Inszenierte Partystimmung

Eine Exkursion in die Olympiastadt Rio de Janeiro

Rio de Janeiro nutzt die Olympischen Spiele, um grundlegende stadtpolitische Weichenstellungen durchzuführen. Die Stadt tut alles für ihren Auftritt als touristisch attraktive Megacity. In dem hier präsentierten Reisetagebuch geht es um Begegnungen mit Menschen, die sich gegen die damit einhergehende Vertreibung zur Wehr setzen.

Wir stehen auf dem Morro da Urca, dem weniger prominenten Berg mit der Seilbahn-Mittelstation, über den man zum Zuckerhut hinauffährt. Ein klassisches Touristenziel in Rio de Janeiro. Die Aussicht erstreckt sich über die Bucht von Guanabara, die wegen ihrer starken Verschmutzung die Medien beschäftigt. Sie ist der Austragungsort für die Segel- und Ruderwettkämpfe bei den Olympischen Sommerspielen 2016. Etwa achtzig Prozent der städtischen Abwässer flossen bisher ungereinigt in die Bucht, voller Müll aus Flüssen und Kanälen. Alles in unmittelbarer Nähe zu acht Millionen Menschen, die um die Bucht herum wohnen.

Vom Morro da Urca aus zu sehen sind Segelboote und große Tanker, Erdölplattformen und schmieriger Schaum auf dem Wasser. Das städtische Panorama dahinter umfasst die typischen Hochhäuser einer Metropole. Sie erstrecken sich entlang der Küstenlinie mit den berühmten Stränden. Einige wenige Favelas kriechen die grünen Hügel hinauf. Auf den ersten Blick wirkt die Stadtansicht der Megametropole mit ihren schätzungsweise über 12 Millionen EinwohnerInnen ästhetisch ansprechend: Bewaldete und urbane Flächen wechseln sich ab, horizontale Küstenlinien, Wasserflächen und vertikale Hügel bieten dem touristischen Auge Abwechslung und Ausblick auf bekannte Markenzeichen wie die Christusstatue auf dem Corcovado.

Menschen werden unsichtbar gemacht

»Was sehen wir von Rio de Janeiro? Und was sehen wir nicht, weil es verdeckt ist oder sogar bewusst unsichtbar gemacht wird?« So lautet die Einstiegsfrage an die Gruppe von Geographie-Studierenden aus Bayreuth und Hamburg, die ich mit ihren Dozenten Tobias Schmitt und Jan Hutta auf eine postkoloniale Brasilienexkursion begleite. Schon an dieser ersten Station wird mir bewusst, was ich hier bei meinem letzten Rio-Besuch vor vielen Jahren nicht wahrgenommen habe: Die Stadt ist zigmal größer als das, was das Auge erfasst. Ein Teil ihrer Strände ist nicht natürlich gewachsen, sondern wurde geformt. Jenseits der Hügel erstreckt sich die Peripherie von Rio mit Quartieren wie Cosmos oder Campo Grande, die vom Zuckerhut aus nicht zu sehen sind. In den folgenden Tagen lerne ich Menschen und Orte kennen, die nicht auf den ersten Blick wahrzunehmen sind oder die sich gegen die Unsichtbarmachung in ihrer Stadt zur Wehr setzen.

Vorbei am Maracanã-Stadion und der Favela Maré fahren wir von der Kernstadt nach Nordosten in die Peripherie von Rio de Janeiro. In Campo Grande treffen wir Glauce, eine brasilianische Geographiestudentin. Sie lebt in der Zona Oeste im Westen der Stadt und braucht mit öffentlichen Verkehrsmitteln eine Stunde bis zur Uni und zwei Stunden bis ins Zentrum. »Die Olympiade wird den Tourismus weiter ankurbeln und der Stadt Devisen einbringen. Für die BewohnerInnen von Rio bringt sie erneut höhere Lebenshaltungskosten mit sich und hat keine positiven Effekte«, prognostiziert die junge Frau. Die neuen Verkehrsmittel wie das Schnellbussystem BRT, das auf 26 Kilometer separaten Trassen fährt, und die verlängerte Metrolinie 4 sind kostspielig und ihre Nutzung für viele nicht erschwinglich. Ihr Streckenverlauf bedient vor allem touristisch attraktive Orte. Ein Großteil der Bevölkerung ist weiterhin auf die überfüllten Busse angewiesen, die zusammen mit dem Individualverkehr die Straßen verstopfen und zu Stoßzeiten lange Staus bilden.

2013 hatte der Unmut über Preissteigerungen im öffentlichen Nahverkehr in vielen großen Städten Brasiliens zu Aufsehen erregenden Massenprotesten geführt. Eine zentrale Frage in Rio dabei war: Dient der öffentliche Nahverkehr allen? Beim Zustieg in bestimmte Buslinien findet vor allem am Wochenende regelmäßig eine rassistische Auslese durch die Polizei statt. Gruppen von jungen Männern mit dunkler Hautfarbe aus dem ärmeren Norden der Stadt werden selektiv aus den Bussen geholt. Ihr Ziel sind die Strände Copacabana, Ipanema, Leblon und Barra da Tijuca in der wohlhabenden Südzone von Rio de Janeiro. Die Polizei unterstellt ihnen Gewaltbereitschaft und kriminelles Potential und hindert sie an der Nutzung der Busse.

Im Gegenzug facht dieses Verhalten der Polizei die Empörung der stigmatisierten Jugend aus der Zona Norte weiter an. Es kommt im Bereich der Strände immer wieder zu Tumulten und Schlägereien mit Polizei und privaten Sicherheitskräften. Die Frage, ob öffentlicher Raum wie der Strand nur einer bestimmten Gesellschaftsschicht vorbehalten sein darf, hat die Stadtverwaltung mit einem neuen Ordnungs- und Sicherheitskonzept gegen junge schwarze Männer beantwortet.

Verdrängung an die Ränder …

Wir erreichen das Bairro Cosmos, wo wir eine neue Wohnsiedlung des staatlichen Programms für sozialen Wohnungsbau besuchen. Über drei Millionen Wohnungen wurden landesweit über das Programm Minha Casa minha vida (mein Haus, mein Leben) gebaut. Hinter einer Mauer steht ein Komplex mit neuen Mehrfamilienhäusern. In das bewachte Gelände dürfen wir nicht hinein. Die Regierung propagiert es als größtes Sozial- und Armutsbekämpfungsprogramm neben dem sozialen Umverteilungsprogramm Bolsa familia. Es dient einerseits der staatlichen Konjunkturförderung für die Baubranche und soll andererseits die Umsiedlungen abfedern, die wieder auf der Tagesordnung stehen.

»Für jede AthletIn, die zu den olympischen Wettkämpfen nach Rio de Janeiro kommt, muss eine BewohnerIn ihr Haus wegen des städtischen Umbaus für die Olympiade aufgeben. Wegen der Spiele werden 65.000 Personen zwangsweise umgesiedelt«, schätzt Sandra Quintela vom Politik-Institut PACS die Situation ein. Es sei schwierig, die Vertriebenen zu unterstützen, selbst Straßensozialarbeit sei derzeit großer Repression ausgesetzt. Die MitarbeiterInnen von PACS begleiten die städtische Umstrukturierung, die unter dem Deckmantel von sportlichen Großereignissen geschieht, seit vielen Jahren kritisch. Sie arbeiten eng mit dem WM- und Olympia-Basiskomitee zusammen, das bereits die Stadtentwicklung rund um die Fußball-WM 2014 dokumentiert und kritisiert hat und nun erneut Protest und Kampagnen zusammenführt.

Für BewohnerInnen ohne regelmäßiges Einkommen, die aus einer informellen Siedlung vertrieben wurden, stellt die Finanzierung der 400 Euro hohen Miete für eine möblierte 43-Quadratmeterwohnung ein großes Problem dar. Das erläutert uns Estér Gomila, die darüber ihre Masterarbeit geschrieben hat. Häufig kommt es zu Überschuldung oder zum illegalen Weiterverkauf der Wohnungen. Auch entspricht der klassische Vier-Personen-Zuschnitt der Wohnungen nicht der üblichen Lebensform in der Favela, weil dort Patchwork-Modelle und der Zuzug von Verwandten flexible architektonische Lösungen benötigen. Die soziale und politische Aufsplitterung von Communities führt zudem zu Integrationsproblemen am neuen Wohnort. Die bereits vor Ort lebende Bevölkerung steht Neuankömmlingen häufig misstrauisch gegenüber, schließlich konkurrieren beide Gruppen bisweilen um den neuen Wohnraum, der nach Einkommensgruppen gestaffelt vergeben wird. Immer wieder etablieren sich im Schatten der Pazifizierungspolitik private Sicherheitskräfte und Milizen aus ehemaligen Polizisten und Soldaten. Hier wird Sicherheit als Ware gegen Schutzgelder verkauft.

… durch Räumungen im Zentrum

Die Schulversorgung in solchen Vierteln ist nur am Vormittag gewährleistet, es gibt keine Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche. Für Erwerbstätige sind zwei Stunden Fahrt zum Arbeitsplatz keine Seltenheit. Viele Leute bleiben die Woche über in der Stadt, wenn sie dort einen Schlafplatz haben. Selbst eine Übernachtung auf der Straße wird in Kauf genommen. Dennoch ist der Ansturm auf die Sozialwohnungen in der Peripherie riesig. Von 20.000 registrierten Wohnungssuchenden kamen in den neuen Komplexen vom Bairro Cosmos indes nur gut 1.400 zum Zuge.                 

Die Verdrängung von sozialen Gruppen mit geringem Einkommen an den Stadtrand intensiviert sich immer mehr. Informelle Siedlungen wie Favelas werden über diese Politik einerseits aus dem Zentrum und damit aus der Sichtbarkeit entfernt. Die verbleibenden zentral gelegenen Favelas werden militärisch »befriedet« und langfristig der Kontrolle durch die Polizei unterstellt. Damit werden sie aufgewertet und sowohl für TouristInnen als auch für den Immobilienmarkt interessant. Viele Favelas an den Hügeln stellen potentiell attraktive Wohnlagen dar oder lassen sich als touristische Attraktion vermarkten. Bei den damit verbundenen Gentrifizierungsprozessen haben die ursprünglichen BewohnerInnen häufig das Nachsehen.

Der städtebauliche Trend, eine Stadt zu einem Markenprodukt für TouristInnen oder InvestorInnen umzuformen, zeigt sich in Rio de Janeiro deutlich. Durch sportliche Großereignisse wie die Fußball-WM und Olympia wird er zusätzlich befeuert. In öffentlichen Verkehrsmitteln wird über Videos eine Propaganda über die Modernisierung und den Ausbau der Stadt verbreitet, der man sich kaum entziehen kann. Die üblichen Klischees werden verarbeitet: Ein freundlicher Polizist gibt einem schwarzen Jungen seinen Drachen zurück. Anzugträger jubeln, als Brasilien für die Austragung der Olympischen Spiele ausgewählt wird. Neue Züge sind das schnelle und moderne Beförderungsmittel der Zukunft. Ein Auto fährt auf einer leeren, neu asphaltierten Straße. ArbeiterInnen lächeln in die Kamera und präsentieren Baufortschritte. Überall herrscht Partystimmung, sei es bei Capoeira, Fußball und Tanz am Strand, so wie auch bei TouristInnen, die sich durch die Favela führen lassen oder aus der Seilbahn den freundlichen Polizeitruppen zuwinken. Rio inszeniert sich als die attraktive Festivalstadt des neuen Global Players Brasilien. Soziale Disparitäten, Gewalt, Korruption, Rassismus, Diskriminierung und Rechtlosigkeit – all das kommt in der Botschaft nicht vor.

Gut sechs Milliarden Euro waren für die Infrastruktur der Olympiade eingeplant. Dieses Geld fließt vor allem den fünf führenden Bauunternehmen Odebrecht, Andrade Gutierrez, Camargo Corrêa, OAS, Queiroz und Galvao zu, die bereits bei den Bauten für die WM profitiert haben. Die Aufträge umfassen neben dem Ausbau von Metro- und Schnellbusnetz eine Straßenbahn mit 28 Kilometern Schienen, die vor allem im »revitalisierten« Hafengebiet eingesetzt werden soll. Der neue Hafenkomplex Porto Maravilha ist ein weiteres Beispiel für eine Stadtpolitik, die städtischen Vorbildern wie London, Berlin oder Hamburg und einer Vermarktungslogik folgt. Charakteristisch für die Pläne sind die Privatisierung der Projekte, eine überwiegend touristische Zielgruppe sowie die Dominanz von Banken, Einkaufs- und Kongresszentren. Moderne Kunst und ein Zukunftsmuseum säumen ein großzügiges Gelände, das mit dem Potsdamer Platz in Berlin verglichen wird. Gezielt wurden einige Sportveranstaltungen des Olympia-Programms in die Hafenzone verlegt, um deren Umgestaltung zu rechtfertigen. Die Stadt hat dort ein aufwändiges BesucherInnenzentrum errichtet, das über den Wandel des Hafens und der Stadt informiert.

Die BewohnerInnen von Rios ältester Favela Morro da Providência sind derweil mit Plänen zum Abriss von über einem Drittel der 2.000 Wohnhäuser konfrontiert, ohne dass Mitsprache vorgesehen ist. Ein Zugang zur Hafenzone ist durch das nördlich angrenzende Bairro Caju mit seinen 20.000 BewohnerInnen geplant. Hier drohen weitere Zwangsumsiedlungen, für die die Stadt das gängige Argument benutzt, der Ortsteil befinde sich auf einem für Wohnungsbau gefährdeten Terrain. Der Stadt kommt durch solche Gentrifizierungsprozesse ihre Vielfalt und Lebendigkeit abhanden. Die geschichtliche Bedeutung, die der Hafen zur Zeit der Sklaverei in Brasilien hatte, wird ausgeblendet oder für die Steigerung kultureller Attraktivität memoralisiert. Der Verlust von nichtkommerzieller Kreativität, informeller Ökonomie und gesellschaftlicher Vielfalt werden nicht einmal mehr wahrgenommen.

Widerstand gegen das Unrecht

Symbolhaft für den Widerstand gegen den Olympia-Megacity-Wahn steht die Vila Autódromo im Stadtteil Barra da Tijuca. Für die Olympia-PlanerInnen und Immobilienhaie liegt sie ungünstig. Als wir neben der Baustelle von Olympiapark und Olympischem Dorf aus dem Bus steigen, begrüßt uns Maria Penha, eine kleine drahtige Frau. Sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Es lebe die Vila Autódromo – Rio ohne Zwangsumsiedlungen«. Hinter einem Bauzaun wächst ein Hochhaus aus der Baustelle, das während der Sommerspiele JournalistInnen beherbergen soll. Auf dem Bauzaun steht: »Die Olympiade geht – das Unrecht bleibt!«

Maria Penha führt uns durch einen Ort, der an einen Bürgerkriegsschauplatz erinnert. Häuser mit Löchern und Bauschutt dominieren das Bild. Keine Straße verfügt mehr über eine lückenlose Bebauung. Jedes Haus, das nicht mehr bewohnt wird, wird von der Stadtverwaltung sofort abgerissen. Obwohl es ein hundertjähriges Bleiberecht gibt, versucht die Stadt, die BewohnerInnen zum Umzug zu bewegen: Mit Geld, mit Versprechungen, mit einer Neubausiedlung an einem anderen Ort, mit Drohungen, mit Übergriffen durch die Polizei. Bürgermeister Eduardo Paes hat in Interviews deutlich gemacht, dass er die Verschärfung der innerstädtischen Segregation rücksichtslos vorantreiben wird: »Man kann schließlich kein Omelett machen, ohne Eier zu zerbrechen.«

Von über 500 Familien sind 388 bereits vertrieben worden oder gegangen. 192 Familien harren aus, obwohl ihr Umfeld demoralisierend wirkt. Maria Penhas Familie gehört dazu. Sie erzählt von dem funktionierenden Gemeinwesen und den sozialen Kontakten, die über Jahre gewachsen sind. Für viele Errungenschaften haben sie gemeinsam gekämpft: Die Strom- und Wasserversorgung, die Anbindung an die Müllabfuhr, eine Bushaltestelle, einen Fußballplatz. Auch als wir da sind, tagt eine Ortsversammlung. Schon länger laufen die Verdrängungsattacken auf die Siedlung. Gute Beziehungen zu den Universitäten brachten einen alternativen Stadtentwicklungsplan hervor, der international prämiert und dennoch von der Stadtverwaltung ignoriert wurde.

Der Widerstand erinnert entfernt an das gallische Dorf, das gegen die übermächtigen Römer kämpft. Die Vila Autódromo liegt nicht nur auf attraktivem Gelände, was die zu erwartenden Grundstückspreise angeht. Sie entspricht in ihrer Erscheinungsform auch nicht dem, was die Stadtverwaltung ausländischen JournalistInnen präsentieren möchte. Mir fällt die Anfangsfrage wieder ein: »Was sehen wir von Rio de Janeiro und was wird unsichtbar gemacht?« Ich hoffe, dass die BewohnerInnen dieser Siedlung ihren Kampf gewinnen – und somit sichtbar bleiben und nicht wegretuschiert werden. Rio braucht keine Schönheitsoperationen, sondern einen Gesinnungswandel, was das Recht auf Stadt angeht.

Uta Grunert ist Koordinatorin in der Geschäftsstelle von KoBra e.V. 2015 war sie für den Runden Tisch Brasilien in Rio de Janeiro und im Amazonasgebiet.