Brasilianische »Laudatio sí«

Kommentar

In Mexiko seufzen sie gern »zu weit von Gott, zu nah an den USA«. Ganz anders in Brasilien: Dort frohlockte man in den 2000er Jahren links wie rechts ungeniert »Gott ist Brasilianer«. Zurück geht das Bonmot auf den Präsident gewordenen Gewerkschafter Inácio »Lula« da Silva. Die gewaltigen Ölfunde vor der Küste ließen 2007 nicht nur die geschätzten Vorkommen des Landes anschwellen, auch das nationale Ego ging durch die Decke. Internationalismus hin oder her, im Konzert der ganz Großen mitzuspielen sei bei allen natürlichen und humanen Ressourcen einfach unvermeidlich und, nun ja, höheren Kräften geschuldet.

Doch daran, dass Gott ein männlicher Brasilianer sei, kamen nicht erst Zweifel auf, als 2013 ein Argentinier Papst wurde. Sicher, der Weltmarkt meinte es lange Zeit gut mit dem Land. Hohe Preise für die Rohstoffpalette rund um Rohöl, Eisenerz und Soja machten über Jahre eine besondere Umverteilungspolitik möglich: Die Bedürftigen erhielten staatliche Sozialleistungen und die gut Betuchten eine stattliche Rendite. Das Problem war nur, dass die Arbeiterpartei (PT) es bis 2010 auch nach acht Jahren »progressiven Regierens« nicht geschafft hatte, den Burgfrieden mit den Kapitalisten für einen dauerhaften Umbau der »Casa Grande« zu nutzten.

Doch gab es diesen Plan überhaupt? Weder unter Lula noch unter Dilma Rousseff ließ sich die PT-Regierung auf Ideen wie Postwachstum, Postextraktivismus oder andere alternative Entwicklungsideen ein. Rousseff verteidigt bis heute Megaprojekte wie den Staudamm Belo Monte als »grandioses Werk«, das die Energiesicherheit ihres Landes garantiere. »Ihr Land«, das ist jenes Brasilien, das in 50 Jahren drei mal mehr Energie für seine Monokulturen und Minen brauchen wird als heute – eine Vision, für die heute Indigene von ihren Territorien vertrieben und zig Hektar Regenwald geflutet werden. Ob das mit der Bewahrung der Schöpfung zu vereinbaren ist?

Rousseff wird nicht ernsthaft beanspruchen, die Stellvertreterin des Heilands zu sein – im laufenden Amtsenthebungsverfahren wäre sie schon zufrieden, den Präsidentinnensessel zurückzuerobern. Aber beachtlich ist, dass der andere Stellvertreter, also Franziskus, spätestens seit seiner Verlautbarung »Laudatio si« im vergangenen Jahr zu einem glaubwürdigeren Kapitalismuskritiker und Klimaschützer geworden ist als die ehemalige Guerillera Rousseff. Wenn Franziskus das »aktuelle weltweite System« kritisiert, in dem »Spekulation und ein Streben nach finanziellem Erfolg vorherrschen«, die die Menschenwürde und die Umwelt ignorierten, dann klingt das gehaltvoller als Rousseffs vage Versprechen, unter der PT würde Brasilien auch in Zukunft »wieder wachsen«.

Angesichts dieser Visionen drängt sich die Frage auf, ob in Brasilien in naher Zukunft wieder mit einer Regierung links vom Vatikan zu rechnen ist. Die Wahrscheinlichkeit ist gering. Vorgezogene Neuwahlen hin oder her: In eine Stichwahl dürften es derzeit wohl nur die konservative PSDB, die mafiöse PMDB, die opportunistische REDE oder die versteinerte PT schaffen. Dem wahrscheinlichen Spitzenkandidaten Lula würde dann der Versuch zukommen, erneut ein versöhnliches Bündnis zwischen Eliten, AufsteigerInnen und Abgehängten zu schmieden und dafür im Kongress eine stabile Mehrheit zu finden. Eine linke Erneuerung wäre das nicht, sondern im besten Fall die Fortsetzung einer Realpolitik, die sich hinter kapitalistischen Sachzwängen versteckt. Von Rechts könnte sie mit dem Kalkül getragen werden, dass Sozialabbau und Austeritätspolitik unter einer nominal linken Regierung etwas einfacher zu haben sind.

Angesichts dieses Schreckensszenarios bleibt zu hoffen, dass die in Splitterparteien organisierten PT-DissidentInnen, die sozialen Bewegungen und die Basisorganisationen sich zusammenfinden, um ein neues linkes Bündnis zu schmieden. Sowohl die linke Partei P-SOL als auch die neu gegründete Raiz haben es bisher jedoch nicht geschafft, bei Wahlen oder Umfragen jenseits der Fünf-Prozent-Marke zu punkten. Und es ist fraglich, ob sich die Basisorganisationen wirklich von der desolaten PT emanzipieren. Derzeit drängen viele staatliche Funktionäre, die unter der rechten Interimsregierung in den letzten Wochen ihren Job verloren haben, zurück in jene sozialen Bewegungen und NGOs, von denen sie einst zum Mitregieren aufgebrochen waren. Ob diese RückkehrerInnen tatsächlich an tiefgreifendem Wandel interessiert sind, wird sich zeigen. Schön wäre es, um endlich mal wieder eine Laudatio auf die brasilianische Linke anstimmen zu können.

 

Nils Brock ist Journalist in Rio de Janeiro und berät als Fachkraft für Brot für die Welt unabhängige Radios in Brasilien.