischen Wert von Regierungsbeteiligungen weiß: „Der Laden ist runter und nicht regierungsfähig. Wir müssen neu anfangen und das macht man nicht in Regierung.“
Schwierig wird die Entscheidung für den norddeutschen Landesverband durch den sanften politischen Druck, der aus Berlin ausgeübt wird. Hier überlagern rot-rot-grüne Träumereien für den Bund nach den Wahlen 2017 zunehmend jeden sachlichen Blick auf die Landstriche jenseits des Berliner Autobahnringes. Selbst Parteichef Bernd Riexinger schwadronierte etwas von „Politikwechsel mit der LINKEN“. Wenige Stunden nach der Wahl äußerten bereits Gregor Gysi und der Berliner LINKEN-Vorsitzende Klaus Lederer – der muss am 18. September zittern, dann wählt Berlin –, dass es „höchste Zeit“ sei, „dass etwas gegen die um sich greifende Verunsicherung und Hoffnungslosigkeit vieler Menschen unternommen“ werde. Man müsse „eine dem Rechtspopulismus entgegengesetzte Dynamik“ entfachen, „die die progressive Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Zustände – hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, Demokratie und Solidarität – wieder in das gesellschaftliche Zentrum rückt“. Wie das konkret zu verstehen ist, sagten die beiden Verbalmatadore nicht. Sie wissen es auch nicht.
Die Themen, mit denen die Rechten punkteten, die sind allerdings nach wie vor in der LINKEN tabu gestellt. Man räumt zwar das Vorhandensein von Ängsten bei vielen Menschen ein. Aber erstens seien die irrational und man wolle nicht die Themen der Rechten bedienen, und zweitens wolle man nicht um die Anhängerschaft der AfD ringen, sondern die eigene zur Wahl bewegen. Was nicht sein darf, das nicht sein kann … „Eine progressive Politik im Nordosten wäre die beste Antwort auf den Rechtsruck“, sekundierte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow Helmut Holters Ambitionen. Dabei übersah Ramelow geflissentlich, dass auch seine eigene Politik – glücklicherweise hat er noch zwei Jahre Zeit dazu – zu hinterfragen ist. In den aktuellen Umfragen liegt die AfD in Thüringen (2014 erzielte sie 10,6 Prozent, die SPD kam auf 12,4) inzwischen bei durchschnittlich 18 Prozent. Bodo Ramelows Kabinett hätte bei Wahlen zum jetzigen Zeitpunkt keine Mehrheit mehr und wäre auf eine Tolerierung durch die CDU angewiesen – wenn die tatsächlich bei ihrer Absage an jede Zusammenarbeit mit der Höcke-Petry-Truppe bliebe. Aber vielleicht erspart Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) den nordostdeutschen Linken den Schierlingsbecher: Bei einer Fortsetzung der Koalition mit der derzeit handzahmen CDU verfügte er über eine komfortable Mehrheit von 42 Sitzen im Landtag.
DIE LINKE sollte weniger von Partizipation und neuen Demokratiemodellen schwätzen – das Volk hat am 6. September deutlich gesprochen – und stattdessen ein wenig genauer zuhören, wie der „Souverän“ die Partei im Alltag erlebt: „[…] die haben früher irgendwie mehr gemacht, die müssen aktiver werden.“ So zitierte zwei Tage nach der Wahl das neue deutschland einen Schweriner Bürger.
Fritz Reuter formulierte um 1860 den unveränderlichen ersten mecklenburgischen Verfassungsgrundsatz: „Allens bliwwt bi’n Ollen.“ Eben nicht.